Österreichische Befindlichkeiten
Der Markt kennt keine Moral
EU-Konservative verbreiten Unwahrheiten über MigrantInnen aus Osteuropa. Sie behaupten, EinwanderInnen aus Bulgarien und Rumänien würden die Sozialssysteme der Wohlfahrtsstaaten missbrauchen. Daher müsse ein Einreisestopp her.
Von Helga Suleiman Dienstag, 30.04.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.05.2013, 23:05 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Begonnen hat die Schweiz mit der Einführung einer „Ventilklausel“. Sie soll die Einwanderung bremsen. Die Innenminister Deutschlands, Österreichs, der Niederlande und Großbritanniens haben anscheinend nur darauf gewartet, um selbst eine Lawine an Falschaussagen und Anschuldigungen gegen MigrantInnen aus Bulgarien und Rumänien loszutreten.
In einem gemeinsam verfassten Brief an die EU fordern sie ein schärferes Vorgehen gegen „Armutsmigration“. Diese bedrohe die Mobilität jener EU-BürgerInnen, die arbeiten, studieren und Unternehmen gründen wollten. Das Statistische Bundesamt Deutschlands lieferte prompt die Zahlen, wonach sich die jährliche Zahl der sogenannten Armutseinwanderer aus Rumänien und Bulgarien im Zeitraum vom 2007 bis 2011 von 64.000 auf rund 147.000 mehr als verdoppelt habe und weiter rasant steige. Das rheinisch-westfälische Institut für Wirtschaftsforschung belegte indes, dass 80 Prozent aller EinwanderInnen aus Bulgarien und Rumänien seit 2007 einer Erwerbsarbeit nachgehen. 22 Prozent unter ihnen sind zudem hochqualifiziert und 46 Prozent qualifiziert. Also alles andere als „Armutsmigration“ und noch viel weniger „Sozialsystemmissbrauch“. Im Gegenteil, schreiben die ExpertInnen, handelt es sich häufig um Menschen mit Berufen, die in Deutschland dringend benötigt werden.
Abgesehen von der faktisch belegten Lüge der konservativen Ministerriege, wird damit deren Menschenbild deutlich. Die Einteilung von Individuen in mehr und weniger Tüchtige entspricht einem typisch neoliberalen Weltbild, das von antisozialem und aggressivem Konkurrenzdenken geprägt ist. Es folgt daraus die mehr als widersprüchliche Logik, dass der Stärkere den Schwächeren fressen muss, um selbst zu überleben.
EU-Diplomaten adressieren als „Arme“ vor allem Minderheitenangehörige der Roma und Sinti; – was beweist, wie sich Rassismus und Kapitalismus gegenseitig in die Hände arbeiten. Leider ist das noch lang nicht alles.
Die konservativ-liberalen Parteien in der EU vertreten die Interessen des Kapitals, der Banken und Konzerne. Sie befürworten den freien, regellosen Markt. Dieser „Markt“ als anonyme Größe und unpersönliches Etwas kennt keine Moral und also gibt es sie nicht. Es wird als seine Logik angesehen, dass es im Wettbewerb Gewinner und Verlierer gibt. Nachdem die „Gier nach Mehr“ die oberste Maxime des Marktes ist, ist es nur legitim, dass jene, die von ihm profitieren, nichts vom Profit abgeben wollen und großes Interesse daran haben, mögliche Ansprüche anderer darauf schon im Keim zu ersticken.
Recht hätten sie, all jene angeblichen ArmutsmigrantInnen, ihren Anteil am Kuchen einzufordern. Denn dick geworden sind EU-Konzerne und Banken durch die Ausbeutung der Ressourcen und Arbeitskräfte in den östlichen Ländern Europas.
Nach dem Zusammenbruch der einstigen Warschauer Pakt Staaten setzte eine ungebrochene Privatisierungswelle ein, die die wirtschaftliche und soziale Infrastruktur der Länder dem Ausverkauf preisgab. Österreich war als Einkäufer vorne mit dabei. So wurden nach der Übernahme des rumänischen Ölkonzerns Petrom durch den österreichischen Mineralölkonzern OMV die Heizöl- und Benzinpreise im Land auf EU-Durchschnittsniveau angehoben – und sprengten damit jede Relation zu den Durchschnittseinkommen der EinwohnerInnen, welches bei ca. 350 € pro Monat liegt. Die OMV wollte bei der Übernahme 2004 keine Arbeitsplatzgarantie für die mehr als 50.000 Beschäftigten abgeben. Bis Jahresende 2009 beschäftigte der Konzern nur mehr 22.600 MitarbeiterInnen.
Der österreichische Stromanbieter ENV kam im Januar in die Schlagzeilen: Während der extremen Kältewellen protestierten bulgarische BürgerInnen heftig gegen den Konzern. Die EVN versorgt rund zwei Millionen BulgarInnen mit Strom. Für die meisten war er nicht mehr leistbar. Sie forderten ein Ende der Preistreiberei und eine Rückverstaatlichung der Energieversorgung.
Österreichische Banken haben eine Reihe von Übernahmeaktionen am osteuropäischen Finanzsektor durchgeführt. Mittlerweile reduziert die Raiffeisenbank ihre Niederlassungen in Zentral- und Osteuropa wieder. Kürzlich hat die steirische Landesbank bekannt geben, dass sie alle Beteiligungen an Ost-Banken und Nebenfirmen verkauft hat, teils unter dem Buchwert. Über die Auswirkungen auf die Angestellten herrscht Schweigen.
2005 erwarb die erste Bank den größten Anteil der Rumänischen Bank BCR. Von da an sank die MitarbeiterInnenzahl von12.000 auf 9.985 (Stand 2008).
Die durch Privatisierungen und Betriebsschließungen Arbeitslosen stellen ein riesiges Heer an Billigst-Arbeitskräften dar, von dem sich große Konzerne und Dienstleister nach Lust und Laune bedienen. Heute beträgt der Mindestlohn in Rumänien 157 €, in Bulgarien 159 €. Es ist davon auszugehen, dass es den EU-Neoliberalen nur recht ist, dieses Lohnniveau nicht nur zu halten, sondern auch auf Griechenland, Portugal und Spanien auszudehnen. Je billigere Arbeitskräfte, desto größer der Profit.
Nach Österreich und Deutschland kommen sollen MigrantInnen nur dann, wenn sie gebraucht werden: Als billigste SaisonarbeiterInnen für die Landwirtschaft oder den Bau, unter der Bedingung des Aufenthalts mit Ablaufdatum, mit minimalen oder keinen Rechtsansprüchen an Arbeitgeber und ebenso als LeiharbeiterInnen, beliebig austauschbar mit kaum Möglichkeiten zur gewerkschaftlichen Organisierung. Immer wieder kommt es vor, dass Bauarbeiter nicht wissen, dass sie von ihren Arbeitgebern als Selbstständige geführt werden und dann bei der Lohnauszahlung durch die Finger schauen.
Zu den erwünschten Arbeitskräften zählen neben den Saisonarbeitskräften möglichst gut ausgebildete Fachkräfte für Handwerk, Reinigung, Gastronomie und Pflege.
Die Hürden bei der Anerkennung von Diplomen im Krankenpflegebereich erleichtern es UnternehmerInnen, Pflegekräfte auszunützen und sie zu einem Niedrigstlohn zu beschäftigen. Zu diesem Zweck werden sie zu Betreuungskräften oder Haushaltshilfen dequalifiziert. Rechtliche Lücken ermöglichen Umgehungen gesetzlich vorgeschriebener Mindestlöhne. Kontrollen durch Arbeitsinspektorat oder Finanz gibt es so gut wie gar nicht.
Das in Österreich durch den ÖVP-Minister Bartenstein 2007 eingeführte Hausbetreuungsgesetz sieht 128 Stunden Arbeitszeit in 14 Tagen vor, dazu viele Stunden unbezahlter Bereitschaft, für einen Mindestlohn von 644 € netto. Frauen aus osteuropäischen Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit sind gezwungen, solche Bedingungen zu akzeptieren. Oft sind sie Alleinerhalterinnen für ihre Familien zu Hause.
Der deutsche Berufsverband für Pflegeberufe nannte das österreichische Modell „modernen Kolonialismus“ und nicht vereinbar mit dem deutschen Arbeitsrecht. Auch in Österreich blieb die von den Grünen formulierte Kritik am „Beschäftigungsmodell des vorvorigen Jahrhunderts“ bislang ohne Konsequenz.
Die Ausbeutung erfolgt individuell an den Frauen und kollektiv an der Gesellschaft. Die Studie eines großen Personaldienstleisters hat ergeben, dass Rumäniens Unternehmen im weltweiten Vergleich die größten Schwierigkeiten haben, qualifiziertes Personal zu finden. Denn dieses Personal arbeitet in Westeuropa.
Es naht der 1. Mai.
Am Tag der Arbeit ist es höchste Zeit, die neoliberalen Märchen von „Armutsmigranten, die Sozialsysteme aushöhlen“, als das zu entlarven, was sie sind: Versuche, Ausbeutungsverhältnisse auf den Kopf zu stellen. Sozialsysteme sind bedroht durch die Profitgier jener, die schon reich sind und noch reicher werden wollen. Sie drücken Löhne und sie verlegen Produktionsstandorte dorthin, wo Löhne noch niedriger, Arbeitsrechte noch mangelhafter sind. Gegen EU-Konservative im Verbund mit superreichen Konzernchefs, unersättlichen Investoren und skrupellosen Spekulanten hilft nur die Losung der ArbeiterInnenbewegung: Solidarität! Aktuell Meinung
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