20 Jahre Solingen
Das Problem heißt Rassismus!
Der Brandanschlag von Solingen jährt sich in diesen Tagen zum 20. Mal. Dem Anschlag war eine verantwortungslose Debatte um „Asylantenflut“ und „Überfremdung“ vorausgegangen. Seitdem ist hierzulande viel Entsetzliches passiert.
Von Rolf Gössner Dienstag, 28.05.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 13.12.2013, 22:18 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
In diesen Tagen gedenken wir der Opfer eines der schwersten Verbrechen in der Geschichte der Republik: des Solinger Brand- und Mordanschlags, bei dem fünf junge Angehörige der Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor dem rassistisch motivierten Anschlag hatte – nach einer verantwortungslosen Debatte um „Asylantenflut“ und „Überfremdung“ – eine große Koalition aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht auf Asyl faktisch abgeschafft. „Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen“. Klarer kann man den Zusammenhang dieser beiden Ereignisse kaum formulieren, wie er seinerzeit auf einer Mauer entlang der Unteren Wernerstraße nahe des Anschlagsorts in Solingen zu lesen war. 1
Seitdem ist hierzulande viel Entsetzliches passiert. Nach Aufdeckung der schockierenden NSU-Mordserie und –Sprengstoff-Attentate stehen wir heute – 20 Jahre nach dem Solinger Brandanschlag – vor einem historisch beispiellosen Desaster bundesdeutscher Sicherheits- und Migrationspolitik. Dass sich das offizielle Deutschland ob dieser rassistischen Verbrechen bass erstaunt zeigte, ist mehr als erstaunlich – erstaunlich angesichts der Tatsache, dass seit 1990 weit mehr als 150 Menschen von Neonazis und anderen fremdenfeindlich eingestellten Tätern erschlagen, erstochen, zu Tode gehetzt oder, wie in Solingen, verbrannt worden sind – jetzt müssen wir zehn weitere Todesopfer dazurechnen.
Der Mordanschlag von Solingen war der vorläufige „Höhepunkt“ einer Serie von fremdenfeindlichen Attentaten: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Quedlinburg, Cottbus und Mölln sind zu Synonymen geworden für diesen gewalttätigen, menschenverachtenden Rassismus. Tödliche Fanale einer „Das-Boot-ist-voll“-Debatte um „Asylmissbrauch“ und „Überfremdung“.
Rassistische Terrorangriffe finden auch heute noch statt. Und die Täter sind mitten unter uns. Tatsächlich reicht der rassistische Nährboden weit in die Mitte der Gesellschaft, weit hinein in Regierungen und Parlamente, in Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen, weit hinein in staatliche Institutionen wie Ausländer-, Polizei- und Verfassungsschutzbehörden. Es handelt sich also keineswegs allein um ein Randphänomen so genannter rechtsextremistischer Gewalttäter, wie vielfach behauptet. Auch 20 Jahre nach dem Solinger Brandanschlag lautet der besorgniserregende Befund: struktureller und institutioneller Rassismus in Staat und Gesellschaft, der besonders Migrant_innen bedroht. So forderte die Abschiebepraxis zahlreiche Menschenleben und das Asyl- und Ausländerrecht schränkt Bewegungsfreiheit und Menschenrechte der Betroffenen drastisch ein.
Die NSU-Morde, die rassistisch motivierten Polizeiermittlungen im „migrantischen Milieu“ sowie die Verwicklungen des Verfassungsschutzes haben die Bundesrepublik nachhaltig erschüttert. Das offizielle Gerede von Unfähigkeit und Pannen der Sicherheitsorgane kaschiert jedoch, dass ideologische Scheuklappen für das Desaster verantwortlich waren, Ignoranz und systematische Verharmlosung des Neonazi-Spektrums – begünstigt auch durch eine jahrzehntelang einseitig ausgerichtete Politik der „Inneren Sicherheit“ auf „Linksextremismus“ und „islamistischen Extremismus“.
Mehr als ein Jahrzehnt lang kamen die Sicherheitsbehörden den rechtsterroristischen Mördern und ihrem rassistischen Hintergrund nicht auf die Spur – obwohl sie doch über ihre Nazi-V-Leute dem NSU-Trio sehr nahe und in sein Umfeld heillos verstrickt waren. Und seit Aufdeckung der Mordserie sind diese „Sicherheitsbehörden“ mit geradezu krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihres Versagens, ihrer ideologischen Verblendung und Verflechtungen in das NSU-Umfeld zu verdunkeln und zu vernichten.
Nach neueren Erkenntnissen hätte die Mordserie sogar verhindert werden können. Auf der Anklagebank müssten also weit mehr Angeklagte sitzen als Zschäpe, Wohlleben & Co.: Auf der Anklagebank fehlen die involvierten V-Leute, ihre V-Mann-Führer und alle für Versagen und Vertuschen Verantwortlichen aus Verfassungsschutz, Polizei und Sicherheitspolitik.
Wenn Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben, dann bleiben Aufklärung und Wahrheit zwangsläufig auf der Strecke. Wie übrigens schon bei früheren rassistischen Verbrechen – erinnert sei nur an die bis heute nicht wirklich aufgeklärte Rolle des V-Manns Bernd Schmitt, dessen Kampfsportverein „Hak-Pao” Trainingscenter der gewalttätigen Neonazi-Szene in Solingen war. Aus diesem Kreis stammten drei jener jungen Männer, die für den Solinger Brandanschlag verurteilt wurden. Aus heutiger Sicht stellt sich diese Kampfsportschule als Gemeinschaftsprojekt des Verfassungsschutzes und seines V-Manns dar – als braune Kontaktbörse unter den Augen des Geheimdienstes, als Schulungszentrum für die Nazi-Szene, in dem gewaltbereite Neonazis zusammen mit Orientierung suchenden Jugendlichen zum Kampf ausgebildet wurden. Da versuchen Sozialarbeiter und „Exit“, junge Menschen mühsam aus der rechten Szene herauszubrechen – und hier in Solingen gab ein Geheimdienst Steuergelder für einen V-Mann aus, der exakt das Gegenteil betrieben hat. Ein Riesenskandal.
Auch andere Neonazi-Verbrechen sind bis heute nicht wirklich aufgeklärt: So etwa der Lübecker Brandanschlag auf ein Asylbewerber-Heim von 1996 mit zehn Toten oder aber das Münchner Oktoberfest-Attentat von 1980, bei dem 13 Menschen ums Leben kamen. Inzwischen verdichten sich die Hinweise, es könnte sich um einen staatsterroristischen Anschlag der Stay-behind-Organisation im Bundesnachrichtendienst (BND) gehandelt haben. Darüber wird derzeit in Luxemburg in einem Aufsehen erregenden Strafprozess und im Parlament verhandelt – doch hierzulande glänzt die Bundesregierung durch Ignoranz. Auch diese Attentatsgeschichte muss wohl neu geschrieben werden.
Zurück zum bundesdeutschen Inlandsgeheimdienst mit dem euphemistischen Tarnnamen „Verfassungsschutz“: Ein antikommunistisch geprägter, skandalgeneigter Inlandsgeheimdienst, der seine eigene altnazistische Vergangenheit bis heute nicht aufgearbeitet hat, der im Kampf gegen Nazismus versagt, der Verfassung und Demokratie gefährdet und öffentlich nicht kontrollierbar ist. Jahrzehntelang hat dieser so genannte Verfassungsschutz die Neonazi-Szenen über seine bezahlten und kriminellen Spitzel mitfinanziert, rassistisch geprägt, gegen polizeiliche Ermittlungen geschützt und gestärkt, anstatt sie zu schwächen. Damit ist er selbst Teil des Neonazi-Problems geworden und gehört schon deshalb ersatzlos aufgelöst (wegen seiner Demokratiewidrigkeit ohnehin).
Wir fordern darüber hinaus eine rückhaltlose Aufklärung aller Neonazi-Verbrechen und staatlichen Verstrickungen, ernsthafte Anstrengungen gegen strukturellen und institutionellen Rassismus in Staat und Gesellschaft, eine humane Asyl- und Migrationspolitik, unabhängige Stellen zur Kontrolle der Polizei, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Projekte gegen Rechts und eine bessere Unterstützung von Opfern rechter Gewalt.
Und verhelfen wir einer Zukunftsvision zum Durchbruch: der Vision einer geheimdienstfreien Demokratie – einer freien und offenen Gesellschaft ohne V-Leute, Lockspitzel und Gesinnungsschnüffelei; und einer Gesellschaft ohne Rassismus und Nazismus, ohne Diskriminierung und Ausgrenzung, ohne inhumane Sondergesetze und Sammellager, ohne Residenzpflicht und Arbeitsverbot für Flüchtlinge. Lasst uns heute dafür demonstrieren und täglich dafür kämpfen. Vielen Dank.
Aktuell MeinungWir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
Wissen sie, ich kenne auch viele „meäinesgleichen“ und da ist irgendwie auch kein Antisemit zwischen.
DAs liegt bei mir wohl auch eher daran, dass ich mich mich solchen Leuten gar nicht erst abgeben würde – und ich nicht in solchen Kreisen verkehre.
Ich gehe davon aus, dass das bei Ihnen nicht anders ist. Weder ihre noch meine Erfahrungen haben aber etwas mit der statistischen Wirklichkeit zu tun die sagt es gibt Antisemitismus unter Deutschen und unter Migranten (worunter ich auch Deutsche mit Migrationshintergrund verstehe, nicht dass mir hier wieder Spalterei vorgeworfen wird).
„Man kommt nur einmal zur Welt, ein Blatt wächst nur einmal, aber meine Kinder sind gefallen, bevor sie alt und verwelkt waren.“ Mevlüde Genc, Rassismusopfer von Solingen, 29. Mai 1993