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Kısmet

Warum haben Türken immer große Autos?

Dass ich das noch erleben darf? Es geht los! Der Familien-Minivan ist bepackt und wir haben - nach einer kurzen Regenpause - die vielzähligen offenen Fragenstellungen durchexerziert und einen Konsens (mal mehr, mal weniger konziliant) gefunden.

Von Florian Schrodt Mittwoch, 22.05.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 24.05.2013, 7:41 Uhr Lesedauer: 7 Minuten  |  

Die Sitzverteilung, bei der immerhin 9 Personen sowie eine Sauerstoffflasche sowie ein Rollstuhl auf die entsprechenden Plätze zugewiesen werden mussten, ist hinreichend erörtert worden. Die Krux: Das Vorschlagswesen bezieht sich nicht nur auf eigene Präferenzen, sondern auch auf wohlgemeinte Ratschläge.

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Meine Mutter in der letzten Reihe? Viel zu eng! Baba auf den Beifahrersitz? Wie kann er dann neben Anne sitzen? Die Nichte in der zweiten Reihe? Wie soll denn nun der Kindersitz neben Anne und Baba passen? Anne und Baba sitzen also in der zweiten Reihe? Nicht wenn sie in der dritten Reihe sitzen wollen. Oder Baba auf dem Beifahrersitz. Und so weiter.

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Als alle ihren Platz gefunden haben, wirft jemand die Frage in den Raum, ob denn genügend Benzin im Tank sei. Doof nur, dass das Ansichtssache ist. Wie dem auch sei, nach langer, langer, zu langer Zeit kann die Fahrt beginnen. Oder doch nicht. Warten schlägt nicht nur auf die Geduld, sondern auch auf die Blase. Die Nichte muss noch einmal auf Toilette. Wir warten.

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Es kann losgehen. Baba, der wohl daran zweifelt, jemals loszukommen, muss mal wieder einen Kalauer einstreuen, der ihm einen Klaps seiner Sitznachbarin und Ehefrau einträgt. Hätte er sich doch lieber auf dem Beifahrersitz in Sicherheit gebracht. Er muss sich zwangsläufig an einen ehemaligen Kollegen erinnern, der vor Jahrzehnten mit seiner Ehefrau in den ersten Urlaub wollte. Leider wurde seine Fahrt nach Sekunden abrupt unterbrochen, weil er einen Auffahrunfall fabrizierte. Gegenüber den Augenzeugen gab er zu Protokoll: „Auto kaputt, Urlaub kaputt. Ich türkisch Mann. Meine Frau auch“. Baba lacht sich ebenfalls kaputt. Und er sorgt damit in der Tat für etwas Heiterkeit.

In der Wartezeit haben meine Freundin und ich den Platz getauscht. Sie ist nun Fahrerin des vierrädrigen Schiffes aus amerikanischer Schmiede. Bevor der Zündschlüssel gedreht wird, kehrt zum Ersten allgemeine Ruhe im Wagen ein. Wie vor jeder Fahrt hört man ein bedächtiges, vielstimmiges Flüstern: „Bismillahi ‚r-Rahmani ‚r-Rahim“. Frei übersetzt: „Im Namen Allahs, des Barmherzigen”, was man sagt, bevor man etwas beginnt, wie meine Freundin mir einst erklärte. Der Motor brummt. „Nächster Halt, Frankfurt Äppelwoi-Kneipe“, brüllt meine Freundin ihren Fahrgästen entgegen. Hurra-Rufe, Lachen, Johlen schallt zurück – die Stimmung dreht sich. Zum Glück liegt der Tumult hinter uns und die Vorfreude kehrt zurück.

Wenn etwas in meiner Familie noch größere Tradition als Traditionen hat, dann ist es die Liebe zu Kontroversen. Sie werden hartnäckig, emotional und direkt geführt. Was mich dabei aber immer wieder verwundert, ist die Sachlichkeit hinsichtlich Details, die bei aller Wutstimmung erhalten bleibt. Da zofft sich meine Freundin mit ihrer Schwester und im Nebensatz schleicht sich nüchtern die Aufforderung an die Nichte ein, die Schuhe ordentlich wegzustellen. Und zurück zum Streitgespräch. Sobald die Diskussionen geklärt oder ausgesessen sind, ist es, als ob nichts gewesen sei. Sie wirken wie reinigende Gewitter. Alles vergessen.

Wir sitzen im schwarzen Familienschlachtschiff, dessen Klimaanlage ob der Vielzahl der Mitreisenden ächzt, als irgendwer die Standard-CD einschiebt und alle zum Klang aus den Boxen mitgröhlen „Schöööööön ist es auf der Welt zu sein…“. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie hat sich Roy Black bei meiner Familie zum Ausflugsklassiker entwickelt.

Zum Glück hat Baba noch seinen überdimensionierten Van, sonst wären solche Ausflüge mit einem einzelnen Wagen nicht möglich. Wo wir gerade beim Thema große Autos sind. Unserer Nichte brennt eine Frage auf der Seele. Mitschülerinnen wollten von ihr wissen, warum Türken denn immer solch große Autos fahren. Damit hat die Kleine ungewollt eine lawinenartige Diskussion in Gang gesetzt. Die Hitze des Wagens vermischt sich mit der Hitze des Wortgefechts, sodass die Gesichter in ein noch dunkleres Rot getaucht werden. Mitunter besorgniserregend. Verzweifelt summe ich die Melodie von „Schön ist es auf der Welt zu sein“, sie verglüht unter den Einschlägen der Verbalblitze inmitten des Emotionsgewitters.

Mein Schwiegervater will gerade ansetzen, etwas über seine Anfänge in Deutschland und etwas über harte Arbeit zu erzählen, als ihn eine seiner Töchter unterbricht. Anne ebenso. Die andere Tochter obendrein. Wildes Durcheinander. Man kann verschiedene Argumentationsfetzen heraushören. Da wäre als eine Hypothese der familiäre Zusammenhalt. Nicht nur eine Familie ist bekannt dafür, dass der Lohn aller Mitglieder zusammengelegt wird, um ihn dann im Sinne aller zu verwalten. Darüber hinaus ist auch etwas von Sparsamkeit zu hören. Essen für alle am heimischen Herd. Durchaus üblich, man werfe nur einen Blick auf die Größen der Lebensmittelverpackungen in türkischen Supermärkten.

Oder auch Genügsamkeit. Meine Familie kann ein Lied davon singen, wie es ist, mit sechs Personen in einer Dreizimmerwohnung zu leben. „Schön auf der Welt zu sein“ hingegen wird nicht angestimmt. Aber Familie auf engstem Raum kann auch funktionieren, es kann wunderschön sein und es schweißt zusammen. Und es birgt auch mal Auseinandersetzungen. In der Gewissheit, dass es auch im engen Van mit der Familie funktionieren kann und dass bald alle wieder in schönen Anekdoten schwärmen, lehne ich mich lässig zurück, schließe die Augen und genieße die Strahlen, die durch die Wolken brechen. Auf Regen folgt Sonnenschein. So wie gerade eben. Stimmungsmäßig noch nicht.

Baba will etwas von „Fleißigkeit“ erzählen. Im Eifer des Gefechts übernimmt meine Schwägerin das Wort. „Ja, Fleißigkeit!“ Und sie schildert eine eigene Erfahrung. Neulich war sie beim Physiotherapeuten, als ihre Sitznachbarn begannen zu monieren, dass früher alles besser gewesen sei. Früher wären die Deutschen die Chefs gewesen, heute seien es nur noch die Türken. Meine Schwägerin ist geschockt von der These und fügt hinzu, dass die Türken aber auch fleißig seien. Wie viele haben mehrere Jobs und eigene Firmen? Ich füge hinzu, dass viele auch wagemutig seien und einfach machen, statt sich im Vorfeld zu sorgen. Mein Argument verpufft. Und das ist auch gut so, weil alle längst rührselig wurden, als die Rede von früher aufkam. Man schwelgt in Erinnerungen wie es war, als die Kinder auf der Couch saßen, unter dem Tisch lagen, man zusammen war, Baba spontan auf Wunsch der Kinder Pizza holte und man Hollywoodfilme genoss. Damals vor 30 Jahren.

Mittlerweile sind wir in Frankfurt angekommen. Die Stimmung ist heiter bis ausgelassen. Das legt sich später wieder mit dem Rückweg zum Auto. Niemand weiß, wo der Schlüssel ist. Was kann man tun? Den ADAC (gesprochen ADATSCH) rufen, schlägt jemand vor. Und nun darf auch endlich Baba kommentieren, der sich in dem kürzlich angeschafften Rollstuhl unter die Decke kauert, weil es windig ist. Damals habe der ADATSCH nicht helfen können und ein Geschäftsmann habe in der Straße gestanden, weil man ihn von der naheliegenden Autobahn dorthin abgeschleppt habe. Es sei Sonntag gewesen, so wie heute. Keine Werkstatt offen.

Wild gestikulierend zeigt er, wie damals die Autobahnabfahrt verlaufen sei. Der Geschäftsmann samt Frau habe eine Pension gesucht. Stattdessen habe man ihm empfohlen, dass ein Türke um die Ecke bei Reparaturen begabt sei. Baba, der gerade unter fleißiger Mithilfe von Anne sein Auto im Hof reparierte, war hilfsbereit wie eh und je und schaute sich den Wagen an. Ein wildes Durcheinander seiner Hände versucht zu dokumentieren, wie er vorgegangen ist. Heureka! Mit einem Mal hatte er es. Auch wenn er sein Vorgehen im Detail schilderte, kann ich es hier mangels Fachkenntnis nicht wiedergeben. Den Betrag, den ihm der Mann als Dank anbot, lehnte er ab mit dem spaßig gemeinten Hinweis, sonntags könne er kein Geld nehmen. Weil gerade seine Tochter um die Ecke kam, habe Baba vorgeschlagen, ihr 20 Mark zu geben, ergänzt Anne.

Bei dem Gedanken an diese Zeiten verkneifen sich einige Familienmitglieder ein paar Tränen. Parallel zum Sonnenschein kommt auch wieder der Schlüssel zum Vorschein. Und auf der Rückfahrt erklingt nahezu durchweg „Schön ist es auf der Welt zu sein“. Bei dieser Familie kann man es nur glauben. Große Familie, großes Auto, großes Glück! Maşallah. Aktuell Meinung

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  1. mika sagt:

    Ich kann es mir richtig lebhaft vorstellen, wie diese Fahrt gewesen sein muss :-)
    Auch ich denke gerne an diese Familienfahrten zurück, obwohl ich inzwischen lieber den Flieger bevorzuge. Aber damals war es auch sehr schön!

  2. Florian Schrodt sagt:

    @Mika Eine Fahrt in die Türkei war mir bislang nicht vergönnt. Hoffe, das kommt noch, wenn es meinem Schwiegervater mal konstant gesundheitlich besser geht. Das wird sicherlich ein riesiges Abenteuer. Bis dahin sind auch schon die Kurzstrecken sehr kurzweilig! :-)
    Viele Grüße,
    Florian