Buchtipp zum Wochenende
Wir neuen Deutschen: Wer wir sind, was wir wollen
Wir finden, dass es sich verdammt gut lebt in diesem Land, von dem wir nicht wissen, wie wir es nennen sollen: Heimat? Zuhause? Fremde? Unser Deutschland – oder doch: euer Deutschland? - Das erste Kapitel aus dem Buch:
Freitag, 07.09.2012, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 13.09.2012, 8:22 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Unsere Biographien sind sperrige Hybride, die für Eindeutigkeiten nicht taugen. Khuê Pham mag ein vietnamesischer Name sein und Özlem Topçu ein türkischer, aber weder ist die eine Vietnamesin noch die andere Türkin. Beide wurden in Deutschland geboren; die eine wuchs hier auf, die andere lebte lediglich als Kind für drei Jahre in der Türkei. Der Name Alice Bota klingt deutsch, aber er hat diesen Klang erst angenommen, als aus einer Alicja eine Alice gemacht wurde. Sie kam als Achtjährige nach Deutschland, als Einzige von uns dreien besitzt sie zwei Pässe. Khuê Pham stammt aus einer aufgestiegenen Bildungsbürgerfamilie, Özlem Topçu ist ein Arbeiterkind und hat als Erste in der Familie studiert; Alice Bota hat erlebt, wie ihre Akademikereltern in Deutschland wieder von vorn anfangen mussten. Unsere größte festzustellende Gemeinsamkeit: Wir haben einen Migrationshintergrund.
Es ist ein merkwürdiges Wortungetüm. Die deutsche Verwaltung hat es vor einigen Jahren eingeführt, um Ordnung zu schaffen, weil die Dinge unübersichtlich geworden sind. Weil in Deutschland Eingebürgerte leben, die bleiben möchten; Ausländer, die womöglich wieder gehen wollen; weil sie Kinder haben, von denen einige einen bundesrepublikanischen Pass haben und andere nicht. Das Wort verrät sich selbst: Es versucht eine Definition, die offenbart, wie vage das Konzept von Deutsch-Sein und Nicht-deutsch-Sein ist.
Auch wir wissen nicht, wie die richtige Bezeichnung lauten könnte: Ein-bisschen-Deutsche? Deutsche mit Verwandten und einem zweiten Leben im Ausland? Wir sind uns nicht einmal einig darüber, ob es überhaupt eine solche Definition braucht. Doch wir wissen, dass ein statistisches Merkmal wie «Migrationshintergrund» nicht viel über einen Menschen verrät. Wir sind Musliminnen, Katholikinnen, Atheistinnen; wir sind Schwestern, Töchter, Ehefrauen, wir kommen aus unterschiedlichen Städten, wir haben unterschiedliche Interessen, und für die Zukunft stellt sich jede von uns etwas anderes vor. Nur eines kommt uns nicht in den Sinn: zurückzukehren in ein ominöses Heimatland. Denn das haben wir nicht. Wir sind hier daheim.
Wer bestimmt, wer zu dieser Gesellschaft gehört, wer definiert, was deutsch ist? Es sind von jeher jene, die in den Institutionen, den Redaktionen, den Vorständen oder der Regierung sitzen. Männer wie der frühere Bundesinnenminister Otto Schily, der vor zehn Jahren sagte, die beste Integration sei Assimilation, und dafür eine Menge Beifall bekam. Doch jetzt wollen wir, die mit dieser Aussage gemeint sind, selbst benennen, wer wir sind. Und was deutsch ist. Wir, Kinder von Ausländern, groß geworden in einem bundesrepublikanischen Leben, herumgekommen in einem geeinten Europa nach 1989, suchen Worte für ein Selbstverständnis, das nicht ganz einfach zu finden ist.
„Uns fällt die Bezeichnung «neue Deutsche» ein. Es ist kein Pass, der jemanden zum neuen Deutschen macht, es ist nicht sein Erfolg oder das Ergebnis eines Einbürgerungstests – es ist ein Selbstbewusstsein, das wir genährt haben aus Wut und Stolz.“
Uns fällt die Bezeichnung «neue Deutsche» ein. Es ist kein Pass, der jemanden zum neuen Deutschen macht, es ist nicht sein Erfolg oder das Ergebnis eines Einbürgerungstests – es ist ein Selbstbewusstsein, das wir genährt haben aus Wut und Stolz. Wut, weil wir das Gefühl haben, außen vor zu bleiben; weil es ein deutsches Wir gibt, das uns ausgrenzt. Und Stolz, weil wir irgendwann beschlossen haben, unsere eigene Identität zu betonen. Sie einzubringen. Ohne danach zu suchen, haben wir dieses Gefühl, diesen Begriff bei anderen gefunden, denen wir begegnet sind. Harris, Sohn einer deutschen Mutter und eines schwarzen Amerikaners, Rapper, hat sich selbst zum neuen deutschen Patrioten erklärt. Naika Foroutan, Soziologin, deutsche Mutter, iranischer Vater, benutzt den Begriff, um in ihrer Forschung die neuen Deutschen von den alteingesessenen zu unterscheiden. Es gibt viele andere, die sich intuitiv so nennen. Unsere Gleichung ist einfach: Wir sind Teil dieser Gesellschaft. Wir sind anders. Also gehört die Andersartigkeit zu dieser deutschen Gesellschaft.
Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Wir neuen Deutschen. Wer wir sind, was wir wollen“ von Alice Bota, Özlem Topçu und Khuê Pham. Es erscheint am 7. September 2012. Auf ihrer Facebook-Seite beantworten die Autorinnen unter anderem Fragen zum Buch. Feuilleton Leitartikel
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Deutsche mit Migrationskompetenz.?!
Es wäre besser, wenn die deutschen Bildungsinstitutionen Journalismus-Studiengänge an us-amerikanischen Vorbild ausrichten würden – d.h. Enterpreneurship und Journalismus zusammenzu lehren.
Die Zuwanderer brauchen den Anschluss an die internationalen Debatten zur Governance der Migration.
Sie müssen erfahren von der modernen transnational orientierten US Anthropologie in der Migrationsforschung.
Die Zuwanderer haben ein Bildungsrecht etwas über ihre ökonomische Rolle in der Weltwirtschaft zu erfahren.
Bücher sind geschrieben von Leuten, die den Deutschen den Zuwanderer näher bringen wollen haben ihre Berechtigung.
Wir brauchen aber Journalisten, die uns den Zuwanderern ihre Rolle im globalen Kapitalismus näher bringen, und ökonomische und politische Optionen ausleuchten können.
@Brandt. Woher ist denn dieser Jargon???
Solange ihr euch als „anders“ wahrnimmt und bezeichnet, werden die andere es auch tun.
die neuen Deutschen sind mehr deutsch als türkisch, ihre Türkeikenntnisse und ihr Türkeibild ist der klägliche Rest aus der eigenen Familie. Nein Kulturkompetenz besitzen diese neuen Deutschen nicht, aber Deutsche sind sie auch nicht.
Genau, Gast. Die neuen Deutschen sind genau so kulturinkompetent wie die „alten“ Deutschen.-
@AI
Die Weltbank und die UNO sind politische Regulationsinstanzen im globalen Kapitalismus. Seit Jahren wird dort über Codevelopment debatiert. Codevelopment bezeichnet seit den 1970er Strategien mit Migration Entwicklungsarbeit und Wachstumsstrategien zu machen.
Die US Anthropologie ist führend in der Migrationsforschung, weil sie mit ihrer Feldforschung die Auswirkung von Migration in der Ein- und Auswanderungsregion beleuchtet.
Die meisten Ressourcenströme zwischen der Ein- und Auswanderungsregion stammen von Migranten der ersten Generation. Diese Tatsache kann man eindrucksvoll an den GDP Zeitreihen der Weltbank beobachten. Das wirft ein anderes Licht auf die Leistungen der Migranten der ersten Generation. Das Gros der 400 Mrd. USD Rücküberweisungen von 200 Mio. internationalen Migranten stammt aus dieser Generation.
Die Potentierung der Effekte von Migranten der zweiten und dritten Generation für das Codevelopment erfordert von der Ein- und Auswanderungsregion mehr Investitionen. Das Parade-Beispiel ist das Silicon Valley. Taiwanesische und indische Migranten der zweiten Generation gründen im Silicon Valley Technologie-Firmen in den USA und in Taiwan und Indien.
Das Ausmaß dieser transnationalen Wachstumseffekte der Migration kann man nur mit Feldforschung nach US Vorbild für alle Auswanderungsregionen feststellen. Die deutsche Migrationsforschung ist hoffnungslos abgeschlagen, und macht ständig Politikvorschläge, wo man sich am Kopf kratzt.
Die Ursache für die Rückständigkeit der deutschen Migrationsforschung ist die Tatsache, dass an den Universitäten die Studierendenschaft der Ethnologie, Anthropologie, Urbanistik, Ökonometrie, Entwicklungsstudien, Journalismus und Öffentlichen Verwaltungswissenschaften eben autochthone Studierende sind, die von autochthonen Professoren unterrichtet werden.
Auf diese Weise wird das mit der multilateralen Migrationspolitik nichts. Gerade Journalisten mit Migrationshintergrund haben die Aufgabe diee Themen auch einem nicht englischsprachigen Publikum nahe zu bringen. Da das in der deutschen Presselandschaft nicht geht, brauchen sie einen eigenen Journalismus-Studiengang nach US Vorbild, der Media Enterpreneurship innerhalb des Digital Journalism lehrt.
Journalisten mit Migrationshintergrund müssen nicht nur die Debatte in der Einwanderungsregion, sondern auch die Migrationsdebatte in der Auswanderungsregion auf den Diskussionsstand der UNO, Weltbank und wissenschaftlichen Institutionen bringen.
Ohne etwas von Business Models von Community und Hyperlocal News zu verstehen haben Journalisten mit Migrationshintergrund keine Chance die Agenda zu setzen. Die Eigentumsverhältnisse in der Presselandschaft läßt das nicht zu.
Ich habe immer noch nicht verstanden, wer oder was die neuen Deutschen sein sollen… Werbeprodukte oder alternative Gesichter fuer Plakataktionen des Inneministeriums? Ist alles genauso wirr, wie bei den alten (?) Deutschen..
@Brandt: Das ist ja schön, dass die US-Anthropologie soweit ist. Ich kann dem nur zustimmen, und muss an die Ausbildung von Migranten ( auch Flüchtlingen) in den USA denken ( Im Zusammenhang mit Flüchtlingskindern: http://www.theirc.org/blog/back-school-refugee-kids-atlanta). Was glauben Sie wie lange dass in den USA gedauert hat? Ich mache mir da keine Illusionen, letztendlich geht es nicht um Qualifikation. Das was Sie als autochthones Problem im akademischen Bereich sehen, ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Man wird das Gefühl nicht los, dass die Traditionalisten ein Gefühl des Verdrängungswettbewerbs konstruieren, so dass die Debatte in völlig nebensächlichen Fragen versandet. Auch zeigt der ökonomische Aspekt den Sie ansprechen, dass es im Letzten tatsächlich nur um eins geht: Geld, und nicht Kultur.
Aber ist das nicht ein Armutszeugnis für eine europäische Nation, dessen Literatur, Musik Bibliotheken, Opernhäuser, Theater – allg. Kultur – kopiert werden, und jährlich Millionen von Touristen anziehen?
Ich verstehe was Sie sagen wollen; aber den Beweis anzutreten, dass migrantisches Leben mit ökonomischer Leistung erst möglich ist, bedeutet den Nazis im Rückschluss recht zu geben. Wir wären dann unwertes Leben, das am Leben bleiben darf, weil es sich rechnet.