Urteil zum AsylbLG
Eine seit 20 Jahren andauernde Verfassungswidrigkeit übelster Sorte
Auch Ausländer haben Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Diese Selbstverständlichkeit musste das Bundesverfassungsgericht gestern feststellen, um eine seit 20 Jahren andauernde Verfassungswidrigkeit übelster Sorte zu beenden.
Von Ekrem Şenol Donnerstag, 19.07.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 25.07.2012, 6:50 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Seit 1993 müssen Asylbewerber mit 224 Euro pro Monat auskommen. Diese Geldleistung ist laut Bundesverfassungsgericht „evident unzureichend“, verfassungswidrig. Begründung: „Art. 1 Abs. 1 GG begründet den Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht.“
Hört sich wie eine verfassungsrechtliche Floskel an, die wir ja aus dem Effeff beherrschen. Schließlich sind wir Deutschland, die Wiege der Zivilisation, des Fortschritts, eine Nation, die die Fahne der Menschenrechte und -würde sowieso und schon seit jeher so hoch hält, als dass irgendwer auch nur am Zipfel zupfen könnte.
Evident verfassungswidrig
Die Wahrheit ist aber eine andere. Diese Floskel besagt, dass unsere Demokratie, unser Sozialstaat, unsere Regierungen schutzsuchenden Menschen ihre Würde, ihr Recht auf Existenz und Menschsein vorenthalten haben. Unsere Regierungen, unsere Gesetzgeber, haben sich „evident“ verfassungswidrig verhalten. Dieselben Regierungen, die von ihren Neubürgern ein Eid auf eben jene Verfassung verlangen, dessen Artikel eins sie selbst seit 20 Jahren mindestens grob fahrlässig missachtet haben.
Dieselben Regierungen, die von ihren Neuzuwanderern Integration verlangen, aber schutzsuchenden Menschen die „Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ verfassungswidrig vorenthalten haben.
Menschenwürde für alle
Dabei greift das bisher von Politikern gern benutzte Argument der „gruppenbezogenen Differenzierung“ nicht. Die Richter: „Dieses Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.“ Punkt.
Und weiter: „Auch migrationspolitische Erwägungen [Argument der Bundesregierung!], die Leistungen […] niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen […] zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards […] rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“ Auf Deutsch: Der Staat darf nicht darauf setzen, dass Flüchtlinge weiterziehen, wenn man sie ein wenig hungern lässt. So jedenfalls die überraschend klare Bemerkung eines Richters während der mündlichen Verhandlung.
Überraschende Lobeshymnen
Nicht weniger überraschend sind die aus allen Seiten zu vernehmenden Lobeshymnen nach dem Urteilsspruch. Dass Caritas und Pro Asyl sich freuen, ist klar. Dass aber auch Mitglieder ehemaliger und amtierender Regierungsfraktionen das Urteil begrüßen, verwirkt angesichts der fast 20-jährigen Nahezu-Untätigkeit inmitten übelster Verfassungswidrigkeit sogar das Existenzrecht schlechter Scherze.
Diese Geschichte hat keine Moral. Hätte das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen dem Bundesverfassungsgericht den Sachverhalt eines Erwachsenen und eines Kindes nicht vorgelegt und dieses Urteil herbeigepeitscht, gäbe es wohl kaum einen ehemaligen, amtierenden oder künftigen Regierungspolitiker, der irgendetwas Begrüßenswertes vermisst hätte – nicht in 20 Jahren.
Geld aus dem Fenster
Aber wir haben doch selbst kein Geld, könnten jetzt einige Realopolitiker den sogenannten Gutmenschen entgegenhalten. Könnten, wenn wir aufgrund unseres Reichtums, Geld nicht aus dem Fenster schmeißen würden. Die bayerische Landesregierung beispielsweise gibt Asylbewerbern statt Geld lieber Sachleistungen, um sie zur Rückkehr zu bewegen, obwohl diese mehr kosten. Wieso die bayerische CSU-Regierung trotz massiver Proteste an dieser Praxis festhält? Aus „migrationspolitischen Erwägungen“. Siehe oben! Leitartikel Meinung
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