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Theater

Wie viele Erfolgs-Kanacken verträgt das Land?

Das Theaterstück „Verrücktes Blut“ zeigt mit dem Finger auf soziale Benachteiligungen und ist gleichzeitig ein Appell an Migranten, als auch an die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, eingefahrene Einstellungen und Sichtweisen zu überdenken.

Von Hakan Karakaya Freitag, 15.02.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 19.02.2013, 15:38 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

„Ich bin zwar nicht deiner Meinung, aber ich würde mein Leben dafür geben, damit du sie frei äußern kannst!“. Mit einer unglaublichen Ehrlichkeit und dem geschickten Umgang mit Klischees, feierte das Berliner Erfolgsstück „Verrücktes Blut“ von Nurkan Erpulat und Jens Hillje im Theaterhaus Stuttgart am 15. Januar 2013 eine weitere glanzvolle Darbietung. Das Stück wird seit dem 12.Oktober 2012 vom nomad theatre ensemble unter Regie von Daniel Klumpp aufgeführt.

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Der Theaterunterricht beginnt und die Lehrerin, gespielt von Elif Veyisoğlu, verkündet das Thema des Projekttages. Es geht um Schillers erstes veröffentlichtes Drama „Die Räuber“ und um „Kabale und Liebe“ aus der Epoche des Sturm und Drang. Die sieben Schüler mit überwiegendem Migrationshintergrund ignorieren die Lehrerin dabei völlig und Streitigkeiten entfachen. Als der Lehrerin Frau Kelich bei einer Auseinandersetzung um den Inhalt der Tasche eines Schülers eine geladene Waffe in die Hand fällt, spitzt sich die Lage dramatisch zu. Im Gefecht um die Waffe löst sich ein Schuss, der den Schüler an der Hand verletzt. Panik bricht aus und die Lehrerin verliert die Nerven. Unter Waffengewalt zwingt Sie alle Schüler, sich flach auf den Boden zu legen und macht mit einem unmissverständlichen „Ihr haltet jetzt einmal eure Fresse!“ klar, dass sie es ernst meint. Mit der nun eingekehrten Ruhe fährt sie paradoxerweise mit Schillers Idee von ästhetischer Erziehung fort. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ daher werden auch die Schüler nach und nach auf die Bühne gezwungen, um Szenen aus Schillers Stücken zu spielen.

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Dem Zuschauer bietet sich ein groteskes Bild aus Jugendlichen, die der deutschen Sprache kaum mächtig sind und dabei unter Todesangst verzweifelt versuchen, Karl Moor und seinen Bruder Franz sowie Ferdinand und Luise auf die Bühne zu transportieren. Dabei wird jeder rebellische Eingriff der Schüler durch die hysterische Lehrerin gnadenlos unterbunden. Schnell werden den Schülern die Parallelen zwischen Schillers Stücken und den Problemen der heutigen Gesellschaft klar. Gestörte Verhältnisse zu Vätern werden ebenso diskutiert, wie frauenfeindliche Machos, Gewaltausbrüche und Kopftuch tragende, scheinbar unterdrückte Mädchen. Sie lernen, dass sie was aus Ihrem Leben machen müssen, damit die Bemühungen ihrer Eltern in Deutschland ein besseres Leben aufzubauen einen Sinn hat. Doch wie viele Erfolgs-Kanacken verträgt das Land? Dies ist gleichzeitig ein Hilfeschrei in einem schalldichten Raum. „Was wird aus mir, wenn das hier zu Ende ist?“. Das Theaterstück „Verrücktes Blut“ zeigt mit dem Finger auf soziale Benachteiligungen und ist gleichzeitig ein Appell an Migranten, als auch an die Mehrheitsgesellschaft in Deutschland, eingefahrene Einstellungen und Sichtweisen zu überdenken.

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Info: Die nächsten Spieltermine finden am 25.03.2013 und am 26.03.2013 im Theaterhaus Stuttgart statt.

Die Darsteller, die sämtliche Klischees über Migranten unverblümt bedienen, spielen ihre Rolle dabei sehr authentisch und überzeugend, mit vielen witzigen aber auch gefühlvollen Momenten. Insbesondere Elif Veyisoğlu lebt die Rolle der Lehrerin auf der Bühne und überträgt jede Emotion auf den Punkt, wodurch sie die Zuschauer in ihren Bann zieht. Die Glaubhaftigkeit dieses Stücks entsteht aber auch daraus, dass fast jeder einzelne Schauspieler aus seinem eigenen Erfahrungsschatz seines Migranten-Daseins schöpfen kann. Mit einer spürbaren Freiheit ziehen die Schauspieler in die Szenen und dekonstruieren die Gedankenmuster und Bilder, bezogen auf das Thema Migrantenjugend, die sich bis dahin in den Köpfen der Zuschauer gefestigt hatten.

Durch die Konzentration auf das Wesentliche beim Bühnenbild, öffnet Daniel Klumpp dem Zuschauer außerdem einen spannenden Raum, in dem sich das Publikum voll und ganz der Geschichte hingeben kann.

Mit „Verrücktes Blut“ ist dem Regisseur Daniel Klumpp und seinem Ensemble ein unglaublich spannendes und kurzweiliges Stück gelungen, dass sehr zu empfehlen ist. Aktuell Feuilleton

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  1. Görgülü sagt:

    Zitat:

    „NORA ABDEL-MAKSOUD: Man bekommt von den Publikumsreaktionen viel mit auf der Bühne. Es gibt ja zum Beispiel die Szene, in der meine Figur plötzlich ihr Kopftuch abnimmt – das thematisiert ganz klar diesen Blick, diesen Wunsch, dass das vermeintlich unmündige Kopftuchmädchen endlich ihr „Drecks-Tuch“ runterreißt, und dann fahren 70 Jahre Emanzipationsgeschichte durch ihren Körper! Wo ich mir auch gar nicht so sicher bin, ob das bürgerliche Publikum das mehrheitlich versteht.“

    http://www.tagesspiegel.de/kultur/verruecktes-blut-im-ballhaus-naunynstrasse-mensch-das-ist-ja-besser-als-hollywood/4157030.html

    Ein ausführliches Interview mit den Machern und Protagonisten des Stücks, das die Rezension von Hakan Karakaya doch etwas relativiert.

  2. Aysun K. sagt:

    Bitte erklären sie warum diese Rezension der Stuttgarter Version des Stückes mit Ihrem Artikel über die Berliner Version relativiert wird?
    Würde mich sehr interessieren.

  3. Pingback: Der renk.ing Faktor | MiGAZIN