Mauerzeit 3/3
Die Kristallvase
Zeitzeugen-Erinnerungen aus 28 Jahren Mauerzeit. Dieses Buch erzählt, was Menschen alles taten, um die Mauer zu überwinden. MiGAZIN bringt anlässlich des 3. Oktober drei Kapitel aus dem Buch in voller Länge. Heute: “Die Kristallvase”
Von Irmgard Pondorf Dienstag, 02.10.2012, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 04.10.2012, 23:24 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Als ich als Westdeutsche einmal in West-Berlin war, nutzte ich die Möglichkeit, von dort aus mit einem Tagesvisum nach Ost-Berlin zu reisen. Ich hatte mich mit Gerda, der Frau meines Vetters, am Grenzübergang Friedrichstraße verabredet. Wir wollten uns endlich wiedersehen, in die Arme nehmen und Gedanken austauschen.
Mit Oma Linas schwarzer Reisetasche, prall gefüllt mit allem, was Gerda gut brauchen konnte, fuhr ich mit der S-Bahn „rüber“. Gerda entdeckte mich gleich. Arm in Arm zogen wir los und wollten uns in einem Restaurant gemütlich niederlassen. Das war leichter gedacht als getan, denn im ersten Lokal wurden wir abgewiesen, obwohl niemand in den Räumlichkeiten zu sehen war, und im zweiten war angeblich alles reserviert. Wenn wir unsere kostbare gemeinsame Zeit nicht auf diese Weise vertrödeln wollten, meinte Gerda, müßten wir nun handeln. Also ließ ich vor dem dritten Lokal einen 20-Mark-Schein sehen, noch bevor wir um Einlaß baten. Siehe da, jetzt bekamen wir sogar eine Nische für uns allein, wo wir essen und lange ungestört plaudern konnten.
Als wir später gemeinsam durch die Stadt bummelten, wollte sich Gerda revanchieren für all die Pakete und vielerlei Unterstützung, die unsere Familie ihnen seit vielen Jahren zuteil werden ließ. Sie wollte unbedingt etwas kaufen, um uns eine Freude zu bereiten. Ich wollte das nicht zulassen, aber Gerda war beharrlich. Schon grübelte sie, was da wohl in Frage käme, als wir an einem Geschäft mit Kristallwaren vorbeikamen.
„Kauf eine kleine Vase, dann ist die Sache erledigt, Vasen kann man immer gebrauchen“, schlug ich vor, um endlich die Angelegenheit zu beenden. Ich wollte nicht mit in den Laden hineingehen, es war mir unangenehm, ihr beim Geldausgeben für mich zuzusehen. Nach einer Weile kam Gerda freudestrahlend zurück: „Ich habe etwas Schönes gefunden; auch gut eingepackt, damit du es gleich mitnehmen kannst.“
Leider wurde es schon Zeit, uns zu trennen. Auch Gerda war ja keine Berlinerin und mußte noch die S-Bahn nach Strausberg und dort den Bus nach Altreetz erreichen. Ich ließ ihr Omas gefüllte Tasche da und ging zum Übergang Friedrichstraße. In der einen Hand trug ich ein Netz mit dem Geschenk und über der Schulter meine Umhängetasche.
„Halt, haben Sie etwas zu verzollen?“
„Nein, nur eine Vase hier in dem Netz.“
Ein kurzer Blick zum Wärterhäuschen hatte dem freundlichen jungen Volkspolizisten gezeigt, daß er beobachtet wurde. Sofort wurde er dienstlich und erklärte, die Vase begutachten zu müssen. Kristall! Die Ausfuhr von Kristall war verboten, mein Geschenk sollte beschlagnahmt werden.
Erst reagierte ich sehr ärgerlich und heftig. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, schlug ich vor, es meinem Vetter nach Altreetz ins Oderbruch zu schicken. Schließlich habe er sich das Geld dafür als Arbeiter in der LPG vom Munde abgespart, um uns zur silbernen Hochzeit eine Freude zu bereiten. Nach einigem Hin und Her war der mürrische Beamte im Häuschen bereit, mir eine Bescheinigung zu geben, mit der sich die Verwandten die Vase persönlich innerhalb von acht Tagen zurückholen konnten. Kaum in West-Berlin, schickte ich die Bescheinigung per Eilboten zu Gerda. Obwohl es für sie sehr umständlich war, wieder nach Berlin zu fahren, wollte sie die Vase aber auf keinen Fall „diesen Herren“ überlassen. Bei einem späteren Besuch erzählte sie uns, wie sie schikaniert, dreimal kreuz und quer geschickt worden war. Als sie endlich ihr Eigentum bekommen hatte, war sie so entnervt, daß sie sich nur noch auf die erstbeste Bank setzen konnte, um sich auszuweinen.
Später, bei einer Reise in den Westen als Rentner, versuchten Gerda und ihr Mann, uns das gute Stück doch noch mitzubringen. Sie wickelten es in Wäsche ein und hofften einfach auf ein bißchen Glück. Seelenruhig öffneten sie bei der Grenzkontrolle zunächst den Kofferraum, dann den ersten Koffer, den zweiten … Beim dritten hatte der Grenzpolizist keine Lust mehr. Genau dort war die Vase drin. Sie durften weiterfahren und mit ihnen die Vase, die Gerda mir, glücklich über den gelungenen Coup, zum zweiten Mal überreichte.
Viele Jahre stand die Vase bei uns im Schrank, aber nur einmal, zur goldenen Hochzeit, haben wir sie benutzt. Kann man ein solch erinnerungsträchtiges Geschenk denn als profanen Gebrauchsgegenstand im Alltag benutzen und der Gefahr des Zerbrechens aussetzen? Heute gehört sie meiner Tochter. Ob die wohl beim Anblick der Vase auch immer an deren Odyssee von Ost nach West denken muß? Aktuell Feuilleton
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Für mich ist immer noch der 17. Juni der „Tag der deutschen Einheit“ und nicht der 3. Oktober, der von mir als Muslim und als im Ausland lebender Deutscher nur als „Tag der offenen Moschee“ wahrgenommen wird. Nachdem nach der nicht gerade wirklich geglückten Wiedervereinigung das bundesdeutsche Regime immer totalitärer und undemokratischer wird, wäre es durchaus angemessen, jedes Jahr an den Volksaufstand vom 17. Juni zu erinnern.