Kısmet
Liebe auf den ersten Blick
Das Telefon klingelt. Wir wachen irritiert auf. Am anderen Ende der Leitung ist die Mutter meiner Freundin. Sie ist aufgeregt, ihre Stimme überschlägt sich. Es ist sonntags um 9 Uhr morgens. Wir springen panisch in unsere Kleidung und eilen ins Krankenhaus.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 29.08.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 11.09.2012, 17:42 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Im sterilen Licht der Notaufnahme sitzt Anne abseits der anderen Wartenden ganz verloren und starrt in die Leere. Sie ist noch sichtlich aufgewühlt. Wir nehmen Platz, nehmen sie in den Arm und lassen uns schildern, was passiert ist. Ihre Stimme ist gezeichnet vom Schock, der ihr 30 Minuten zuvor wiederfahren ist. Baba hatte sich unwohl gefühlt, Gleichgewichtsstörungen und aufkommende Atemnot ließen bei seiner Frau die Alarmglocken schrillen, so dass sie den Notarzt verständigte.
Sie ist von Sorge gezeichnet. Als meine Freundin in das Krankenzimmer geht, um nach ihrem Vater zu schauen, bleibe ich allein mit ihr. Stille. Zumindest zwischen uns. Wir schweigen, weil ich nicht weiß, was ich in dieser Situation sagen soll. In der Kinderecke, die sich direkt hinter uns befindet, spielt ein kleiner Junge seiner erlittenen Platzwunde zum Trotz mit Bausteinen. Anne schaut ihm bedächtig zu, ihre Gedanken arbeiten sichtlich. Irgendwann fängt sie einfach an zu erzählen. Sie spricht von ihrer Kindheit. Die Erinnerungen sprudeln aus ihr heraus. Ihre Familie war gut situiert gewesen, ihr Vater und ihr Onkel begleiteten öffentliche Ämter in Istanbul. Obwohl ihr Vater dem Alkohol nicht abgeneigt war und von seiner Frau in Scheidung lebte, hatte er stets ein Ohr für sie. Man hört heraus, dass sie gerne an ihre Kinderzeit zurückdenkt. Auch ihren Französisch Unterricht, der damals üblich war, hat sie in guter Erinnerung behalten. Meine Anne ist eine sehr stolze Frau mit Prinzipien, auch wenn sie des Öfteren einen unsicheren Eindruck macht. Sie schaut hoch zu mir mit zusammengekniffenen Augen, damit sie mich fixieren kann, ihre Brille will sie in der Öffentlichkeit nicht tragen, und entschuldigt sich für ihr „Dialekt-Deutsch“, wie sie es nennt. Sie hätte so gerne besser die Sprache ihrer neuen Heimat gelernt, aber dafür sei eben nie Zeit gewesen. Als sie in den 60er Jahren nach Deutschland kam, hatte sie für kurze Zeit einen Deutschlehrer. Dafür blieb jedoch bald keine Zeit mehr. Die Kinder mussten versorgt werden und obendrein musste mehr Geld ins Haus. Sie hatte über die Jahre einige Anstellungen, vom Putzen bis hin zur Arbeit am Band war sie sich nie für etwas zu schade, wenn es dem Wohl der Familie diente. So wurde die Integration vom Alltag überholt. Das heißt nicht, dass meine Schwiegereltern keine gesellschaftlichen Anlässe wahrgenommen hätten. Der ein oder andere Tanzabend war auch dabei. Sie lacht kurz auf, ihre Augen leuchten, während sie die Melodie von „Ciao, ciao Bambina“ summt. Man traf sich mit (auch einigen italienischen) Freunden und genoss das Leben und vergaß die tagtäglichen Sorgen. Die Vorzeichen waren nur andere als seinerzeit in Istanbul. Sie war die stolze Frau eines Firmenbesitzers, trug schicke Kleider und wundervollen Schmuck (auch wenn das Leben immer wieder von Sorgen gezeichnet war).Sie war eine wundervolle und würdevolle junge Frau. Dort waren sie Teil des gesellschaftlichen Lebens, hier versuchten sie sich stets als Teil der Gesellschaft zu etablieren. Mal mehr, mal weniger von Erfolg gekrönt. Sie war zwar immer noch eine adrette Dame, aber mit einer gewissen Verunsicherung. Ihre mitunter kindliche Gutgläubigkeit und ihre Ausstrahlung kollidierten immer wieder mit Ansichten von Menschen, die türkische Frauen anderen Klischees zuordneten und sie der Einfachheit halber auf ihren Dialekt reduzierten.
Wir werden von der Gegenwart eingeholt. Der Arzt kommt, sie kann seinen hektischen Ausführungen kaum folgen und lässt sich das eben Gehörte von mir auf dem Weg zum Zimmer noch einmal genau erklären, obwohl auch ich das Fachchinesisch kaum verstanden habe. Zwei Stunden später verlassen wir das Krankenhaus. Fast wie ein Familienausflug, nach und nach waren alle anderen Angehörigen herbeigeeilt. Abgesehen von meiner Schwägerin. Sie lag ohnehin schon im Krankenhaus, nun zwei Zimmer von ihrem Vater entfernt. Wie üblich wird beratschlagt, was nun zu tun sei, oftmals eine anstrengende Diskussion. Aber der familiäre Zusammenhalt ist geprägt von viel Liebe und eben auch Leidenschaft. Wir wollen Anne dazu bewegen, dass sie bei uns übernachtet, weil Baba zur Beobachtung noch zwei Tage bleiben soll. Sie will nicht, wahrscheinlich braucht sie einfach ihre Routine.
Als er nach Hause kommt, ist er zwar noch etwas blass, aber alles ist soweit gut. Genau wie der Zustand meiner Schwiegermutter. Um ihre Blässe zu vertreiben, können wir uns einen Scherz mit ihr nicht verkneifen, als wir die beiden besuchen wollen. Wir klingeln. Auf das „Hallo?“ in der Gegensprechanlage antworten wir mit einem „Guten Tag, wir sind von der GEZ.“ Ein Türspalt öffnet sich zaghaft, ein verdutztes Augenpaar, das durch die Brillengläser ulkig groß wirkt, lugt heraus. Schallendes Gelächter. Anne reißt die Tür auf und stürzt sich mit weit aufgerissenen Armen auf uns. Sie ist ganz rot angelaufen, weil sie peinlich berührt ist, dass sie wieder einmal auf uns herein gefallen ist. Wir treiben gerne mal Späße mit ihr, da ihre Reaktionen einfach drollig sind. Die Freude über die wiedergewonnene Normalität ist ihr anzusehen, sie wirkt erleichtert. Als wir zusammen auf der Couch sitzen, muss ich an unser Gespräch aus dem Krankenhaus denken. Meine Blicke wandern über die Bilder in der Wohnung, die sie in jungen Jahren zeigen und ich muss gestehen, dass sie auch heute noch mit 70 Jahren eine ansehnliche Frau ist. Ab und an setzt sich zwar der Pragmatismus bei ihr durch, sie bevorzugt mittlerweile bequeme Hosen statt schicken Kleidern – es sei denn es stehen Veranstaltungen an, dann versteht sie sich nach wie vor herauszuputzen – wer will es ihr aber verübeln, nachdem sie vier Kinder großgezogen und nebenbei noch über 20 Jahre gearbeitet hat. Heute versorgt sie zudem noch Baba, der Alltag hat sie fest im Griff. Wenn ihr das „Paschatum“ ihres Mannes einmal zu viel wird, vergisst sie auch gerne mal ihre gute Stube und legt jegliche Zurückhaltung ab. Auf ein stichelndes „Cay yap“ ihres Mannes folgen dann nicht zitierbare Antworten. Was sich neckt, das liebt sich. Wenn dieses Sprichwort einen wahren Kern hat, dann ist die Liebe meiner Schwiegereltern grenzenlos. Ich habe den Eindruck, dass ihre gegenseitigen Streiche und Neckereien eine Art Präventivmaßnahme vor einem aufkommenden Lagerkoller sind. Die meiste Zeit des Tages sind sie für sich, ein Gang vor die Haustür ist immer mit der Ungewissheit verbunden, was der Gesundheitszustand meines Schwiegervaters zulässt. In letzter Zeit habe ich das Gefühl, dass er es selbst nicht so recht einschätzen kann und ihm das etwas Sorge bereitet. Zu Hause hingegen ist er gut umsorgt. Das erledigt Anne.
Bei aller Forschheit: der tägliche Haushalt und die Sorge für ihre Familie ist Annes Lebenselixier. Ein Leben ohne ihren Mann hat sie nie kennengelernt. Abgesehen von ihrer Kindheit. Als meine Freundin gerade meinen Vater versucht zu erklären, was er für seine Gesundheit tun müsse, greift Anne mir gegenüber das Gespräch von neulich wieder auf. Sie erzählt mir, wie sie und ihr Mann sich kennengelernt haben. Er war der Chef ihres Cousins, der gerne mal die Arbeit sausen ließ, so dass er eines Abends zu Besuch kam, um diesen Umstand zu klären. In familiärer Runde saßen sie beisammen und es lag ein Knistern in der Luft, weil Baba der jungen Frau immer wieder Blicke zuwarf. Liebe auf den ersten Blick sozusagen. Wenig später hielt er um die Hand der 15jährigen an und fand eine Frau fürs Leben. Sie muss bei der Erinnerung daran verschmitzt lächeln, wie ein junges Mädchen. Plötzlich beugt sich Baba hinüber und macht einen Knutschmund. Er wirft ein, dass sie diese Andeutung damals auch gemacht hätte. Das bringt Anne wiederum auf die Palme. Denn das ist gegen ihre gute Stube. Grundsätzlich wird vor Eltern oder anderen Verwandten nicht geknutscht. Daran halten auch meine Freundin und ich uns. Während sie also wieder kabbeln, denke ich daran, dass die beiden eine symbiotische Beziehung haben. Der eine kann ohne den anderen gar nicht. Anne dreht sich verschämt um, weil sie merkt, dass wir uns amüsieren. Sie verhaspelt sich vor Aufregung: „Wie Kopf und Deckel“. Bevor sie ihren Fauxpas korrigieren kann, springt Baba korrigierend ein und schon beginnt wieder ein kleiner Zank. Sie halten inne und lachen mit uns. So ist es gut, Lachen hält gesund. So soll es bleiben. Inşallah! Aktuell Meinung
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schöne Geschichte! Hat mir gefallen!
Vielen Dank! Das freut mich.
Viele Grüße
Florian