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Der „Fall Yunus“: Kulturkampf, Medienhetze und erschreckende Fakten
Seit einigen Wochen erregt das Schicksal des 9-jährigen Yunus die Gemüter in den Niederlanden sowie der Türkei: Nachdem das Jugendamt Haaglanden den Jungen im Jahre 2004 von seinen biologischen, türkischstämmigen Eltern getrennt hatte, wurde er bei einem lesbischen Paar untergebracht. Inzwischen handelt es sich um einen Fall, der viele Facetten und einen großen Verlierer kennt: Yunus.
Von André Krause Mittwoch, 27.03.2013, 8:27 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 02.04.2013, 7:15 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Es geschah im Dezember 2004: Das Baby Yunus wurde mit einem gebrochenen Arm und einer Schwellung am Kopf ins Krankenhaus eingeliefert. Während die Kindesmutter behauptete, gefallen zu sein, vermuteten die Ärzte, mit den Folgen einer schweren Misshandlung konfrontiert zu sein.
Zudem behauptete der Jugendschutzrat, dass das älteste Kind der Familie zuvor wegen einer vermeintlich falschen Medikamentenverabreichung ins Koma gefallen war. Das Jugendamt sprach der Mutter vor diesem Hintergrund letztendlich die Fähigkeit ab, ihre insgesamt drei Kinder adäquat erziehen zu können. Folge: Yunus und seine Geschwister mussten ihr Elternhaus zunächst einmal für ein Jahr verlassen. Fortan kümmerten sich Pflegefamilien um die angeblich misshandelten bzw. vernachlässigten Kinder. Yunus wuchs bei einem lesbischen Paar auf.
Allerdings ist der Fall nicht so eindeutig, wie er auf dem ersten Blick ausschaut: Ein Radiologe stellte zu einem späteren Zeitpunkt fest, dass es bei Yunus keinerlei Hinweise auf eine Misshandlung gäbe. Doch damit nicht genug: Auch das älteste Kind der Familie soll weder im Koma gelegen noch Medikamente falsch verabreicht bekommen haben. Die Mutter gab überdies an, zum Zeitpunkt der vermeintlichen Misshandlung selbst unter allerlei familiären Problemen gelitten zu haben: Yunus’ Zwillingsbruder war kurz vorher verstorben und ihr Mann hatte sich von ihr getrennt. Deshalb sprach sie sich selbst zeitweilig die Fähigkeit ab, ihre (verbliebenen) Kinder zu versorgen. Ein Schritt, der objektiv betrachtet für ein gesundes Maß an Einsicht und Verantwortungsbewusstsein spricht.
Nach einer Weile fanden Yunus’ Eltern jedoch wieder zueinander. Die Situation entspannte sich, da es ihnen darüber hinaus gelang, ein Netzwerk aufzubauen, das ihnen bei der Erziehung helfen konnte. Daher verfügte ein Richter, dass die Kinder zu ihrer Familie zurückkehren dürften. Allerdings wurde dieses Urteil aus unerklärlichen Gründen ignoriert. Stattdessen sollte eine neue Untersuchung über die Situation der biologischen Eltern durchgeführt werden. Auch wenn es unglaublich klingt: Diese Untersuchung fand niemals statt.
Im Anschluss verschlechterte sich das Verhältnis zwischen dem Jugendamt und den Eltern. Letztere waren nicht mehr bereit, zu kooperieren. Darüber hinaus brachen innerhalb der Familie laut Jugendamt angeblich neue Konflikte aus. Schlussendlich erfolgte im Jahre 2012 das bis zum heutigen Tage gültige Urteil, welches Yunus’ Eltern die Fähigkeit abspricht, ihre Aufgaben als Erzieher zu erfüllen.
Kurzum: Es ist viel schief gelaufen.
Yunus’ Mutter sah offenkundig am Ende nur einen Ausweg: In einem emotionalen Aufruf wandte sie sich an den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er möge sich im Rahmen seines anstehenden Staatsbesuches in den Niederlanden am 21. März 2013 für sie einsetzen. Yunus’ Mutter wies bei ihrem Appell des Weiteren auf den Umstand, dass die Pflegeeltern ihres Sohnes lesbisch seien.
Insbesondere dieser Aspekt rückte in der Folge in den Fokus der niederländischen und türkischen Medien. In beiden Ländern wuchs die Aufmerksamkeit für den „Fall Yunus“ beständig. In der Türkei hieß es unter anderem, dass westeuropäische Länder generell dazu tendierten, muslimische Kinder allzu rasch in christlichen Pflegefamilien unterzubringen. Die lesbischen Pflegeltern des 9-jährigen Jungen tauchten mit ihrem Schützling aus Sicherheitsgründen sogar unter, nachdem das türkische Fernsehen ihre Gesichter einem Millionenpublikum kenntlich gezeigt hatte.
Viele niederländische Medien skizzierten die Vorkommnisse als einen (weiteren) Zusammenstoß zwischen traditionellen türkischen Werten und modernen niederländischen Einstellungen. Mit anderen Worten: Eine Neuauflage des Kulturkampfes, der seit dem 11. September 2001 die Meinungsspalten westlicher Zeitungen bzw. Zeitschriften regelmäßig beherrscht.
Auch der Staatsbesuch Erdogans stand im Zeichen des „Falles Yunus“: Auf einer Pressekonferenz missbilligte der türkische Ministerpräsident die Unterbringung eines türkischstämmigen Jungen bei einem lesbischen Paar. Dies sei mit den Normen und Werten seines Landes nicht vereinbar. Erdogan sprach die Hoffnung aus, dass Yunus bald wieder mit seinen biologischen Eltern vereint werde. Zudem meinte er, das türkische Familienministerium und das niederländische Justizministerium müssten sich ab sofort bei vergleichbaren Fällen austauschen, „um diese Art von Problemen in der Zukunft zu verhindern“.
Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte verwarf jedoch den Vorschlag seines türkischen Amtskollegen. Die Türkei habe sich nicht einzumischen. Weder die Religion noch die sexuellen Präferenzen der Pflegeeltern dürften bei der Beschlussfassung des Jugendamtes eine Rolle spielen. Es müsste einzig und allein um das Wohl des Kindes gehen. Rutte wies außerdem auf den Umstand, dass es in den Niederlanden gegenwärtig zu wenige muslimische Pflegefamilien gäbe. Daher müssten Moslems zwangsläufig bei Christen untergebracht werden.
Was bleibt zum bisweilen äußerst irritierenden „Fall Yunus“ zu sagen?
Es ist prinzipiell nicht hinnehmbar, dass sich die Türkei mit innerniederländischen Angelegenheiten befasst. Yunus ist in den Niederlanden geboren und demnach Niederländer.
Es ist zudem nicht hinnehmbar, dass die sexuellen Präferenzen von Pflegeeltern bei der Zuweisung eines Kindes mitgewogen werden. Ein lesbisches Paar ist grundsätzlich ebenso wie ein heterosexuelles Paar dazu in der Lage, ein Kind mit viel Fürsorge, Liebe und Engagement zu erziehen.
Auch die Religion der Pflegeeltern darf in einem säkularen, liberalen Rechtsstaat selbstverständlich nicht im Mittelpunkt der Erwägungen stehen. Freilich ist die Unterbringung eines muslimischen Kindes in eine muslimische Pflegefamilie aus praktischen Gründen zu bevorzugen, sofern diese ebenso geeignet ist wie eine christliche, jüdische oder atheistische Pflegefamilie.
Dennoch ist die Einmischung der Türkei im „Fall Yunus“ wenigstens ein Stück weit nachvollziehbar, da das niederländische Jugendamt in der Tat schwerwiegende Fehler zu Ungunsten der türkischstämmigen Familie des 9-jährigen Jungen begangen hat.
Und darum müsste es in der öffentlichen Debatte in erster Linie gehen. Das Versagen zahlreicher Instanzen hat nichts mit einem Kulturkampf zu tun. Wohl aber darf die Frage erlaubt sein, ob der ethnische bzw. religiöse Hintergrund von Yunus’ Eltern möglicherweise – zumindest unterschwellig – eine signifikante Rolle gespielt hat. Zur Erinnerung: Unmittelbar vor der vermeintlichen Misshandlung ist der Regisseur Theo van Gogh von einem radikalen Islamisten ermordet worden. Mit anderen Worten: Wäre eine autochthone Familie im Jahre 2004 (und danach) auch SO behandelt worden?
Zudem sollte in den nächsten Wochen die Berichterstattung einiger Medien in der Türkei und den Niederlanden kritisch hinterfragt werden. Yunus’ Wohl stand in beiden Ländern nicht im Vordergrund. Stattdessen regierte einmal mehr die (aus kommerziellem Blickwinkel verständliche) Jagd nach hohen Einschaltquoten und Absatzzahlen. Gerade wenn es um das Schicksal eines Kindes geht, sind die Medien nach „normalen“ menschlichen Maßstäben allerdings verpflichtet, vorsichtiger bzw. zurückhaltender zu Werke zu gehen. DAS ist wahrhaftig eine Kulturfrage. Aktuell Meinung
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