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Kısmet

Ein bleibender Eindruck

Eine Oase des multikulturellen Wohlbefindens - das Wohnzimmer meiner Schwiegereltern. Aber halt! Bitte Schuhe ausziehen vor dem Betreten der Wohnung. Reinlichkeit muss sein. Warum ist das nicht eigentlich überall Sitte? Zurück zum Thema...

Von Florian Schrodt Mittwoch, 18.07.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 20.07.2012, 2:49 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Der erste Eindruck kann verdammt täuschend sein. Vor mir stand ein kleiner, alter, grimmig drein blickender Mann. Sein in die Jahre gekommener dunkler Anzug mit dicken Nadelstreifen, der strenge Oberlippenbart, die fast schlohweißen Haare und die von Krankheit gezeichnete Statur verstärkten mein Gefühl des Unbehagens. Während ich im Eingangsbereich vor der Haustür stand, war seine Frau, die mich an der Seite ihres Gatten im Flur empfing, um Freundlichkeit bemüht. Ich war mir ganz und gar nicht sicher, was die beiden von mir hielten. Es blieb nicht viel Zeit, Eindruck zu hinterlassen. Meine Freundin und ich waren auf dem Sprung. Ihre Eltern ebenso. Alles ganz spontan. Ein nicht ganz optimaler Zeitpunkt für ein erstes Kennenlernen mit den designierten Schwiegereltern.

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Fünf Jahre später nenne ich diese beiden Menschen, denen ich seinerzeit in ungewisser Erwartungshaltung erstmals begegnete, schon seit Langem liebevoll Anne und Baba. Er legt väterlich seine Hand auf meine Schulter, während er in Geschichten schwelgt und ich gespannt zuhöre. Sie nennt mich voller Mutterstolz ihren Sohn und verwöhnt mich mit Köstlichkeiten. Sie sind mir ans Herz gewachsen. Meine türkische Familie, meine Schwiegereltern.

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Und nein, wir sind nicht verheiratet. Es ist eigentlich immer die erste Frage von unbedarften Mitmenschen. Gefolgt von einem verwunderten „was sagen denn ihre Eltern dazu?“ Um die Antwort auf die sich meist anschließende Frage vorwegzunehmen. Ja, sie sind Muslime. Aber Religion wird hier eher kontrovers diskutiert (wie vieles andere auch) als praktiziert. Und dennoch erhalte ich Zugang zu ganz neuen Perspektiven meiner Weltanschauung.

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Zugegebenermaßen hatte ich vor dem ersten Treffen mit meiner Familie auch eher pauschale Wertungen im Kopf. Weil ich die Kultur nur vom Hörensagen kannte. Meine Berührungspunkte beschränkten sich auf Teamkollegen beim Fußball, die nicht gerade in positiver Erinnerung waren. Am liebsten würde ich die kulturmonofonen Skeptiker einfach umgehend mitnehmen in meine Oase des multikulturellen Wohlbefindens. Dem Wohnzimmer meiner Schwiegereltern. Aber halt! Bitte Schuhe ausziehen vor dem Betreten der Wohnung. Reinlichkeit muss sein. Warum ist das nicht eigentlich überall Sitte? Zurück zum Thema. Man sollte sich von ersten Eindrücken nicht täuschen lassen. Zurückblickend würde ich unsere erste Begegnung und unsere anschließende beiderseitige Zuneigung als Kısmet bezeichnen, Schicksal. Denn seither hat sich in meinem Leben viel verändert.

Angefangen bei meinen Essgewohnheiten. Ich fühle mich fast wie im Paradies. Liebe geht eben durch den Magen. Gäbe es das Sprichwort noch nicht, man hätte es erfinden müssen. Kulinarisch taten sich für mich vollkommen neue Welten auf. Während Döner hierzulande in aller Munde ist, werden die wahren Gaumenfreuden türkischer Küche kaum beachtet. In meiner näheren sozialen Umgebung sollte sich das im Laufe der Zeit gehörig ändern. Über Geschmack lässt sich streiten, bei der türkischen Küche gilt das nicht. Darin sind wir uns alle einig. Die Köstlichkeiten taugen mitunter als Brückenbauer zwischen den Kulturen – auch bei den besagten Skeptikern. In meinem Freundeskreis werden mittlerweile sogar Börek-Wettbewerbe ausgerufen, um festzustellen, ob meine Schwiegermama, meine Schwägerin oder meine Freundin die beste Variante zubereiten. Börek? Kannte von meinen Bekannten zuvor kaum jemand. Geschweige denn ganz andere Delikatessen. Bei Biber Dolması, lecker gefüllte Paprika, läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Einen ganz besonderen Stellenwert hat für mich indes die ausgiebige, fast schon rituelle Geselligkeit, mit der Mahlzeiten in der Familie eingenommen werden. Bei einem Çay und ausgedehnten Unterhaltungen. Beim Börek tendiere ich übrigens stark zur Variante meiner Schwägerin. Meine Freundin kocht zwar oft und vorzüglich, Blätterteig gehört allerdings nicht zu ihren Stärken. Meine Schwiegermutter hingegen versucht Fett und Öl zu vermeiden, aus Rücksicht auf die Gesundheit ihres Mannes.

Kein Wunder, dass er von Krankheit gezeichnet ist, er hat zeit seines Lebens nur geschuftet (das ist eine andere Geschichte). Seine Lunge, sein Herz und sein Rücken wurden arg in Mitleidenschaft gezogen. Nun sitzt er zumeist auf seinem Sessel und schaut Fernsehen. Der Konsum von Nachrichten, bevorzugt türkische, endet im Grunde stets in cholerischen Ausfällen. Er und die türkische Politikerzunft werden sicherlich keine Freunde mehr. Hat er sich darüber genug aufgeregt, beginnt dasselbe Spiel mit den deutschen Pendants. Stundenlang sieht er die Neuigkeiten aus den beiden Ländern, denen er sich verbunden fühlt, die wahrscheinlich aber längst nicht mehr sind, wie er sie einst lieben lernte. Istanbul verließ er als junger Mann vor 49 Jahren, als es gerade einmal rund zwei Millionen Einwohner hatte. Heute sind es wahrscheinlich eher 15 Millionen. Wegen seiner Krankheit war er seit Jahren nicht dort. Er bleibt also auf seinem angestammten Sessel in Deutschland, das von ihm stets bewunderte und geschätzte Land, das nach so langer Zeit für ihn längst Heimat geworden ist. Früher war er viel unterwegs und erkundete die Republik. Immer die Familie an Bord. Seine ganz besondere Vorliebe galt der deutschen Rheinkultur. Er hat ein Faible für die Flussromantik und die verkitschten deutschen Touristenhochburgen. Die sind wohl ein Sinnbild der alten Republik, die er ins Herz geschlossen hat. Ganz wie in den Unterhaltungsfilmen der 60er Jahre. Unzählige Mitbringsel schmücken Babas Wohnzimmerwand. Die prominenteste Stelle an Babas „Trophäenwand“ ist einer Ehrenurkunde zur Goldenen Hochzeit vorbehalten, handschriftlich unterzeichnet vom damaligen Ministerpräsidenten Hessens, Roland Koch. Seine Sympathien für diesen Mann werden wohl nicht allzu viele teilen. Abgesehen von seiner Frau. Meine Anne lässt nichts auf den Ministerpräsidenten a.D. kommen und las mit Freude seine Kolumne in einer deutsch-türkischen Zeitung. Die Urkunde wird von meinen Schwiegereltern gehütet wie ein Schatz. Vielleicht weil es auch das einzige vorzeigbare Ehrendokument ist, das ihnen in Deutschland je zu Teil wurde und ihre Lebensleistung würdigt. Nicht, dass sie große Dankesreden erwarten würden. Dafür sind sie viel zu bescheiden und zu genügsam. Diese würdevolle Zurückhaltung bewundere ich sehr. Deshalb könnte ich meinem Schwiegervater stundenlang lauschen, wenn er aus vergangenen Tagen erzählt. Mit viel Eifer, aber ohne Jovialität.

Viele Selbstverständlichkeiten, mit denen ich mein Leben bislang verbrachte – von der Ausbildung bis hin zu materiellen Forderungen – erscheinen mir nun äußerst unangebracht. Für meinen Baba gab es stets nur eine Selbstverständlichkeit: die Verantwortung für das Wohl seiner Familie. Und zwar ein Leben lang. Die Welt mag sich verändert haben und meine Schwiegereltern mögen mittlerweile darin etwas fremd wirken, weil sie ihre Tugenden und ihre Macken hartnäckig pflegen. Sie sind jedoch sich und auch ihrer neuen Heimat stets treu geblieben. Meine Schwiegermutter pflegt zu sagen, dass sie Deutschland auch mit der Waffe verteidigen würde. Das nenne ich Patriotismus. Ihre martialische Attitüde, die dann und wann zum Vorschein kommt, finde ich schon sehr süß. Zumeist richtet sich ihre rabiate Ader gegen ihren Mann, wenn er zu albern wird.

Für mich stellt sich dann die Frage, wer eigentlich der Chef im Haushalt ist. Dem Klischee entsprechend regiert bei türkischstämmigen Familien das Patriarchat. Die wenigen Haare auf dem Hinterkopf meines Schwiegervaters lassen eher auf die Hand meiner Schwiegermutter schließen, die ihren Einwänden mit einem Klaps sanft Nachdruck zu verleihen vermag. Wie ein altes Ehepaar, manchmal auch mehr wie sich neckende Kinder. Anne wird mir verzeihen, wenn ich trotzdem noch einen von Babas albernen Witzen zum Besten gebe, die sie in der Regel so auf die Palme bringen: „Nasrettin Hodscha sucht auf der Straße seinen Ring, den er verloren hat. Ein Mann bietet ihm an, zu helfen. Er fragt den Hodscha: Wo hast du denn den Ring verloren? Daraufhin er: im Keller. Der Mann ist erstaunt. Warum suchst du ihn dann hier draußen? Weil es hier heller ist als im Keller.“ Baba würde sich jetzt in seinem Sessel räkeln, schelmisch grinsen und kichern wie ein Lausbub. Wie gesagt: ganz anders als beim ersten Eindruck. Ganz und gar herzlich. Maşallah. Aktuell Meinung

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  1. Florian Schrodt sagt:

    Hallo vizz, vielen Dank für dein feedback. Ich werde sicherlich auch noch auf andere Thematiken eingehen (u.a. Sprache), das Migazin gibt mir ja netterweise die Gelegenheit, in einer Kolumne das Thema weiterführend ausführen zu können. Ich würde das aber gerne mit Blick auf die Spannung offen halten. ;-) Den Anfang habe ich bewusst den Schwiegereltern gewidmet, da sie das prägende und zugleich für mich überraschendste Element meiner Familie sind. Aus ihrer Vita habe ich viel Lernen können, was auch meine Beziehung sehr positiv beeinflusste. Ich gebe dir recht, dass eine binationale Beziehung das Verstanden fühlen manchmal nicht leicht macht. Das erfordert Kompromisse und manchmal auch Zurückhaltung. Das ist jedoch in jeder Beziehung so. Hier sehe ich schon die bereits von anderen Kommentatoren angebrachten Argumente als sehr schlüssig an. Es ist eine Sache des gegenseitigen Respekts und der Wertschätzung und der Empathie. Ich würde sagen, dass ich nicht unbedingt türkisch fühle, aber wenn man sich mit den Menschen beschäftigt, zu denen man eine innige Beziehung aufgebaut hat, kann man die Gefühle nachvollziehen und ist sich darüber bewusst, dass man aufgrund der anders geprägten Gefühlslage nicht alles gleichermassen empfinden kann. (ist bei binationalen Beziehungen ausgeprägter aber mE immer so). Wobei ich versuche, diese differenzierte Gefühlslage stetig zu verkleinern, in dem ich mich mit den Menschen und der Kultur meiner Familie auseinandersetze. 
    Danke auch für deinen Hinweis mit Nasrettin Hodscha (habe ich den Namen mit dieser Schreibweise eingedeutscht?). Ich habe das bewusst als albern bezeichnet, obwohl ich mir darüber im klaren bin, dass es eine tiefere Bedeutung gibt. Aber man will ja die Leser auch selbst hinterfragen lassen :-) Wir diskutieren die Pointen übrigens auch in der Familie. Bei einem anderen Witz, den ich demnächst vielleicht mal erzähle, wird die Tiefgründigkeit jedoch deutlicher. Aber zugegeben: die von Ihnen geschilderten Facetten des Witzes hatte ich so noch nicht unbedingt gesehen. Vielen Dank dafür.
    Viele Grüße
    Florian    

  2. Florian Schrodt sagt:

    @Conring bitte entschudligen Sie die falsche Ansprache mit „Corinna“. Da hat sich die Autokorrektur verselbstständigt, ohne dass ich es bemerkt habe.
    Viele Grüße
    Florian

  3. Songül sagt:

    Hallo Florian,

    passt Integration tatsächlich besser? Sprechen wir immer noch über Ihre Schwiegereltern, dann ja. Sprechen wir aber von der zweiten und dritten Generation, dann wohl eher nicht. Hier geboren und aufgewachsen werden wir uns genausowenig wie Sie integrieren müssen. Wir sind bereits Bestandteil der Gesellschaft. Der Begriff der Partizipation (bzw. Inklusion) passt dann eher.
    Mehr dazu unter: http://www.migazin.de/2011/12/22/cem-oezdemir-von-integration-zur-inklusion/

    Für mich sind Weihnachten sowie Bayram in erster Linie religiöse Feiertage. Dass Religion immer öfter mit Traditionen verwechselt wird, ist wieder ein anderes Thema. Mal angenommen, die Existenz des Begriffs „multikulturelle Identität“ beweist die Existenz dieser. Aber haben Sie schon mal von „multikonfessioninaler identität“ gehört? Wohl eher nicht. Entweder ist man Christ oder Muslim. Beides geht nicht. Ich bevorzuge es, authentisch zu bleiben, wenngleich man damit nicht immer punktet.

    Ja, mich interessieren Hintergründe. Was bleibt einem auch anderes übrig, wenn man bewusst und überzeugt handeln / leben und die Kinder zu selbstbewussten, aufgeklärten und emanzipierten Menschen heranziehen möchte. Deshalb würde ich auch nie Bräuche adaptieren, zu denen ich keinen Bezug habe. Traditionen niemals pflegen, ohne dass sich mir deren Sinn erschließt.

    Bezüglich des Traditionsaustausches muss ich Ihnen leider mitteilen, dass Sie es deutlich schwieriger haben. Ohne mein Dazutun werde ich jährlich mit Weihanchten konfrontiert und muss mich damit auseinandersetzen. Es bedarf nicht einmal der Einladung, um ein gewisses Verständnis aufzubringen.
    Sie hingegen werden viele Jahre nicht mal bemerkt haben, als die Minderheit der Muslime in Deutschland gefastet hat. Sie müssen tatsächlich Augen und Ohren offenhalten und ein gewisses Interesse an denTag legen, um ein Verständnis hiervon zu erlangen.

  4. conring sagt:

    @ Florian Schrodt
    aus meinen „Andeutungen“ ziehe ich ganz einfach den Schluss, dass man die Menschen hierzulande ihre Traditionen pflegen lassen soll, ohne darüber zu richten oder moralische Fleisskärtchen zu verteilen.
    Die Muslime hierzulande haben ihren Ramadan und das Zuckerfest. Die anderen Feiern halt Weihnachten. Kann man christlich oder auch als säkulares Familienfest auffassen.
    Müssig finde ich Diskussionen darüber was jetzt besser oder gar authentischer ist. Und ob man jetzt Ramadan eine quasi antikapitalistische Kundgebung ist (http://www.migazin.de/2012/07/23/zur-ethischen-dimension-des-fastenmonats/) oder Weihnachten total kommerztialisert ist doch immer Ansichtssache.