Rezension zum Wochenende
Neukölln darf nicht überall sein!
Durch den Titel „Neukölln ist überall“ denkt der Durchschnittsleser, dessen einzige Erfahrung mit Migranten die Anweisung der ausländischen Putzfrau ist, dass ganz Deutschland betroffen sei und sieht all seine Vorurteile durch einen Politiker, der weiß wovon er spricht, bestätigt - eine Rezension von Rukiye Cankıran.
Von Rukiye Çankıran Freitag, 16.11.2012, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 20.11.2012, 5:22 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
In Deutschland wird viel gelesen, das ist keine neue Erkenntnis und wir können stolz darauf sein, dass hierzulande auf Bildung und Hochkultur viel Wert gelegt wird und dass Bücher trotz e-book und Internet in technisch hoch entwickelten Zeiten immer noch ihre Leser finden und die Bestsellerlisten in Schwung bringen.
Es ist interessant zu beobachten, dass an den spitzen dieser Listen immer wieder und immer gern Bücher sind, die extrem negative Wahrheiten über Migranten und Schocknachrichten aus Migrantenmilieus ans Tageslicht bringen. Noch interessanter ist aber, dass der gesellschaftliche Veränderungsprozess und die Bereitschaft dafür an genau diesen problemfördernden Strukturen etwas zu rütteln noch nicht einmal in der Mitte der Gesellschaft ankommt, geschweige denn an den Spitzen. Bücher wie „Die fremde Braut“, „Deutschland schafft sich ab“ und jetzt ganz aktuell „Neukölln ist überall“ schaffen es, von Massen gelesen zu werden, aber das Engagement, das jeder einzelne nach dieser Lektüre in die gesellschaftlichen Geschehnisse einbringt, lässt zu wünschen übrig. Aber warum lesen wir das Ganze dann? Ist das nicht Zeitverschwendung? Oder jammern wir nur zu gern auf hohem Niveau und überhaupt?
Es steht außer Frage, dass bestimmte Thesen und Probleme, die von den Autoren beschrieben und angeprangert werden, existieren und dass der Handlungsbedarf sehr dringend ist. Es ist auch sehr mutig, ungemütliche Themen anzusprechen und sich unbeliebt zu machen. Das zeugt von einer gewissen Verantwortung. Aber was nützen uns diese Gruselgeschichten, wenn von Seiten der Gesellschaft kein Interesse an den betroffenen Minderheiten besteht? Ein ehrliches Interesse an Veränderung könnte diese Menschen unterstützen, in der Gesellschaft anzukommen. Die Welt ist zu einem Dorf zusammen gewachsen, die Türen Europas standen nie so weit offen und die globalen Probleme waren nie so dicht beieinander wie es heutzutage mit einer so großen Mobilität der Fall ist.
Heinz Buschkowsky beschreibt sein Problemviertel Neukölln in Berlin, er macht auf den hohen Migrantenanteil, die Bildungsferne, die Armut, die Kriminalität und vor allem auf die vielen Kinder, die in diesem Umfeld aufwachsen, aufmerksam. Er kritisiert sehr scharf die „sozialromantische Multikulti-Gesellschaft“, die „religiösen Fundamentalismus, archaische Familienriten und eine Parallelgerichtsbarkeit“ gewähren lässt. Er lobt gleichzeitig die wenigen Aufsteiger und verteidigt die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht in unserer Gesellschaft. Er stellt immer wieder klar, dass die Zustände, die er beschreibt, nicht pauschal für alle Migranten gelten, sondern, dass diese insbesondere seinen Bezirk kennzeichnen. Aber durch den Titel „Neukölln ist überall“ denkt der Durchschnittsleser, dessen einzige Erfahrung mit Migranten die Anweisung der ausländischen Putzfrau ist, dass ganz Deutschland betroffen sei und sieht all seine Vorurteile schriftlich durch einen Politiker, der weiß wovon er spricht, bestätigt. Was bringt uns die Angst vor Überfremdung, die einen sachlichen Umgang mit Problemen verhindert?
Heinz Buschkowsky betont immer wieder die Bringschuld der Zugewanderten, die sich an die Gesellschaft anpassen und sich an geltende Regeln halten müssen. Selbstverständlich für Menschen, die eine gewisse Grundbildung erfahren haben, aber wie steht es mit Analphabeten und Menschen der untersten Unterschicht, die ein Leben in Plattenbauten und eine Existenz am Rande der hiesigen Gesellschaft im Vergleich zu ihrem vorherigen Leben als Luxus betrachten? Diese Menschen werden weder aus eigener Kraft noch mit eigenem Willen in unsere Mehrheitsgesellschaft eingegliedert werden. Warum formulieren wir nicht ehrlich und genau, was wir hierzulande nicht wünschen? Warum schimpfen wir immer wieder pauschal über Ausländer, wenn es uns doch um bestimmte Dinge, wie z.B. die Unterdrückung der Frau geht oder um das Tragen einer Burka? Im Rahmen der Familienzusammenführung konnte jeder seinen Ehepartner ins Land holen und leben wie er oder sie wollte. Wir schimpfen über die fatalen Deutschkenntnisse, die erst seit wenigen Jahren Pflicht sind. Warum sollte jemand, der kaum seine Muttersprache beherrscht und ums tägliche Überleben kämpfen muss, freiwillig Deutsch lernen? Ich bin sicher, dass Deutsche in solch „präkeren Lebensverhältnissen“ im Ausland auch die Landessprache nicht lernen würden. Da der Lebens- und Bildungsstandard hierzulande ein ganz anderer ist, können sich viele die Lebenswelt dieser Migranten nicht vorstellen. Wenn die Mehrheitsgesellschaft keine klaren gesetzlichen Ansagen macht, wird jede Familie und Sippe ihren Alltag selbst gestalten, dieses Verhalten ist also normal. Wir müssen Liberalität und Toleranz klar definieren, damit nicht verfassungsfeindliche Strukturen sesshaft werden.
Aber das funktioniert nur, wenn die gesamte Gesellschaft an einem Strang zieht und auch ein ehrliches Interesse an der Teilhabe aller vorhanden ist. Solange wir im Stil einer höfischen Gesellschaft bestimmte Rollen erfüllen und Gleiche unter Gleichen bleiben, kann sich nicht viel verändern, denn der Raum für Veränderung ist nicht in den jeweiligen Ghettos, sondern in der gemeinsamen Gestaltung des Zusammenlebens. Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse war eine riesige Wand nur mit „Neukölln ist überall“ dekoriert, so dass jeder Besucher die Botschaft wahrnehmen konnte. Wieder waren Gleiche unter Gleichen: das die Nase rümpfende deutsche Bildungsbürgertum auf der einen Seite und die ein wenig zu selbstbewussten, stolzen und belesenen Migranten auf der anderen Seite. Jeder hat seine Meinung, die des anderen interessiert ihn nicht.
Wo ist die gemeinsame Basis? Warum sitzen wir nicht an einem Tisch? Weil das Bürgertum nicht mit den Töchtern und Söhnen der Arbeiter und Putzfrauen an einem Tisch sitzen möchte? Oder weil die erfolgreichen Migranten, keine Lust auf Debatten haben, die sie nicht betreffen. Diejenigen, die es betrifft, sind nicht hier. Die einen schimpfen über kriminelle jugendliche Migranten, die anderen über deutsche Senioren, die die neuen, jungen Deutschen als Ausländer bepöbeln, wenn ihnen im Streit die Argumente ausgehen. Dann wären die Fronten ja geklärt!
Auch die vielen Medien haben über dieses Buch berichtet. Es gibt zwei Fraktionen von Kritikern: die einen finden Buschkowsky rassistisch, populistisch und kritisieren seine Widersprüchlichkeit. Die anderen sehen sein Buch als eine „ungeschönte Bestandsaufnahme“, „eine Abrechnung“ und erklären, warum der Bezirksbürgermeister Recht hat. Und wieder sind die Parteien unter sich, Gleiche unter Gleichen, entweder gefallen mir seine Aussagen und ich bin begeistert oder ich hasse ihn, weil mein Migrationshintergrund im Vordergrund ist. Migranten sollten diese Opferhaltung endlich aufgeben, die jede Kritik als Beleidigung sieht. Es geht um die Probleme, nicht um die Personen. Diese emotionalen Beiträge führen die Diskussion ins Unendliche und nützen niemandem. Mein Vorschlag wäre, die Emotionen beiseite zu legen und sich nur den Tatsachen, den Zahlen und den Ereignissen zu widmen. Wenn unterschiedliche Mentalitäten und Lebensstile auf engem Raum zusammenprallen, gibt es Widersprüche, diese banale Tatsache kennt jeder aus seinem eigenen Leben. Das Fremde macht unsicher. Jahrelang wurden Türken und Araber beschimpft, jetzt schimpfen diese Gruppen auf dieselbe Art und Weise in sogenannten „sozialen Brennpunkten“ auf die Roma aus Rumänien und Bulgarien. Es geht also um die Zustände, nicht um die Herkunft.
Buschkowsky beschreibt eine Wohnungspolitik, die ganz deutlich die Spaltung und das Auseinanderdriften der Gesellschaft unterstützt. Er beschreibt, wie erfolgreiche Menschen, seinen Bezirk verlassen und die Randgruppen so immer größer werden. Wenn wir uns langfristig für Gated Communities aussprechen, sollten wir uns in dieser Richtung stark machen. Wir sollten keine Zeit verschwenden mit sinnlosen Diskussionen ohne Ergebnis. Dann bleibt Neukölln wie es ist, nach dem Motto „Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!“ Das Bildungsbürgertum und die Oberschicht (ob Deutsche oder Migranten) verirrt sich sowieso nicht in solche Viertel. Wenn wir solche Strukturen wollen, dann ist es so. Aber wir sollten dies endlich offen und ehrlich sagen. Oder wollen wir nun eine Chancengerechtigkeit und ein Zusammenleben der unterschiedlichen Menschen, wo wir immer wieder Regeln neu verhandeln müssen, denn Gesellschaften ändern sich. Natürlich ist diese Variante unbequem, aber sie ist demokratischer und sie ist die Grundlage für eine bunt gemischte Gesellschaft, die in Frieden zusammen lebt. Ich persönlich sehe das Buch von Heinz Buschkowsky als Hilferuf und bin der Meinung, dass wir die Defizite in unserer Gesellschaft, auch wenn sie am Rande sind, wahrnehmen und aktiv daran arbeiten müssen, diese so gering wie möglich zu halten. Und nicht nur die Sozialarbeiter und Pädagogen unter uns, sondern jeder einzelne. Neukölln darf nicht ausgegrenzt werden und schon gar nicht überall sein! Die Verantwortung dafür tragen wir alle. Aktuell Meinung Rezension
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Frau Cankiran schreibt: Ich bin sicher, dass Deutsche in solch „präkeren Lebensverhältnissen“ im Ausland auch die Landessprache nicht lernen würden.
Das Lernen der Landessprache hängt meines Erachtens von 4 Faktoren ab:
Dem Interesse oder auch der Identifikation mit dem Land, in dem man lebt.
Der Gelegenheit, die neue Sprache anzuwenden.
Der sprachlichen Vorbildung, dazu gehört auch die Fähigkeit, zu lesen.
Der Sprachbegabung
Die USA-Auswanderer waren in der Regel auch Armutsflüchtlinge und damit aus präkären Verhältnissen stammend, aber sie lernten die gemeinsame Landessprache trotdem bald.
Ebenso hatten die Gastarbeiter schlechtere Bedingungen, in ihrer Landessprache weiter zu leben und damit zwangsläufig günstigere Bedingungen, deutsch zu lernen: Sie waren noch wenige, sie waren täglich unter Muttersprachlern und mussten sich auch verständigen können und, ganz wichtig: Fernsehen und Zeitungen gabs zunächst auch nur auf deutsch.
Punkt 3 und 4 sind schicksalhaft, aber die ersten beiden Punkte kann jeder selbst beeinflussen.
@Schwesteringeborg
Ihre Punkte 1 und 2 schließen sich auch aus, denn die Gastarbeiter wurden in Heimen, wie heute die Asybewerber, untergebracht, blieben somit unter sich und hatten kaum Kontakt zu deutschen Mitbürgern. Anschließend bekamen sie auch keine Wohnung in der Mitte der Gesellschaft, außer sie hatten gute Beziehungen zum Chef, der bei der Wohnungssuche vorsprach. Somit wurde die Parallele und Ghettoisierung gefördert. Sicherlich hat das nichts mit dem Willen zu tun sondern mit strategischer Ausgrenzung. Oftmals war es auch der Fall, dass die Gruppe von Gastarbeitern alle zusammen in einem Arbeitsbereich beschäftigt wurden, bis heute, somit auch der sprachliche Erwerb und Kontakt sehr schwer möglich war, weil sie unter sich arbeiteten. Es sollte gearbeitet werden und nicht gequatscht um Deutsch zu lernen, das Anwerbeabkommen war kein Integrationsprogramm sondern eine Art billiger import von Arbeitskräften, der den hiesigen Deutschen zu Gute kam, weil sie damit auch Vorarbeiter oder Meister wurden und aufgestiegen sind. Die Hilfsarbeiter sind nun mal das letzte Glied in der Kette, das war au
Nein, Neukölln ist nicht überall, da gebe ich der Autorin recht. Aber vielleicht will uns Herr Buschkowsky mit seinem Titel mitteilen, dass seine rassistischen Ausführungen überall, weil in der „Mitte der Gesellschaft“, anzutreffen sind. Daher gibt es ja auch viel Applaus von dort, und es fällt der „Mitte der Gesellschaft“ auch sehr schwer, sich mit dem [eigenen] institutionellen und strukturellen Rassismus auseinander zu setzen, sehr schwer. So schwer, dass Akten geschreddert, Videos gelöscht und nur in bestimmte Richtungen ermittelt und gedacht wird. Die Institutionen produzieren weiterhin aktiv alltägliche Diskriminierung. Und diese Strukturen, die sind, leider, überall!
@Fili Buster:…“Buschkowsky mit seinem Titel mitteilen, dass seine rassistischen Ausführungen überall, weil in der “Mitte der Gesellschaft”, anzutreffen …“
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Lie(r) Filibuster,
würden sie uns bitte Ihre Definition von „Rassismus“ mitteilen und vielleicht ggf. auch mal darüber nachsinnen, was mit dem inflationärem Gebrauch dieses Begriffes erreicht werden soll… Danke.
@schwesteringeborg
„Die USA-Auswanderer waren in der Regel auch Armutsflüchtlinge und damit aus präkären Verhältnissen stammend, aber sie lernten die gemeinsame Landessprache trotdem bald.“
Zwar offtopic, aber soviel muss gesagt werden: Deutsche Arbeits- bzw. Wirtschaftsmigranten fanden sich vielfach in gemeinsamen Ansiedlungsräumen zusammen, die das Erlernen der englischen Sprachen nicht nötig werden ließen. Von einem „baldigen“ Lernen des Englischen kann sicherlich keine Rede sein.
Nicht die Tat, sondern die Absicht zählt. Und ich denke Herr Buschkowsky als Bürgermeister mit jahrelangen Nichtstun hat nun gar kein Recht Kapital aus der Misere zu schlagen. Wäre mal schön, wenn Buschk. und co. diejenigen Migranten loben würde, die sich um Bildung kümmern. Es gibt mittlerweile mehr als 10 Privatschulen, die von türkisch-stämmigen Deutschen gegründet worden sind und mehr als 50 Lernzentren.