Ismail Ertuğs Meinung
EU-Fortschrittsbericht zur Türkei – neue Verfassung lässt auf sich warten
Jedes Jahr veröffentlicht die Europäische Kommission einen Fortschrittsbericht über den Reformprozess der Türkei auf ihrem Weg in die EU. Aus dem diesjährigen Bericht ist herauszulesen, dass sich der Reformprozess in der Türkei verlangsamt hat. EU-Parlamentarier Ismail Ertuğ kommentiert:
Von Ismail Ertuğ Montag, 15.10.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 18.10.2012, 7:58 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Eine lang erwartete Verfassungsreform, die viele Probleme der Türkei in Fragen der Menschenrechte und der freien Meinungsäußerung lösen soll, lässt auf sich warten. Langjährige Probleme, wie die Kurdenfrage, die Besitzrechte von christlichen Gemeinden, die Frage der alevitischen Gebetshäuser oder die Kopftuchdebatte sollten mit dieser umfangreichen Verfassungsreform adressiert werden. Hier ist deutliche Kritik an der türkischen Regierung angebracht, da sie noch stets versäumt, diese wichtige Reform zügig voranzutreiben.
Krisen bremsen Reformen – Unterstützung fehlt
Mitverantwortlich für die Reformmüdigkeit der Türkei sind zudem eine inhaltlich schwach aufgestellte Opposition und eine AK-Partei, bei der nach zehn Jahren Regierungszeit der Reformwille erlahmt ist. Auch dürfen die Ereignisse des letzen Jahres nicht außer Acht gelassen werden. Der Bürgerkrieg in Syrien und der wieder aufkeimende PKK-Terrorismus haben die Aufmerksamkeit der Regierung und der Öffentlichkeit von den Reformen abgelenkt. 700 Menschen sind im vergangenen Jahr durch Terrorangriffe in der Türkei ums Leben gekommen; zudem versorgt die Türkei fast 100.000 syrische Flüchtlinge auf ihrem Staatsgebiet. Die Kapazitäten sind ausgeschöpft und eine humanitäre Katastrophe droht. Die Türkei fühlt sich mit diesen Problemen alleine gelassen. Hier müssten die internationale Gemeinschaft und die EU der Türkei stärker unter die Arme greifen und Solidarität beweisen, zumal die Tausenden von der Türkei aufgefangenen Flüchtlinge sonst nach Europa strömen würden.
EU-Beitritt als Reformmotor immer schwächer
Ebenso fällt es Politikern in diesen Tagen schwer, die türkische Bevölkerung für die EU und ihre Reformvorschläge zu begeistern. Laut einer aktuellen Umfrage von TAVAK (Deutsch-Türkische Stiftung für Bildung und Wissenschaftliche Forschung) glauben nur noch 17 Prozent der befragten Türken, dass sie eines Tages der EU beitreten werden. Im Vorjahr waren es noch 34 Prozent!
Während seiner zweieinhalbstündigen Rede beim letzten Parteikongress schaffte es Premierminister Erdogan, nicht ein einziges Mal, die EU zu erwähnen. Diese Indikatoren zeigen, dass die EU ihren Einfluss in der Türkei eingebüßt hat. Ein wichtiger Grund dafür ist die laufende Finanzkrise und die relativ gute wirtschaftliche Lage der Türkei. Im Jahr 2011 wies sie ein Wirtschaftswachstum von 8,5% auf. Diese Entwicklung verleitet zu einer voreiligen Euphorie in der Türkei.
Stimmen werden laut, man brauche die EU nicht mehr und man solle den zukünftigen Weg ohne eine EU-Aspiration fortsetzen. Dies ist ein fataler Trugschluss, denn man darf nicht vergessen, dass die EU seit Jahren der Antriebsmotor für alle Reformen, die Demokratisierung und die dadurch entstandene Stabilität und den entwickelten Wohlstand in der Türkei ist. Davor war die Türkei ein politisch und wirtschaftlich sehr labiles Land: Fast alle 10 Jahre wurde ein militärischer Putsch durchgeführt, Regierungsparteien verboten, die Korruption war allgegenwärtig und die Inflation erreichte Rekordhöhen. Nur mit Unterstützung der EU kam die Türkei so weit, wie sie jetzt ist und ohne die EU könnte sie wieder hinter den jetzigen Stand zurückfallen. Die Türkei braucht die EU weiterhin und die EU braucht die Türkei! Es kann nur in unserem Interesse liegen, einen demokratischen und wirtschaftlich stabilen Nachbar zu haben, der eines Tages ein gut vorbereitetes und die Union stärkendes Mitglied wird.
Die Visum-Pflicht für türkische Staatsbürger muss aufgehoben werden
Die momentane negative Stimmung muss sich ändern und dazu muss die EU einen Schritt auf die Türkei zu gehen. Zu allererst muss die Visumspflicht für türkische Staatsbürger aufgehoben werden, denn eine EU, die unbekannt bleibt und auf Millionen Türken niemals einen Fuß setzten werden, weil sie die Strapazen für einen Visums-Antrag nicht meistern können, wird keinen Türken interessieren und begeistern können. Tausende Bewerber müssen enorme Kosten und bürokratische Hürden auf sich nehmen und nach einer langen Reise nach Ankara oder Istanbul stundenlang in der Schlange warten und darauf hoffen, dass ihnen ein Visum gegönnt wird.
Geschäftsleute zahlen Tausende Euros für Stände auf europäischen Messen, um ihre Produkte auszustellen, aber bekommen kein Visum für die Einreise. Ebenso bekommen türkische Firmen trotz Zollunion kein Visum für ihre Lastkraftfahrer, um ihre Waren in die EU zu transportieren. Auch Erasmus-Studenten, die für ein Studium an europäischen Universitäten ein Stipendium bekommen, erhalten kein Visum oder nur mit erheblichen Verzögerungen, sodass sie Vorlesungen verpassen. Diese Umstände sind eine große Demütigung für die Bürger eines Landes, das sich seit 1963 für eine Mitgliedschaft in der EU bewirbt.
Die Türkei mit ihrer regionalen, strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung ist ein sehr wichtiger Partner für die EU. Wir dürfen sie nicht verlieren. Wir haben alle Instrumente in der Hand, um Reformen in der Türkei anzuspornen. Wir müssen sie nur nutzen. Es muss Schluss sein mit engstirniger und populistischer Politik, die das Thema Türkei in ihren Ländern instrumentalisiert und in der Bevölkerung unbegründete Ängste schürt. Aktuell Meinung
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Stimme 100% zu! Als jemand zwischen 4 verschiedenen Welten kann ich nur sagen:
1.Es ist wohl zu verstehen, dass sich alle Türken von der EU verarscht und nicht ernst genommen fühlen bei der anscheinenden baldigen EU-Aufnahme seit Jahren. Außerdem wie kann sich EU erlauben zu sagen, dass Zypern zu Griechenland gehört und so etwas mal einfach selber bestimmen??? Wo ist die Demokratie???
2. Die Türkei wird im Gegensatz zu anderen Ländern ungerecht behandelt! Es befinden sich Länder in der EU mit unglaublichen Menschenrechtsverletzungen (ja auch Deutschland, wo Bestechung erlaubt ist, etc.), aber die dürfen alle in der EU sein, nur Türkei nicht.“ Die anderen werden sich ja irgendwann angepasst haben, aber Türkei…“Ich kann nur sagen: Rassismus??
3.Die Visumpflicht ist einfach unglaublich!!! Eine bekannte türkische Familie kann nicht mal uns besuchen kommen und bekommen kein Visum, obwohl sie bestimmt nicht hier einziehen werden. Vor was fürchtet man(deutschland) sich eigentlich? Aber umgekehrt auf Visumfreiheit bestehen und es sogar bekommen. Ich muss leider traurig sagen: typisch wir Deutschen und Euopäer.
Ich wünsche Türkei und allen Türken und auch allen Deutschen, die eine seelische Verbindung mit der Türkei pflegen, eine super neue Verfassung und wünsche der Türkei alles Beste und danke euch schon im Voraus für unsere Rettung aus der Krise. Ja, die bösen Türken, die, die nicht zu uns gehören sollen, werden mal wieder unseren Mist auslöffeln.
@diestimme:
1. Der einzige Staat der Welt welcher „Nordzypern“ zur Türkei zählt ist die Türkei – wo ist die Demokratie? Gute Frage, wenn die Türkei -völkerrechtswidrig- ein Land besetzt hat das wenig mit Demokratie zu tun. Siehe entsprechende UN-Resolutionen.
2. Wo bitte ist in Deutschland Bestechung erlaubt? Das das auch hier vorkommt bedeutet nicht das es erlaubt ist. Natürlich wird diese – wenn es rauskommt – geahndet. Allerdings muss man hier auch nicht erst einen Arzt bestechen (wie in der Türkei durchaus üblich) um gut behandelt zu werden.
3. Wenn die Türkei anfängt ihre Staatsbürger zurückzunehmen (sie weigert sich seit Jahren enige hier straffällig gewordene türkische staatsbürger wieder aufzunehmen) ist das mit dem Visum sicherlich kein Problem mehr.
Soso, die Türken retten „uns“ also aus der Krise? Okay, ab hier wirds lächerlich…
Mal ein paar Infos – die Türkei importiert sehr viel aus Russland (etwa 13%), danach folgt dann Deutschland (ca. 10%) und dann kommt schon die VR China.
Umgekehrt exportiert die Türkei allerdings viel mehr Waren in die EU.
„Profitieren“ vom Handel mit der EU scheint also eher die Türkei (und China, denn dahin geht fast nix). Wo hier die „Rettung“ sein soll erkenne ich nicht, lasse mich aber gerne eines besseren belehren.
Die Aufnahme der Türkei in die EU ist unmöglich, solange diese Zypern nicht als autonomes Land anerkennt. Wie können sie Mitglied sein, wenn sie nicht mal alle bestehenden Mitglieder der EU anerkennen?!