Kısmet
Trümmer der Existenz
Die Familie saß beisammen beim Tee. Zunächst fingen die Tassen an zu vibrieren, allmählich wackelten Schränke, dann die Wände, bis sich erste Risse auftraten. Die Familie stürmte aus dem Haus, ließ alles zurück und sah zu, wie eine Seite ihres Heimes zu einem Haufen Schutt zerfiel.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 07.11.2012, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 03.07.2013, 17:30 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Als Anne 1 und Baba 2 vor Jahrzehnten nach Deutschland kamen, kam dies für sie einer kulturellen Eruption gleich. Mit nach wie vor erstaunter Miene erzählt Anne davon, wie sie endlich mit ihrem Mann in einem kleinen Dorf ihre erste gemeinsame Wohnung in der neuen Heimat beziehen konnte und die sanitären Anlagen sich außerhalb des Hauses befanden. Für die Toilette aus dem Haus gehen? In dem Land, das sie sich in ihrer damals noch kindlich geprägten Weltanschauung nahezu paradiesisch vorgestellt hatte?
Nach wie vor ist für sie diese Begebenheit eine prägende Anekdote für den Kulturschock, den sie damals erlebte. Vieles war so anders, als sie es sich vorgestellt hatte und wie sie es gewohnt war. Auf der Bahnfahrt in das unbekannte Land gab es nicht mal eine Toilette. Heute sinniert sie voller Stolz über die Entwicklung Deutschlands und schaut mit zufriedenem Blick aus dem Wohnzimmerfenster auf dieses moderne, ordentliche, strebsame Land, in dem jeden Samstag mit größter Akribie und Tüchtigkeit die Straße gekehrt wird. Und sie haben zum Aufbau beigetragen, wirft Baba stolz ein. Einen ihrer seltenen, aber umso herzerfrischenden Lachanfälle bekommt Anne, als ich ihre Anekdote mit einer meiner Türkeierfahrungen aus dem Urlaub des vergangenen Jahres kontere.
In einer türkischen Innenstadt stand ich geradezu hilflos in einer öffentlichen Toilette und wusste nicht, wie diese zu benutzen ist. Die traditionellen Toiletten, auf denen man nicht sitzt, da diese im Boden eingelassen sind, stellten mich vor große Schwierigkeiten. Als ich versuche, Anne meine kauernde Haltung pantomimisch darzustellen, liegt sie fast vor Lachen auf dem Boden. So wie auch ich beinahe beim ersten Versuch der Toilettennutzung. Vor 50 Jahren war Anne und Baba weniger zu Lachen zumute. Denn sie standen vor den Trümmern ihrer Existenz.
Während Baba gerade von einem sorgenfreien Familienleben träumte, weil gerade die zweite Tochter geboren wurde, machte ein Erdbeben diese Hoffnung auf eine zufriedene Zukunft zunichte. Einen Soldaten vom angerückten Militär, das das verwüstete Areal absperrte, konnte Baba gerade noch überreden, ihn seine Jacke holen zu lassen. Diese hing am Haken im ersten Stockwerk, die Mauer war eingefallenen, sodass er über die Trümmer kletterte und diese mit einem Stock herunterfischte. Er öffnete sein Portemonnaie und sah, dass er noch 600 Lira hatte. Sie zogen zu seiner Mutter, um ein Dach über den Kopf zu haben. Aber aller Fleiß genügte nicht, um etwas Neues aufzubauen. Schweren Herzens zeigte Anne ihrem Mann den Brief, der bereits zwei Jahre zuvor gekommen war, den sie jedoch verheimlicht hatte und in dem stand, dass die Bundesrepublik Deutschland ihn als Arbeitskraft haben wollte.
Die junge Frau, die sie damals war und die gar kein Leben, zumindest als Erwachsene, ohne ihren geliebten Mann kannte, wusste genau, dass dieser Schritt wohl nun unvermeidlich war. Also bewarb sich mein Schwiegervater erneut um Arbeit. Nicht, dass er das Abenteuer gescheut hätte. Eigentlich wollte er immer nach Amerika, aber leicht ist es ihm sicher nicht gefallen, ins Ausland zu gehen, seine Familie für zwei Jahre zu verlassen. Denn bald fand er Anstellung in Düsseldorf als Dreher. Dabei hatte er von glücklichen Umständen profitiert. Eigentlich hätte er in ein Bergwerk unter Tage gesollt, aber die Dame (so nennt Baba Frauen übrigens noch heute) auf dem Amt, hatte ihn sehr freundlich gefunden und half ihm eine andere Stellung zu finden, in der er seine technischen Fähigkeiten einbringen konnte.
Mit Fleiß und Hilfsbereitschaft, die ihm nicht nur den Respekt anderer Migranten, sondern auch seiner Vorarbeiter einbrachte, konnte er sich soviel Vertrauensvorschuss erarbeiten, um auch einen monetären Vorschuss zu erhalten. Wie viel willst du haben, fragte ihn der Vorarbeiter. 500 Mark? Baba war überwältigt von der Summe. Diese war dringend nötig, um die Familie zu Hause zu unterstützen und zu ernähren, da er zwar einige tausend Kilometer entfernt, aber dennoch der einzige Ernährer der Familie war. Umso entsetzter war er, als er feststellen musste, dass die Bank vier Monate brauchte, um die Summe an seine Frau gutzuschreiben. Sie hatte zwischenzeitlich alles in Bewegung gesetzt, um die Familie auf eigene Faust satt zu bekommen. Zunächst wurde sie von befreundeten Geschäften unterstützt. Danach verkaufte sie ihren Schmuck und sogar ihren Ehering, um wieder etwas Geld zu haben. Die Not wurde verschlimmert, da sie von der Schwiegermutter drangsaliert wurde. Ironie des Schicksals. Jahre später pflegte meine Schwiegermutter als einzige ihre Schwiegermutter, nachdem sie schwer krank geworden war, sodass diese sie unter Tränen um Verzeihung bat.
In Deutschland machte sich wiederum die Kontaktfreudigkeit meines Schwiegervaters bezahlt. Er hatte einen Geschäftsmann kennengelernt, der das Geld für ihn die Türkei transferierte. Als der Postbote schon nach einigen Tagen mit einem lang ersehnten Umschlag vor der Tür stand, fiel Anne ihm geradezu um den Hals, wie sie heute noch schmunzelnd mit einem Hauch von Schamesröte erzählt. Natürlich gab sie ihm auch gleich einen kleinen Anteil des Inhalts, um die einwandfreie Lieferung zukünftiger Kuverts sicherzustellen. Es war damals ein Geben und Nehmen.
Kaum war sie nach Deutschland gekommen, hatten sie einen Autounfall. Nichts Schlimmes, wie Baba sogleich versichert. Aber über die Polizeiaussage des Mannes muss er heute noch Lachen: „Ich türkisch Mann. Meine Frau auch.“ Ich zittere fast ein wenig, weil er während seiner Erzählung ständig väterlich mein Bein tätschelt und für mich diese Geschichte damit noch eindringlicher macht. Sein Hand wandert auf meine Schulter und er blickt mich an. „Weißt du, wie wir das damals geschafft haben?“ „Die Familie hat zusammengehalten.“ Und das tut sie auch heute noch.
Während meine Freundin und ich gerade krank auf der Couch liegen, will Baba für uns Medikamente kaufen gehen, obwohl er derzeit kaum zehn Meter ohne Atemnot laufen kann. Anne koordiniert ihrerseits den Transport der Suppe, die meine Schwägerin kocht und die mein Schwager später vorbeibringen soll. Ein schönes Gefühl zu wissen, dass die Familie für einen da ist.
Am Telefon höre ich, wie Anne Baba anmacht. „Woher willst du wissen, dass ich die Medikamente nicht holen kann?“, will er wissen. „Weil ich dich seit 50 Jahren kenne.“ „Und mich 50 Jahre liebst?“, erwidert er schlagfertig. Die Verlegenheit von Anne ist sogar durch das Telefon spürbar. Über solche Themen spricht sie nicht gern. „Ich habe dich heute Morgen immerhin gebadet“, gibt sie ungewollt ebenso schlagfertig zurück. Sie kichert wie ein kleines Mädchen, als Baba versucht, ihr mit Absicht einen besonders aufdringlichen Kuss zu geben. Sogleich wird sie wieder ernst. Eigentlich hat sie für solche Albernheiten gar keine Zeit. Sie will noch das Bad putzen. Was soll man über die beiden sagen? Maşallah!
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Lieber Hubert, ich kann natürlich nicht, wie Sie, mit persönlichem Engagement aufwarten. Ich war bisher nur in Ägypten, nur um faul in der Sonne zu lenzen. Ansonsten habe ich eine Patenschaft ( World Vision) in Afrika, inzwischen die zweite. Und auch sonst liegt meine Brieftasche sehr locker, wenn es um Hilfen bei aktuellen Katastrophen geht. Selbst das viel gerügte „Rote Kreuz“ unterstütze ich inzwischen schon seit mehr als zehn Jahren. Da ich weder die Zeit noch die Lust habe vor Ort zu helfen, verlasse ich mich einfach darauf, dass zumindest die Hälfte von dem, was ich spende, auch sein Ziel erreicht.
Und ansonsten verweise ich sie zu meinem Vorposter „Hydarabad“.