Mauerzeit 2/3
Mutter in jenen Tagen
Zeitzeugen-Erinnerungen aus 28 Jahren Mauerzeit. Dieses Buch erzählt, was Menschen alles taten, um die Mauer zu überwinden. MiGAZIN bringt anlässlich des 3. Oktober drei Kapitel aus dem Buch in voller Länge. Heute: “Mutter in jenen Tagen”
Von Ingrid Wehner Montag, 01.10.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.10.2012, 11:07 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Seit Jahren wußte sie, daß ihr Sohn darüber grübelte, wie er aus diesem Land herauskommen könnte. Die Urlaubsreisen nach Budapest hatten ihm einen winzigen Einblick in die große, ferne Welt gewährt. Die Mauer, die unüberwindlichen Grenzen, erdrückten seinen Wunsch nach Bewegungsfreiheit. Schnelle Autos – sein Traum – waren für ihn unerreichbar, obwohl er als Montageelektriker viel Geld verdiente. Es zerfloß ihm unter den Händen. Irgendwie fehlte das Motiv für einen richtigen Anfang, trotz seiner 24 Jahre, denn der Staat regierte in seinem Leben mit.
Zwischen Mutter und Sohn gab es keine Geheimnisse. Schließlich hatten sie beide schwere Zeiten überstanden, als der Vater mit 35 Jahren starb. Der Junge war denn das Liebste für sie geblieben. Er mußte versprechen, daß er sein Leben niemals aufs Spiel setzen würde, um in Berlin über die Mauer zu gehen, in deren Nähe er so oft arbeitete. Wäre es denn nicht möglich, daß er als Ortskundiger eine durchlässige Stelle zu finden glaubte?
Sie fühlte sich von tausend Ängsten umklammert; und wenn im Radio ein Fluchtversuch gemeldet wurde, durchfuhr es sie eiskalt in der Furcht, es könnte ihr Junge sein.
Dann kam der August 1989. Ihr Sohn kehrte mit drei Freunden aus Budapest zurück, obwohl sich dort schon Flüchtlingslager bildeten. „Ich konnte sie nicht einfach im Stich lassen“, sagte er, „wir sind zusammen zurückgekommen!“
Ein merkwürdiger Zwiespalt – eine Chance war verschenkt, aber er war wieder zu Hause. Wie froh war sie darüber, wie hatte sie ihn an sich gedrückt, ihren Sohn!
Eine Woche später kam der Schock: „Ich gehe – allein, endgültig. Es darf niemand wissen, außer uns.“
Sein Plan war, ein Visum nach Rumänien zu beantragen – angeblich, weil er beim Ungarnurlaub einen jungen Rumänen kennengelernt hätte, der ihn zu seiner Hochzeit eingeladen habe. Die Fernzüge nach Rumänien aber fuhren durch Ungarn; dort konnte er aussteigen und über die bereits durchlässige Grenze nach Österreich gelangen.
Die Mutter mußte diese Entscheidung akzeptieren, aber es breitete sich ein drückender Schmerz in ihr aus. Alles Reden schien sinnlos. Doch sollte sie ihm sein Vorhaben überhaupt ausreden, war nicht sein Entschluß wichtiger als ihre Liebe?
Die Zeit lief, die Fluchtwelle hatte auch sie erreicht.
Was blieb ihr anderes übrig, als dem jungen Unerfahrenen tausend Ratschläge mit auf den Weg zu geben?
Trotzdem saß in ihrem Innersten noch die winzige Hoffnung, daß er kein Visum bekäme. Aber diese erfüllte sich nicht. An einem Septembermorgen kam der Abschied. Sie lagen sich weinend in den Armen, ganz fest aneinander gedrückt. Beide empfanden wohl in dieser Minute, wie groß die Liebe zwischen ihnen war.
„Das dauert nicht mehr lange – und dann fahren wir beide nach Paris!“
„Paß auf dich auf, und melde dich sofort, wenn du in Sicherheit bist!“
Das waren die letzten Sätze – dann war er fort. Zurück blieb eine grenzenlose Leere. Die Erinnerungen an seine Kinderjahre, wie sie ihn geliebt hatte, was sie ihm gegeben hatte an Kraft – und trotzdem war er gegangen.
Als der Anruf aus Wien kam, brach sie zusammen. Vor Freude, daß ihm nichts passiert war, weil die Angst sich löste, und weil sie wußte, daß er es schaffen würde, seine Träume zu verwirklichen.
Nach dem 9. November sah die Welt plötzlich anders aus. Wann immer sie wollten, könnten sie sich nun besuchen. Allein der Gedanke daran nahm der Trennung den Schmerz.
Ohne Mauer und verminte Grenzen wurde alles schnell normal – ein Sohn hatte sich von der Mutter abgenabelt, um seinen eigenen Weg zu gehen. Und immer, wenn er die Füße mal wieder unter ihren Tisch stellen möchte, kann er nun nach Hause kommen. Aktuell Feuilleton
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