Kısmet
Zwei Herzen und ein Pass
„Weißt du, es würde mir sicherlich leichter fallen, mich als Deutsche zu fühlen, wenn es nicht immer um entweder oder ginge. Wenn ich mich auch der Türkei verbunden fühlen dürfte und nicht jeder eine Entscheidung haben wollte.“
Von Florian Schrodt Mittwoch, 09.01.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.01.2013, 22:31 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Immer mehr Deutsche wollen die türkische Sprache lernen. Das habe ich neulich in einer großen Zeitung mit vier Buchstaben gelesen. Indikator hierfür sei ein wahrer Boom bei Türkischkursen. Erstaunlich dabei, dass es sich häufig um junge Deutsche ohne Migrationshintergrund handele, die sogar schon erste Sprachkenntnisse hätten.
Umso verwunderlicher scheint für dieselbe Zeitung zu sein, dass türkischstämmige Deutsche auch Deutsch lernen bzw. können. Es geht um Mitri Sirin, den deutschen Hörfunk- und Fernsehmoderator türkisch-syrischer Abstammung (um bei der genauen Herkunft zu bleiben), wie Wikipedia weiß. Über ihn steht in eben dieser Zeitung zu lesen, dass er perfekt Deutsch (und Arabisch) spreche. Für die Redaktion wohl eine außergewöhnliche Leistung für einen Medienmann, der im westfälischen Rheine geboren wurde.
Ob die Nachbarin meines Schwagers für diese Zeitung arbeitet, ist nicht überliefert. Spaß beiseite, sie ist Lehrerin. Dennoch scheint sie ähnlich beeindruckt, ob der Landessprachenkenntnisse türkischstämmiger Deutscher.
Wir gingen Silvester auf die Straße, um dem Feuerwerk beizuwohnen und um unseren bescheidenen Beitrag dazu zu leisten. Plötzlich rückte besagte Nachbarin ganz klandestin näher, schaute uns erstaunt an, schwieg eine Weile, um dann plötzlich hervorzubringen. „Woher könnt ihr denn die deutschen Lieder?“
Uns stand die Sprachlosigkeit ins Gesicht geschrieben (was allerdings nicht auf die schwachen Deutschkenntnisse zurückzuführen ist). Wir hatten zwar auch unsere Gesangskunst in privater Atmosphäre zum Besten gegeben, aber das konnte doch unmöglich über die Straße geschallt haben.
Um die angespannte Stille zu durchbrechen, schob sie nach: „Ich meine an Weihnachten“. Jetzt kam Licht ins Dunkeln. Wir waren ihr an Weihnachten in der Kirche begegnet, als wir die Aufführung meiner Nichte im Kirchenchor besuchten. Hätten wir es uns leicht machen wollen, hätten wir antworten können, weil die Texte auf einem Beamer an die Kirchenwand geworfen wurden. Das hätte allerdings die Frage nach sich ziehen können, woher der türkischstämmige Teil meiner Familie seine Lesefähigkeiten hätte. Ihr wurde es wohl etwas unwohl zumute, sodass sie uns verlegen die Hand entgegenstreckte und hastig ein frohes neues Jahr wünschte.
Mein Schwager wich der Hand aus, packte sie an den Schultern und umarmte sie herzlich, um ihr ebenfalls seine besten Wünsche für das neue Jahr auszusprechen. Von so viel Herzlichkeit beflügelt, ließ sie allmählich ihre Förmlichkeit fallen und erwiderte etwas steif unsere Umarmungen. Die Frage blieb unbeantwortet zurück.
Meine Freundin könnte diese sicherlich leicht beantworten. Sie ist das erste in Deutschland geborene Kind der Familie. In einem katholischen Schwesternkrankenhaus. Sie ist hier zur Schule gegangen, hat hier eine Ausbildung gemacht und ist seit vielen Jahren in diesem Land beruflich tätig. Selbst wenn sie Weihnachten nicht feiern würde, wäre sie sicherlich schon einmal mit den Liedern konfrontiert worden. Davon abgesehen gehört deutsches Liedgut zum Standardrepertoire unserer vielzähligen Reisen, wenn alle Mann (und Frauen) im Familienbus Platz nehmen und „Schön ist es auf der Welt zu sein“ anzustimmen. Für mich sehr gewöhnungsbedürftig. Wie auch meine Tanzeinlage, die ich bei den Silvesterfeierlichkeiten zu türkischem Pop unter Beweis stellen musste. Aber bleiben wir beim Sprechen.
Das Deutsch meiner Freundin ist glasklar, sodass ich sie manchmal sogar darum beneide, wenn sich ein hessischer Akzent in meine Rhetorik schleicht. Das weiß auch die Nachbarin meines Schwagers zu schätzen, die sich von meiner Freundin mit den Worten verabschiedet: „Du sprichst aber gut Deutsch.“ Das hört meine Freundin schon seit Kindestagen. Ihre Eltern haben zwar zumeist Türkisch mit ihr gesprochen, aber dennoch darauf geachtet, dass Deutsch nicht zu kurz kommt. Ohnehin waren sie eher liberal in ihrer Erziehung. Für ihre Mitschüler gab es somit nur eine Schlussfolgerung – du bist Deutsch. Wenn sie sagte, dass sie türkische Eltern habe, wurde das einfach „wohlwollend“ ignoriert, während das Kopftuch tragende Mädchen neben ihr im Bus gehänselt wurde. Darüber hinaus reichten die Lesefertigkeiten meiner Freundin aus, um die Graffitis mit Sprüchen wie „Türken raus“, die es in ihrer Jugend zahlreich an Fassaden zu betrachten gab, zu verstehen. Und die ihr zu verstehen gaben, dass sie nicht dazugehört, zumindest nicht so, wie sie es sich wünschte. Es bleibt auch heute noch immer ein Unwohlsein bei dem Gedanken, sich Deutsch zu fühlen.
Neulich saß unsere neunjährige Nichte bettfertig in ihrem flauschigen Pyjama auf unserer Couch, weil sie bei uns übernachten wollte. Doch statt einem Strahlen, zeichneten Tränen ihr Gesicht. Auch sie wurde tags zuvor in der Schule geärgert. Liegt es daran, dass du türkisch bist, wollte meine Freundin sogleich wissen. Die Kleine verneinte (es hatte wohl eher mit ihrer Schüchternheit zu tun). Bin ich denn Türkin, lautete ihre Gegenfrage. Mir ist das eigentlich egal, muss man sich denn entscheiden, fragte sie weiter. Man soll sich in seiner Heimat wohlfühlen, so meine Antwort. Das tat die Kleine sichtlich beim letzten Fußball-Großevent, als sie bei den deutschen Spielen komplett in Schwarz-Rot-Gold gekleidet war, obwohl sie, wie meine ganze Familie, eher weniger dem Ballsport zugeneigt ist. Diese Begeisterung ist bis heute ungebrochen.
Mit meiner Freundin machte ich einige Jahre zuvor andere Erfahrungen. Als es bei der EM 2008 zum deutsch-türkischen Showdown kam, brachten wir eine andere Nationalität ins Spiel – die Schweiz. Nicht dass wir eine besondere Zuneigung zum damaligen Gastgeberland entwickelten hätten, geschweige denn, dass wir Fahne für unseren Nachbarn bekannt hätten. Wir verhielten uns aber ähnlich neutral, wie es dem Land immer nachgesagt wird. Das heißt, wir einigten uns darauf, unser Auto, das zuvor mit deutschen und türkischen Fahnen bestückt war, zu entkleiden. Erst nach dem Spiel sollten wieder die nationalen Farben hervorgeholt werden.
Nachdem die Deutschen in einem dramatischen Spiel den Sieg errungen hatten, war meine Freundin zunächst etwas enttäuscht, ließ sich aber von der Stimmung mitreißen und begann mit beiden Fahnen in der Hand freudig mitzufeiern. Bis, ja bis eine Cabriofahrerin aus dem vorbeifahrenden Korso sie anraunzte: „Was hast du denn eigentlich zu feiern, leg mal die deutsche Fahne weg und geh nach Hause. In die Türkei.“ Bumm! Das hatte gesessen. Die Stimmung war bei sommerlichen Temperaturen abrupt auf unter null gefallen.
Auch heute kann sie sich darüber noch ärgern. Als sie kürzlich abends im Bett über ihr ambivalentes Innenleben sinnierte, schaute sich mich mit ihren großen braunen Augen an und meinte: „Weißt du, es würde mir sicherlich leichter fallen, mich als Deutsche zu fühlen, wenn es nicht immer um entweder oder ginge. Wenn ich mich auch der Türkei verbunden fühlen dürfte und nicht jeder eine Entscheidung haben wollte.“ Die hat sie vor einiger Zeit für den deutschen Pass getroffen.
Hier wurde ihr fast ihre Herkunft zum Verhängnis. Im katholischen Schwesternkrankenhaus wurde ihr Name in der Geburtsurkunde falsch geschrieben, sodass die türkischen Behörden Schwierigkeiten bei der Aufhebung ihrer Staatsangehörigkeit machten. Erst eine Mitarbeiterin des Regierungspräsidiums konnte eine Lösung herbeiführen. Dennoch: Zwei Herzen schlagen in ihrer Brust. Am liebsten hätte sie auch zwei Pässe in ihrer Tasche. Mein Schwager (um es aufzuklären: der Mann der Schwester meiner Freundin) hat hierzu eine gelassenere Einstellung.
Als wir meine Nichte von der Übernachtung zurückbringen und ihm von ihrer salomonischen Aussage bezüglich ihrer Nationalität erzählen (die Hänselei haben wir erst mal verschwiegen), kokettiert er grinsend mit seinem deutschen Pass. Obwohl er es bei seiner Ankunft aus Istanbul vor 15 Jahren alles andere als leicht hatte (das ist eine andere Geschichte). Auch auf seinen zu hundert Prozent bestandenes Deutschzertifikat legt er großen Wert.
Wir haben unser Diskussionsthema für den Abend gefunden. Dies ändert sich auch nicht, als wir zum Abendbrot bei meinen Schwiegereltern eintreffen. Es geht weiterhin um die Passproblematik meiner Freundin und die Frage, welchem Land man sich wie zugehörig fühlt. Baba holt wieder einmal aus und erinnert sich, wie er seine Neugeborene zum ersten Mal im Krankenhaus sah. Wir alle lachen. „Eigentlich kannst du froh sein, dass ich dich mitgenommen habe“, beschließt er seine Anekdote. Entgegen aller Beschwichtigungen der Krankenhausmitarbeiter befand er seine Tochter für zu hässlich. Anne ist verärgert, sodass sie sogar zu einem Wortspiel ansetzt, was nicht üblich ist. „Es kann nicht jeder ein fettes…(sie sucht nach dem richtigen Wort) …Ereignis…sein wie Du“, kontert sie, darauf anspielend, dass ihn bei seiner Geburt viele Leute wegen seiner riesigen Größe sehen wollten. Darauf kann nicht mal er etwas erwidern.
Mit tiefen Falten in der Stirn sitzt er nachdenklich in seinem Stuhl. Er grübelt. Er hebt den Zeigefinger und richtet sich auf. „Hier ist unser zu Hause“, sagt er. „Aber wir, Anne und ich, sind Türken. In Zukunft werden die Kinder meiner Kinder und deren Kinder aber zu Deutschland Vaterland sagen“. Anne, die bedächtig im Schneidersitz ihrem Gatten lauscht, während alle anderen vor Hunger nur halbwegs zuhören, nickt voller Zustimmung. „Türkei ist dann Mutterland“, fügt er schelmisch hinzu (das ist im Türkischen gleichzusetzen mit dem deutschen Begriff Vaterland). Anne erkennt die Doppeldeutigkeit, die ihr zu neckisch erscheint, sodass sie nachschiebt: „Hauptsache glücklich.“ Inşallah! Aktuell Meinung
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