Bades Meinung
„Willkommenskultur“. Ein aktueller Beitrag zum Märchen „Des Kaisers neue Kleider“?
Alle reden plötzlich von „Willkommenskultur“. Das gilt selbst für Politiker, deren Parteien sich jahrzehntelang, insbesondere zu Wahlkampfzeiten, überboten haben mit schrillen und in den Köpfen der Menschen bis heute fremdenfeindlich nachklingenden Warnungen vor Zuwanderung.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Montag, 08.04.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 12.04.2013, 0:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Von bedrohlichen „Masseninvasionen“, von „Überflutungen“ und von „ungesteuerter Zuwanderung“ war da die Rede. Und Abwehrbereitschaft wurde beschworen gegenüber den andrängenden „Sozialschmarotzern“ aller Länder, die es angeblich abgesehen hatten auf das vermeintliche Paradies in der Mitte Europas. Und heute „Willkommenskultur“? Schauen wir genauer hin:
„Willkommen“
„Willkommenskultur“ kann man im Zusammenhang von Migrations- und Integrationspolitik am Wortanfang und am Wortende betonen:
Bei der Betonung auf „Willkommen“ geht es heute um den utilitaristischen Versuch, diejenigen Zuwanderer als Einwanderer auf Dauer zu bekommen , die man zu brauchen glaubt, um den wachsenden Druck des demographischen Wandels auf Arbeitsmarkt und Sozialsysteme noch etwas abzufedern und dadurch Zeit zu gewinnen für die längst überfälligen Sozialreformen. Das läuft ziemlich gut, von den nur zögerlich angegangenen Reformen abgesehen. Aber das hat weniger mit der deutschen „Willkommenskultur“ als mit der Misere in den Herkunftsländern der neuen Zuwanderer zu tun. „Wirtschaftsflüchtlinge“ hat man die Menschen noch bis vor kurzem verächtlich genannt, die heute „willkommen“ geheißen werden sollen. Auch diese fremdenfeindliche Redensart hallt noch in vielen Köpfen nach, auch wenn nun politisch ein neues Lied gesungen wird. Politik vergisst zu oft, daß sich denunziative Argumente verselbständigen und, zu Denkstrukturen geronnen, ein langes Eigenleben führen können, auch wenn ihre Schöpfer längst ihre Position geändert haben.
Außerdem gibt es noch viel zu tun; denn von den wenigen „Welcome Centers“ abgesehen, ist die Willkommensbotschaft bei vielen Behörden nach wie vor nicht angekommen, trotz aller Appelle, Behördentagungen und Crash Kurse, an denen Mediatoren gut verdienen. Ausgerechnet die Höchstqualifizierten, insbesondere die internationalen Studierenden, die die „ideale Einwanderer“ wären, klagen, wie eine Umfrage des Forschungsbereichs beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) zeigte, gerade bei deutschen Behörden nicht nur über mangelnde Informationsfreudigkeit, sondern sogar über ein regelrecht abschreckendes Verhalten. Und selbst wenn das Willkommensevangelium dort ankommen würde, wäre damit erst Willkommenstechnik bei Behörden erreicht, aber noch nicht Willkommenskultur im Land.
„Kultur“
Bei der Betonung auf „Kultur“ ergibt sich nach wie vor eine vielfach negative Bilanz. Hier erinnert das vollmundige Gerede von der „Willkommenskultur“ in einiger Hinsicht an das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“. Denn zu „Kultur“ gehört mehr als die freundliche Begrüßung neuer Gäste. Sie werden bald entdecken, was außer den netten Gesten noch so alles unter den durchsichtigen Kleidern liegt: expandierende neo-nationalsozialistische No-Go-Areas mit Alltagsterrorismus gegenüber „Ausländern“ oder andersdenkenden „Gemeinschaftsfremden“, eine zwar schrumpfende, dafür aber umso aggressivere fremdenfeindliche, insbesondere islamfeindliche Szene und eine grassierende islamfeindliche Volksverhetzung im Internet.
Klar bleibt dennoch: Integration in Deutschland gelingt. Sie ist, wie es schon im ersten Jahresgutachten des Sachverständigenrats im Jahr 2010 hieß, viel besser als ihr Ruf im Land, auch im internationalen Vergleich. Das war natürlich relativ gemeint, nämlich gemessen an den oft miserablen Bedingungen, unter denen sie sich entfalten musste. Und die in den Medien skandalisierten Ausnahmen bestätigten in Wahrheit nur die Regel. Das zeigten auch die späteren Integrationsbarometer des SVR. Sie fragten aber nicht nach dem Verhältnis der Deutschen zum Islam und zu Muslimen. Und hier liegen die Deutschen im europäischen Vergleich heute in der düsteren Spitzengruppe der modernen Kreuzritter. So betrachtet funktioniert Integration in Deutschland zwar gut, aber – wie Naika Foroutan einmal treffend gesagt hat – „minus Muslime“. Und die stellen mehr als vier Millionen Menschen in diesem Land, von denen fast zwei Millionen deutsche Staatsbürger sind.
Aus populistischen Gründen
Das ist und bleibt ein Skandal, der die Gesellschaft spaltet und den Politik nach wie vor nicht zur Kenntnis nimmt – aus populistischen Gründen; denn man will ja im Herbst wieder gewählt werden, notfalls auch von Islamhetzern und ihren Anhängern in der sogenannten Mitte der Gesellschaft. Deswegen will man es sich wohl auch mit vielgelesenen Weblog-Hetzwerken wie dem islamfeindlichen Hardcore-Pranger „Politically Incorrect“ (PI) lieber nicht ganz verderben. Er wird nach wie vor nicht beobachtet von jenem „Verfassungsschutz“, der sich in der mörderischen antiislamischen NSU-Affäre bis auf die Knochen blamiert hat und dem Vernehmen nach kulturrassistische Islamfeinde in seinen eigenen Reihen hat.
Gelebte Willkommenskultur muß also mehr sein als eine nette Verbindung von attraktiver Außenwerbung freundlichen Begrüßungsritualen am Hauseingang; denn das wäre nichts anderes als jene utilitarische Willkommenstechnik, wie sie von teuren PR-Agenturen entwickelt wird.
Des Kaisers neue Kleider
Im Gegensatz dazu muß Willkommenskultur auch das Innenleben im Haus verändern, also den Umgang mit schon über Generationen hinweg im Land lebenden Einwanderern – auch wenn sie z.B. aus muslimischen Familien mit türkischem Migrationshintergrund stammen. Gäbe es schon diese gelebte Willkommenskultur im Innern und nicht nur Willkommenstechnik in der plakativen Außenwerbung und am Hauseingang, dann würden sicher nicht so viele hier ausgebildete Hochqualifizierte mit türkischem Migrationshintergrund in die Heimat ihrer Eltern abwandern; denn sie werden wegen ihrer schon am Namen ablesbaren Herkunft bei der Jobsuche klar benachteiligt. Dies war ein Ergebnis zahlreicher Erhebungen, das sogar peinliche Fluchtwege wie die anonyme Bewerbung motiviert hat. Der Weg zur gelebten Willkommenskultur ist also noch weit. Solange er nicht zügiger beschritten wird, bleibt „Willkommenskultur“ bereichsweise aktueller Beitrag zum Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Leitartikel Meinung
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Wer hier aufgrund diskriminierender Zustände keine Arbeit erhält, obwohl er gut ausgebildet ist, wird sich zweifellos nicht willkommen fühlen. Wer von der Gesellschaft ständig attackiert wird, weil Menschen des Kulturkreises, aus dem er stammt, angeblich eine Gefahr für den Sozialstaat und die Deutschen sind, (Deutschland stirbt aus), wird sich noch weniger willkommen fühlen. Wer mit erleben muss, wie Menschen, die aus seinem Kulturkreis stammen, von rassistischen Mörderbanden ermordet werden, aus dem einzigen Grunde, WEIL sie aus dem angefeindeten Kulturkreis stammen und wie deutsche Behörden hier nicht nur komplett versagen, sondern die Täter 10 Jahre lang geradezu decken, der wird sich noch viel weniger willkommen fühlen. Wer ständig von der Mehrheitsgesellschaft attackiert wird, weil er sich angeblich nicht richtig „integriert“, der wird sich in diesem Lande nicht willkommen fühlen. Wer erlebt hat, wie eine aufgewiegelte Menge Beifall klatscht, wenn Gebäude brennen, in denen Menschen nicht-deutscher Ethnie leben, wer die wütenden „Bürgerproteste“ gegen Wohnheime für traumatisierte Menschen, gegen die Ärmsten der Armen, die hier um Asyl bitten, erlebt, der wird sich hier nicht willkommen fühlen. Die Beispiele ließen sich noch über mindestens 10 Seiten fortsetzen und nein, mit ein wenig Bla-Bla-Bla bei der Ankunft von (wirtschaftlichen) „Nützlingen“ ist es da nicht getan. Mich wundert es nicht im Mindesten, dass immer mehr Menschen diesem „das Boot ist voll Land“, in dem Politiker mit ausländerfeindlicher Wahlpropaganda Wahlen gewinnen, den Rücken kehren, dem Land, wo die Ermittlungsbehörden nicht gegen die Täter, sondern gegen die Opfer ermitteln und wo Menschen, die nicht biodeutsch aussehen, keine Wohnung erhalten und hinterher auch selbst noch schuld sind, dass Sie in einem sozialen Brennpunkt leben müssen und angeblich Parallelgesellschaften bilden, weil die Mehrheitsgesellschaft sie in den normalen und besseren Wohnvierteln nicht dulden und nicht haben will.
Ich lebe in Frankfurt, in einem bunt gemischten Viertel und auch wenn hier beileibe nicht glatt läuft, so läuft es doch besser, als im Rest der Republik und einen Buschkowsky, der ständig gegen Nicht-Deutsche hetzt, den haben wir in dieser krassen Ausführung hier auch nicht, obwohl in Frankfurt mehr Menschen nicht-deutscher Herkunft leben, als in Berlin und ich finde das ganz wunderbar, dass hier bunte Vielfalt herrscht. Das ist das, was mir an dieser Stadt am besten gefällt.
Sehr geehrter Herr Bade,
Sie schreiben: „Klar bleibt dennoch: Integration in Deutschland gelingt. Sie ist, wie es schon im ersten Jahresgutachten des Sachverständigenrats im Jahr 2010 hieß, viel besser als ihr Ruf im Land, auch im internationalen Vergleich. …..Sie fragten aber nicht nach dem Verhältnis der Deutschen zum Islam und zu Muslimen.
Und hier liegen die Deutschen im europäischen Vergleich heute in der düsteren Spitzengruppe der modernen Kreuzritter. „
Dazu habe ich allerdings etwas andere Angaben:
http://www.welt.de/politik/deutschland/article115664989/Jeder-Zweite-haelt-den-Islam-fuer-eine-Bedrohung.html
In der dort veröffentlichten Vergleichsgrafik von 11 Ländern liegt Deutschland mit 51% Ablehnung des Islam im Mittelfeld der westlichen Länder (Spanien mit 65% – USA mit 43%).
Was Sie zu der Behauptung veranlasst, dass Deutschland „in der düsteren Spitzengruppe der modernen Kreuzritter“ liegt, erschließt sich mir nicht.
Weiter schreiben Sie:
„So betrachtet funktioniert Integration in Deutschland zwar gut, aber …„minus Muslime“. Und die stellen mehr als vier Millionen Menschen in diesem Land, von denen fast zwei Millionen deutsche Staatsbürger sind.“
Die 4 Millionen Muslime setzen sich aus 3 Millionen Sunniten, 800.000 Aleviten und 200.000 weiteren Einwanderern aus islamisch geprägten Ländern zusammen, die eigentlich Atheisten oder Orient-Christen sind. Von den 3 Millionen Sunniten wiederum sind die Hälfte reine Feiertagsmuslime, denen das Kopftuch und Koran relativ unwichtig sind. Bleiben also 1,5 Millionen Muslime und damit 10% aller Migranten übrig, denen 90 % der Integrationsbemühungen gewidmet sind.
Nun noch meine Assozation zu „des Kaisers neue Kleider“. Dieses Märchen kommt mir stets in den Sinn, wenn mir einer erklärt, dass Europa ohne den Islam eine einzige kulturelle Wüste sei.
Mit freundlichen Grüßen
posteo