Kısmet
Alarmstufe Rot
Unter all den bunten Ballons fällt Annes hochroter Kopf gar nicht allzu sehr auf. Wer sie kennt, weiß, dass sie aufgeregt ist. Eigentlich sollte sie in Feierstimmung sein. Eigentlich. Doch sie ist in Sorge.
Von Florian Schrodt Mittwoch, 06.03.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 12.03.2013, 0:04 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Keine guten Nachrichten. Baba ist wieder einmal im Krankenhaus. Ihn hat die Grippe erwischt, was bei seinem schweren Asthma einer kleinen Katastrophe gleichkommt – trotz häuslicher Quarantänemaßnahmen, die er bereitwillig akzeptiert hat, um sich grübelnd seinen Büchern und Fernsehen zu widmen. Vielleicht kam es ihm sogar sehr gelegen, seinen Sessel nicht verlassen zu dürfen. Das gilt nun zunächst einmal für sein Krankenhausbett.
Dabei hat er Heimweh. Aus gutem Grund: Ähnlich katastrophal wie sein Husten, ist die Stimmung bei seinen Bettnachbarn. Wieder einmal ein Dreibettzimmer, das er bislang immer inklusive guter Stimmung gebucht hatte. Zumindest ab seiner Ankunft. Das hat auch schon anderen Patienten ein Lächeln im Gesicht gezaubert. Diesmal bleiben die Mienen eisern. Zumindest bei der Gattin eines Patienten.
Getrübt ist dadurch natürlich die familiäre Feierstimmung. Eigentlich hätte es eine Festwoche werden sollen. Mein Schwager sowie meine Mutter haben Geburtstag. Der Start ins neue Lebensjahr war insbesondere für meinen Schwager durchwachsen, da er mit einer Fahrt ins Krankenhaus begann. Gegen Abend haben sich dennoch alle versammelt und versuchen das Festmahl des Abends zu genießen. Die sagenhaften Pohça 1 sorgten schon mal für einen guten Appetit. Aber es bleibt dabei. Baba fehlt. Und nicht nur er. Annes geistige Präsenz irgendwie auch. Ihre Sorge treibt ihren Kreislauf und damit einhergehend ihre Gesichtsfarbe in schwindelerregende Ausmaße. Wenn sie ihren Mann nicht bei sich weiß, fühlt sie sich eben nicht wohl. Wir müssen sie ablenken.
Mein Schwager wirft die Stereoanlange an und bittet zum Tanz. Aus den Lautsprechern wummern Discohits. Selbst meine Mutter schwingt das Tanzbein. Mit dem Hüftschwung südlicher Eleganz, den mein Schwager beherrscht, kann sich allerdings niemand messen. Nach zwei Stunden sind alle fix und fertig. Der Tag war lang und erlebnisreich, Ruhe ist angesagt. Was kann beruhigender sein als stille Post? Im Laufe des Spiels entwickeln sich ganz eigene Regeln. Es geht nur noch darum herauszufinden, wer wohl den größten Fehler bei der Übertragung in der Runde gemacht hat. Manchmal erledigte sich das von alleine, da Anne immer wieder einen Satz laut ausspricht, um nachzufragen. Wir biegen uns vor lachen. Zu meiner Schande muss ich gestehen, das mir die größten Brüller entfallen sind. Die Reaktion meiner Freundin hingegen ist mir in bester Erinnerung. Sie ruft schelmisch immer wieder zu ihrer Mutter: „Du bist der Ausländer!“ Anne entgegnet ihr energisch: „Nein, ich bin sogar länger hier als du.“ Sie nimmt zu viel zu ernst. Der Lachpegel steigt umso mehr an. Langsam kann ich dieses Amüsement über ambivalente nationale Identitäten bzw. nationale Zwangsclusterungen absolut nachvollziehen. Wenn man darüber nicht lachen würde, müsste man weinen.
Mein Schwager (der selbst erst vor 15 Jahren nach Deutschland kam) zückt sein Handy (als Pointenhilfe, weil er diese nicht versauen will) und will noch einen draufsetzen: Er habe etwas von seinem Kumpel Ibrahim geschickt bekommen. „Warum ist E.T. sympathischer als ein Türke, will er wissen: 1.Er kam alleine. 2. Er hatte sein eigenes Fahrrad. 3. Er lernte unsere Sprache. 4. Er wollte wieder nach Hause.“ Wer schon so oft dämliche Klischees gehört hat, kann nur noch darüber schmunzeln. Anne versteht bei solchen Fragen nach wie vor keinen Spaß und insistiert, dass sie sehr wohl die Sprache könne und nie gestohlen habe. Sehr goldig, dass sie sich rechtfertigen will. Wir müssen sie einfach in den Arm nehmen. Sie merkt, dass sie sich gar nicht verteidigen muss und lässt den Spaß sacken, um letztlich ob ihrer vermeintlichen Überreaktion herzlich zu schmunzeln. Und rot zu werden.
Der nächste Tag beginnt mit einem Besuch im Krankenhaus in fast voller Familienstärke. Wie üblich, versuchen wir im angemessenen Rahmen die Stimmung aufzuheitern, um Babas Sehnsucht nach seinem gemütlichen Zuhause zu mindern. In der Regel ist diese Freude ansteckend. Diesmal prallt sie von der versteinerten Miene der Frau des Bettnachbarn ab. Als die Pfleger uns während der Waschphase rausbitten, kommt die Dame zu meiner Freundin hinüber und möchte ihr die eigene Stimmungslage und Verhaltensweise oktroyieren.
Wieder zurück im Zimmer verplappert sich Anne bei Baba und erzählt das Erlebte gerade heraus. Wir wollten ihn davon eigentlich verschonen. Jetzt hat er die Gelegenheit, seiner schlechten Laune freien Lauf zu lassen. Er motzt meine Freundin an, warum sie sich das Gefallen ließe. Sie sei eine starke Frau und Persönlichkeit und müsse sich nicht maßregeln lassen. Dazu holt er weit aus und beginnt ganz am Anfang. Nämlich bei Adam und Eva. Und versucht eine anthropologische Argumentationskette zur Rolle der Frau aufzubauen. Ich kann ihm nicht ganz folgen, bei einem seiner Lieblingszitate bin ich wieder da: „Männer regieren zwar die Welt. Aber was wären sie ohne ihre Frauen?“ Seine Polterei ist wie ein reinigendes Gewitter, die Gattin des Bettnachbarn verhält sich zu ihm in der Folgezeit tadellos, fast fürsorglich. Dafür mussten die Nerven bei den anderen Familienmitgliedern erst mal blank liegen. Rote Köpfe im Kollektiv.
Meine Freundin braucht zur Beruhigung der Nerven erst einmal einen Schnaps. Da kommt der Geburtstag meiner Mutter sehr gelegen. Mein Onkel freut sich schon. Er trinkt ganz gerne mal einen mit dem „kleinen Kümmeltürken“, wie er sich selbst nennt. Şerefe! 2 Geçmiş olsun 3 Baba. Anne, die in strikter Abstinenz lebt und daher auch nicht Babas Tröpfchenration (mehr ist es im Ernst nicht) zur Feier des Tages stellvertretend nippen will, bekommt anderweitig Ablenkung.
Mit den älteren Semestern meiner Familie verfällt sie in allgemeiner Erinnerung an die alte Republik. Über die vergangenen 50 Jahre wird in nostalgischen Anekdoten geschwelgt. Wie anders doch alles war. Als Fußball beginnt, nutzt der türkische Teil meiner Familie die Gunst der Stunde zum Abschied. Ein schöner, weil geselliger und versöhnlicher Abend neigt sich dem Ende zu. Und der nächste Tag sollte ebenso schön beginnen. Denn Babas Entlassung wird angekündigt.
Das ist nun eineinhalb Tage her. Das MiGAZIN muss mit Fertigstellung der letzten Zeilen leider warten, wir müssen dringend zu Baba, meine Freundin treibt mich an, um Gözun aydın zu wünschen. Das hat Priorität. Nach dem Handkuss grinst mich Baba lausbübisch an. Er sagt: „Wenn Anne sich jetzt noch etwas Hübsches anzieht, bin ich überglücklich.“ Ich weiß, auf welchen Witz er anspielt. „Temel liegt in Erwartung des nahenden Todes auf dem Sterbebett. Seine Frau will ihm einen letzten Wunsch erfüllen. Temel bittet sie, sich herauszuputzen. Sie erfüllt ihm dies, will aber wissen, warum. Temel sagt: Wenn der Tod kommt, dann nimmt er vielleicht dich anstatt meiner, weil du so hübsch bist.“ Ich schütte mich aus vor Lachen. Anne ist feuerlöscherrot. Und hat passend dazu fast Schaum vor dem Mund. Statt eines Hiebs bekommt Baba jedoch eine Umarmung. Die Erleichterung, dass er wieder zu Hause ist, überwiegt. Wir schlingen die Arme um die beiden. Gruppenkuscheln. Gözün aydın (Mögen sie viel Freude erleben!).
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