Brückenbauer
Neukölln Survivor
Heinz Buschkowsky, Bezirksbürgermeister von Berlin Neukölln, zeichnet in seinem Buch "Neukölln ist überall" Gotham-City-ähnelnde No-Go-Areas. Roman Lietz auf gefährlicher Spurensuche und höchstpersönlich.
Von Roman Lietz Freitag, 21.09.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.07.2015, 14:02 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Eine Kartoffel wie ich sollte einen großen Bogen um Neukölln machen. Meine blauen Augen machen mich zum Außenseiter. Als junger Mann in zeugungsfähigem Alter und dazu noch mit dieser Brille, die mir einen Anstrich von Intellektualität verleiht, bin ich eine schiere Provokation für die Neuköllner Ghetto-Kings. Ich sollte Neukölln meiden. Zumindest wenn ich den Worten des Neuköllner Bezirksbürgermeisters Heinz Buschkowsky Glauben schenke. Er schreibt in seinem Buch, aus dem derzeit in einer täglichen BILD-Vorab-Veröffentlichung zitiert wird:
„Dort, wo man zu fünft nebeneinander über den Bürgersteig geht und alle anderen ausweichen müssen. Dort, wo an der roten Ampel möglichst alle stur geradeaus schauen, um nicht von den Streetfightern aus dem Wagen nebenan angepöbelt und gefragt zu werden: ´Hast du Problem? Könn’ wir gleich lösen!` Da, wo kleineren Kindern von größeren Jugendlichen ein Wegezoll oder eine Benutzungsgebühr für das Klettergerüst abverlangt wird. Wo junge Frauen gefragt werden, ob sie einen Befruchtungsvorgang wünschen. Wo man dem Busfahrer die Cola über den Kopf schüttet, wenn er nach dem Fahrschein fragt. In der Neuköllner Sonnenallee wird zum Beispiel häufig in drei Spuren geparkt. […] Machen Sie jetzt nicht den Fehler zu hupen oder auszusteigen, Sie könnten in eine unangenehme Situation geraten. Ein Problem, das Sie eventuell haben, könnte gleich „geklärt“ werden, oder wenn Sie als Deutscher glauben, hier den Chef markieren zu können, würde man Ihnen zeigen, dass Sie gleich die Stiefel Ihres Gegenübers lecken. […] Deutsche gelten als leichte Opfer. Hiermit kann jeder im Alltag in Berührung kommen. Es kann Ihnen passieren, dass Sie bei einem lapidaren Auffahrunfall eine Überraschung erleben. Nämlich dann, wenn Ihr Unfallpartner äußerlich eindeutig als Einwanderer zu erkennen ist.“
Da muss man sich wirklich vor Neukölln fürchten. Und dennoch bin ich, wohnamtlich gemeldeter Weddinger, fast täglich in Neukölln. Warum passiert mir nichts? Wo ist das gefährliche Neukölln, vor dem sich die ganze BRD fürchten muss? Eine Spurensuche.
Meine erste Station ist der Spielplatz an der Weichselstraße. 550 Meter von der Sonnenallee entfernt ist Neukölln noch in Ordnung. Mütter, Kinder, mehr blonde als schwarze Haare. Keine Gangs, die Wegezoll fordern. Doch von Ferne tönt schon die Sonnenallee, Sodom und Gomorra Neuköllns… Unverzagt setze ich Fuß vor Fuß.
Ich vernehme, wie sich mir ein Auto im Rücken nähert. Langsam, nahe am Bordstein. Bin ich womöglich in besetztes Revier eingedrungen? Die informellen Codes der Straßenterritorien sind mir nicht bekannt. Ich dreh mich um, in Erwartung der ersten Auseinandersetzung an diesem Nachmittag. Aber es ist nur die Fahrschule, am Steuer eine junge Frau mit Kopftuch. Trotz penetranten Gaffens gelingt es mir noch nicht einmal, den Fahrlehrer zu provozieren.
In der Weserstraße muss ich nun wohl etwas offensiver sein. Ich schlendere auf dem Fahrradweg entlang. Gegen die Fahrtrichtung. Mal gucken, was passiert. Das erste Rad weicht mir aus. Dem zweiten kann ich noch gerade so aus dem Weg springen. Hm, geschieht mir eigentlich recht.
Ich biege endlich auf die Sonnenallee. Neben mir an der Ampel steht ein junger, circa 20-jähriger Mann in Trainingsjacke. An der Hand ein Schulmädchen, womöglich seine Schwester. Ich betrachte die beiden genauer. Er guckt zurück. Ich starre weiter, bis es mir unangenehm wird, und noch länger. Er guckt zurück. Kein Ton. Das grüne Licht der Ampel erlöst mich aus dieser peinlichen Situation.
An der nächsten Ampel auf der anderen Straßenseite eine Gruppe Jugendlicher. Endlich, wurde ja auch Zeit. Es sind einige Mädchen und etwa doppelt so viel Jungs. Alles „Südländer“. Ich kann das Testosteron fast riechen. Die Ampel springt um. Ich marschiere drauf los. Schnurgerade. Sie weichen aus, ich weiche aus, wir arrangieren uns irgendwie. Nichts Besonderes.
Etwas später auf der Karl-Marx-Straße endlich ein Kleinlaster, der in zweiter Reihe hält. Ein Arbeiter sitzt auf der Ladefläche, er erinnert mich ein bisschen an Bushido. Vielleicht ist das der Grund, warum niemand hupt. Wahrscheinlich haben alle Angst vor „Problem“. Weiter hinten noch ein Auto in zweiter Reihe. Ein Mercedes mit HH-Kennzeichen. Eine Frau hupt, gestikuliert mit den Armen und umkurvt das Hindernis. Herr Buschkowsky hat Recht: „Problem wurde gleich gelöst.“
In der Karl-Marx-Straße 50 verschwinde ich im Hinterhof. Ich kenne das Projekt im ersten Stock. Ein angeranztes Treppenhaus mit losem Geländer. Kindergeschrei und hinter einer Tür eine laute Frauenstimme auf Türkisch. Eine Tür steht halb offen, ein Kinderwagen versperrt mir den Durchgang. Hier, hinter den Fassaden, scheint das Ghetto zu pulsieren. Irgendwie muss ich vorbei. Da kommt auch schon die Mutter und holt Luft. Ich lege mir schon ein „pardon, anlamıyorum“ zurecht, „Entschuldigung, ich verstehe nicht“. Doch die Frau entschuldigt sich bei mir. Auf Deutsch.
Am Rathaus Neukölln setze ich mich auf einen Blumenkübel und mache mir Notizen. Provokant strecke ich meine Beine auf den Gehweg. Die Leute machen einen Bogen um mich. Wenn Herr Buschkowsky jetzt aus dem Fenster guckt, könnte er meinen, ich sei der asoziale Neuköllner, vor dem man die Bundesrepublik warnen muss.
Schließlich noch die Königsdisziplin, eine Fahrt mit dem 104er zur Haltestelle Boddinstraße. Der Busfahrer hat jetzt gerade keine Cola im Haar. Vorwitzig schreite ich durch den Bus und platziere mich auf der sagenumwobenen letzten Reihe. Vielleicht überstrapaziere ich mein Glück, aber ich wage das Risiko, hier in Neukölln in der letzten Reihe eines Busses ein Buch zu lesen. Und es trägt nicht den Titel „Neukölln ist überall“. Um ein Haar verpasse ich meinen Stopp. Alles in allem ein äußerst ereignisloser Ausflug nach Neukölln. Das hätte mir wirklich auch überall passieren können…
Lieber Herr Buschkowsky, nur weil ich meine mittlerweile zahlreichen Ausflüge nach Neukölln unbeschadet überstanden habe, will ich die sozialen Probleme in Neukölln keinesfalls bagatellisieren. Neukölln ist aber keine Gotham-City-ähnelnde No-Go-Area, wie Sie in der BILD-Kolumne öffentlichkeitswirksam suggerieren. Angst ist ein schlechter Ratgeber, Herr Buschkowsky, bitte fürchten Sie sich nicht vor Neukölln! Aktuell Meinung
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Ich freue mich, dass der Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky nach 33 Jahren im Amt es endlich geschafft hat, seinen 1. Integrationsbericht für Neukölln im Buchforum in der Currywurst-und Kneipensprache zu veröffentlichen.
Ich lebe seit über 35 Jahren in Neukölln, und weiß, dass wir unsere sozialen Probleme haben. Wir brauchen keinen Multimillionär, wie Buschkowsky der zum Rathaus und zurück in seine Rudower Villa chauffiert wird und von uns Neuköllner Bürgern abwertend bundesweit spricht.Es ist an der Zeit einen zeitgemäßen und international-denkenden Bürgermeister für Neukölln zu wählen. Es kann nicht sein, dass man mit rechten Parolen Sündenböcke für unsere Probleme in Neukölln sucht, anstatt Lösungen für soziale Probleme und Armut zu finden.
@Badr Mohammed
Stellt sich nur die Frage wie Sie das Problem lösen wollten. Die Arbeitsplätze die es damals gab sind nicht mehr da sondern mit den entsprechenden Maschinen abgewandert, nur die arbeitslos gewordenen Menschen sind da geblieben und bewegen sich nicht um was zu ändern. Das muss sich aber ändern. Wer einmal eingewandert ist kann auch wieder auswandern. Auch ethnische Deutsche tun dies. Wer etwas ändern möchte muss sich bewegen.