Türkei
Abschied vom Laizismus?
Lockerung des Kopftuchverbots, Alkoholverbot an öffentlichen Plätzen, Übermacht der Anhänger der Gülen-Bewegung in der Justiz und der Polizei. Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei werfen eine Frage auf, die uns beschäftigen wird: Verabschiedet sich die Türkei vom Laizismus?
Von Dr. Yaşar Aydın Donnerstag, 09.08.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 14.08.2012, 2:45 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Dass die AKP-Regierung unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan sich vom Laizismus verabschiedet, die Türkei von einer schleichenden Islamisierung überrollt wird und die Gülen Bewegung ein „Staat im Staate“ ist, gilt an vielen türkischen Stammtischen als gesicherte Erkenntnis.
Die Schlagworte sind schnell aufgezählt: Lockerung des Kopftuchverbots, Alkoholverbot an öffentlichen Plätzen, Übermacht der Anhänger der Gülen-Bewegung in der Justiz und der Polizei, der Wunsch Erdoğans, eine religiöse Jugend zu züchten und sein jüngster Vorstoß gegen Abtreibung und Geburtenkontrolle – die Liste ließe sich weiter führen. Erleben wir gerade den Zerfall der laizistischen Republik? Neigt sich die 200-jährige Dominanz der an den Westen orientierten Modernisierung dem Ende zu?
Trennung von Religion und Staat
Zentral für den Laizismus ist die Trennung von Religion und Staat, die in der Geschichte mal besser, mal schlechter funktioniert hat. Dabei wird angenommen, dass ein säkularer Staat eher imstande ist, die Gewissensfreiheit sowie die freie Religionsausübung zu garantieren. Hiervon unterscheidet sich der historische Prozess der Säkularisierung, der in Europa bis in das 17. Jahrhundert zurückdatieren lässt. Im Zuge der europäischen Säkularisierung kam es zunehmend zu einer Verselbständigung der Individuen, des Staates und weiterer gesellschaftlicher Bereiche gegenüber der Religion sowie einer Loslösung gesellschaftlicher Werte und Normen von religiösen Glaubensinhalten.
In der Türkei geht die Säkularisierung auf das 19. Jahrhundert zurück. Im Gegensatz zum französischen Laizismus, der Ergebnis verschiedener religiöser Konflikte ist, hat die türkische Säkularisierung ihren Ausgangspunkt in der Europäisierung des Rechtssystems. Die Übernahme europäischer Gesetze erzeugte im Osmanischen Reich zunächst ein duales Rechtssystem (säkulares Recht vs. Scharia-Recht), dem 1924 ein Ende gesetzt wurde. Nach der Gründung der Republik wurde der Prozess der Säkularisierung durch eine Reihe von radikalen Reformen und Maßnahmen weiter vorangetrieben bis dieser 1937 seinen Höhepunkt erreichte: Der Laizismus wurde als zentraler Grundsatz der Türkischen Republik in der Verfassung verankert. Anzumerken ist, dass Mustafa Kemal, der die Säkularisierung und die Reformen vorantrieb, sich an den französischen Säkularismus der Dritten Republik orientierte. Ziel der radikalen top-down Säkularisierung unter der Führung Mustafa Kemals war es, die Religion zu kontrollieren und ihren Einfluss auf das Private zu beschränken.
AKP verabschiedet sich vom Laizismus-Prinzip
Die AKP-Regierung unter der Führung von Recep Tayyip Erdoğan hat sich nicht vom Laizismus-Prinzip verabschiedet. Schließlich hat der Ministerpräsident in seiner Rede im ägyptischen Parlament für den Laizismus plädiert und betont, dass Laizismus und Religion sich nicht gegenseitig ausschließen. Auch Gesetzesänderungen der letzten Jahre deuten keinesfalls darauf hin, dass das säkularisierte Rechtssystem sich an religiösen Glaubensinhalten orientiert. Aktuelle Auseinandersetzungen und politische Maßnahmen zeigen, dass von der militanten top-down Säkularisierung endgültig verabschiedet wurde. Diese zielte darauf ab, Religion unter Kontrolle zu halten und religiöse Symbole von der Öffentlichkeit fern zu halten.
Kritik am offiziellen Laizismus begann bereits in den 1950ern. Intellektuelle wie Ali Fuat Başgil oder Osman Turan kritisierten an dem offiziellen Laizismus, dass dieser die nationale Identität und die Moralvorstellungen der Massen schwächen würde. Im Zuge der Auseinandersetzungen mit dem offiziellen Laizismus zeichnete sich ein konservatives Laizismus-Verständnis ab. Darin wurden staatliche Eingriffe gegenüber der Religion kritisiert, für Religionsfreiheit plädiert und die Religion als konstitutiver Bestandteil der nationalen Identität aufgewertet. Drei Ziele waren damit verbunden: Erstens die Achtung des allgemeinen Willens des Volkes; zweitens die Versöhnung des Staates mit der Gesellschaft und drittens schließlich mit der Geschichte und dem Islam. Diskurs und Praxis deuten darauf hin, dass die AKP-Regierung sich an diesem „nationalen Säkularismus“ (Hocaoğlu) orientiert.
Gleichwohl gibt es wenig Grund zu einer Entwarnung. Es darf nicht aus dem Blick geraten, dass seit einigen Jahren eine Entsäkularisierung stattfindet. Religion gewinnt in der Politik, der Öffentlichkeit und im Privaten an Bedeutung. Genannt seien die Einführung des Koranunterrichts in den Schulen, das neue dreistufige Schulsystem, Erdoğans Ankündigung, eine religiöse Jugend heranziehen zu wollen sowie restriktiver Umgang mit Alkoholverkauf in der Öffentlichkeit. Gesellschaftliche Werte und Normen, die sich von religiösen Glaubensinhalten losgelöst hatten, werden erneut religiös begründet. Zahlreiche Studien belegen, dass diese Entsäkularisierung den gesellschaftlichen Konformitätsdruck erhöht und die Freiheit nichtreligiöser, säkular orientierter Individuen und Mitglieder religiöser Minderheiten einschränkt und ihre Partizipation am gesellschaftlichen Leben erschwert.
Laizismus überdenken
Gleichwohl lässt sich die aktuelle Situation, auch wenn es paradox klingt, auch als Chance begreifen. Die sozialen und politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben das „Republikanische Modell“ des Laizismus de-legitimiert. Dies eröffnet die Möglichkeit, den Laizismus zu überdenken und ihn zu erweitern. Kritikwürdig an dem republikanischen Modell des Laizismus ist, dass dieser bestimmte Lebensauffassungen gegenüber anderen privilegiert, zum Teil eine Zivilreligion aufnötigt und die Säkularisierung zur Förderung einer gemeinsamen staatsbürgerlichen Identität instrumentalisiert. Dem soll hier nicht jegliche Fortschrittlichkeit abgesprochen werden. Gleichwohl kann sie heute den Anforderungen nicht gerecht werden. Erforderlich ist ein liberal pluralistischer Laizismus, der die moralische Gleichheit aller Bürger und die Gewissensfreiheit achtet.
Dabei ist an dem normativen Kern des Laizismus – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – festzuhalten und ihn um ein weiteres Ziel zu ergänzen: Bemühen um möglichst harmonische und einvernehmliche Beziehungen zwischen Anhängern von verschiedenen Religionen, Konfessionen und Weltanschauungen. Laizismus ist unentbehrlicher Bestandteil einer jeden Demokratie und kann in der Türkei gegen fundamentalistische und nationalistisch-konservative Feinde der Demokratie nur bestehen, wenn dieser nicht länger als Bollwerk gegen die Religion verstanden wird. Den Säkularismus im Sinne seines normativen Kerns weiterzuentwickeln, bleibt die Aufgabe progressiver Kräfte in der Türkei. Aktuell Meinung
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Je weniger Einfluss Ideologie bzw. Religion in einer Gesellschaft haben, um so mehr kann sich diese Gesellschaft auf ihre Menschlichkeit besinnen. Religion war und ist ein Instrument der Herrschaft, sie stellt den Glaube höher als die Lust an der Suche nach Erkenntnis, nach freiem Diskurs und dem Drang nach Wissen. Erst eine Welt ohne den wesentlichen Einfluss von Religionen oder sonstigen bornierten Ideologien hat überhaupt die Möglichkeit, eine friedliche Welt zu werden. Die Türkei hat in den letzten Jahrzehnten sicherlich nicht alles richtig gemacht. Doch der grundsätzliche Konsens, dass die Säkularisierung als ein wichtiger Schritt hin zu einer menschenwürdigen und friedlichen Zukunft zu betrachten ist, war im islamischen Einflussbereich einmalig und erfolgreich. Man ziehe nur den Zustand der gottesfürchtigen Nachbarregionen der Türkei als Vergleich heran. Die AKP erweist ihrem Land mit ihrer schleichenden re-Islamisierung einen Bärendienst. Ich hoffe, die gebildeten Menschen in der Türkei und die türkischstämmigen Migranten in der Welt können dies dereinst erkennen und diese fatale Rückentwicklung aufhalten.