Rezension zum Wochenende
Besser für beide: Die Türkei gehört in die EU – von Ruprecht Polenz
Die Türkei gehört in die Europäische Union (EU) und das ist besser für beide. So die Quintessenz der Reflexionen des CDU Abgeordneten Ruprecht Polenz, die von so manchen Konservativen als verstörend empfunden werden dürfte.
Von Dr. Yaşar Aydın Freitag, 07.06.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.06.2013, 23:36 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Denn nach wie vor legt die deutsche konservative politische Klasse eine paradoxe Haltung an den Tag: Sie will einerseits die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei fortsetzen, andererseits pocht sie weiterhin auf eine privilegierte Partnerschaft. Die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen ist notwendig, denn ohne diese kann weder Berlin noch Brüssel Einfluss auf die türkische Innen- und Außenpolitik ausüben. Gleichzeitig will man aber eine Mitbestimmung der europäischen Politik durch die Türkei verhindern. Mit ihrem Festhalten an den Beitrittsverhandlungen und der privilegierten Partnerschaft zugleich hängen Konservative einer Illusion an, die der Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt in die Welt gesetzt hat: Dass es möglich sei, die Türkei in die europäische Politik einzubinden, ohne ihr eine ernsthafte Beitrittsperspektive anzubieten.
In diesem Duktus sprach auch der Europaabgeordnete Hans Gert Pöttering auf einer Veranstaltung der türkischen Bahçeşehir Universität zu Berlin. Er lobte die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der EU und Deutschland, würdigte den Dialog der Kulturen und bemerkte anschließend, der EU-Beitritt sei nicht die einzige Alternative einer Zusammenarbeit. Auf die Frage, was denn gegen den EU-Beitritt der Türkei spräche, verwies Hans Gert Pöttering auf die »Integrationsdefizite« türkeistämmiger Immigranten. Der EU-Beitritt der Türkei würde einen starken Zuwanderungsstrom aus der Türkei zur Folge haben, der die Integration türkeistämmiger Immigranten in Deutschland zusätzlich erschweren würde.
Ist die Verknüpfung der Beitrittsdebatte mit der Integrationsdebatte sinnvoll?
Polenz führt dagegen drei Gründe an: Erstens werden sowohl Deutschland als auch andere EU-Staaten auch nach einem EU-Beitritt der Türkei über die Option verfügen, die Freizügigkeit türkischer Staatsbürger auszusetzen und eine den nationalen Interessen entsprechende Migrationssteuerung zu betreiben (29). Zweitens wäre ein erfolgreicher Beitrittsprozess auch ein deutliches Signal an die türkeistämmigen Immigranten, dass sie dazu gehören, und würde somit auch bei der Integration helfen (31). Drittens werde die Türkei zum Zeitpunkt des Beitritts ein anderes Land sein als heute. Bereits im letzten Jahrzehnt hat die Türkei, getrieben auch durch das Ziel einer EU-Mitgliedschaft, tiefgreifende Reformen in Staat und Gesellschaft auf den Weg gebracht. Die AKP hat sich von einer islamistischen Bewegung zu einer kulturell konservativen und marktwirtschaftlich orientierten Partei des Mittelstandes entwickelt, die sich zwar auf islamische Werte beruft, aber weiterhin am EU-Beitritt festhält (57).
Die Türkei hat in den letzten 10 Jahren eine beachtliche Wirtschaftsleistung vorgelegt und einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel durchlaufen. Nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen Machtverhältnisse haben sich verschoben: Entstanden ist eine neue Klasse türkischer Unternehmer (genannt die »anatolischen Tiger«), die zwar im Islam verwurzelt, wirtschaftlich aber an Europa orientiert ist. Als siebtgrößter Produktionsstandort der Automobilindustrie ist die Türkei für Europa auch wirtschaftlich wichtig (82). Zu der Wirtschaftsentwicklung der Türkei trugen auch die Beitrittsverhandlungen und die EU-Perspektive wesentlich bei. Bleibt die Türkei auf EU-Kurs und setzt die Regierung die Reformen fort, wird ausländisches Kapital weiterhin ins Land strömen. Es ist daher wahrscheinlich, dass mit der Wirtschaftsentwicklung, Demokratisierung, sozialem Wandel und der Abnahme regionaler Disparitäten auch die Abwanderungsneigung der Türken sich weiter abschwächen wird. Daher ist im Falle eines EU-Beitritts der Türkei mit einem starken Zuwanderungsstrom nach Deutschland kaum zu rechnen.
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Würde die EU im Falle eines Beitritts der Türkei nicht an Handlungsfähigkeit einbüßen? Nach Polenz besteht ebenfalls kein Grund zur Sorge um die Systemintegration der Union im Sinne einer strukturellen Kopplung zwischen den Institutionen und Staaten untereinander. Aufgrund der Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip erübrige sich dieses Problem. Schließlich ist mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon die »Sperrminorität« aufgehoben und an ihre Stelle die doppelte Mehrheit eingeführt. Außerdem haben, so Polenz‘ Argument, »Befürchtungen vor politischer Lähmung, Identitätsverlust und letztlich Zerfall alle bisherigen EU-Erweiterungen begleitet. […] Und wieder ertönen Warnungen vor Überdehnung, politischer Lähmung und einer Verschiebung der Machtbalance nach Osten« (38).
Wodurch ist die Beitrittsdebatte geprägt?
Der EU-Beitritt der Türkei wird häufig mit Hinweis auf die kulturelle und religiöse Verschiedenheit zwischen der Türkei und den Europäern abgelehnt. Die kulturellen Begründungsbemühungen gingen auf den Wunsch zurück, »den Islam auf Distanz zu halten« (7). Die Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei mit Verweis auf die historische Gegnerschaft zwischen der Türkei respektive dem Osmanischen Reich und Europa hält Polenz für nicht plausibel: Schließlich waren auch die Länder des »christlichen Europa« in den letzten 500 Jahren untereinander und gegeneinander mehrfach in Kriege verstrickt. Trotzdem komme niemand auf die Idee, daraus »unüberbrückbare Differenzen zu konstruieren« (11). Aus dem »historischen Trauma« (»Türkengefahr«) lasse sich kein »rationales Argument« gegen eine EU-Perspektive der Türkei gewinnen. Außerdem bestehe doch »die Essenz der europäischen Idee« gerade darin, »alte Feindschaften zu überwinden« und eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen (11).
Ein weiterer, häufig vorgebrachter Einwand lautet, politische Grenzen hätten mit kulturellen Grenzen deckungsgleich zu sein. Polenz entkräftet diese Vorstellung mit Hinweis auf ihre zweifelhaften Vorannahmen: Sie basiere erstens auf die Vorstellung der Homogenität von Kulturen, zweitens auf die Existenz scharfer Trennungslinien bzw. eindeutiger Grenzen zwischen den »Kulturen« und drittens schließlich auf die Vorstellung der »Unüberwindbarkeit« kultureller Grenzen (12). Bei kulturellen Einwänden gehe es häufig um ein innergesellschaftliches Bedürfnis nach Grenzziehung sowie einer klaren Abgrenzung zwischen einem politisch konstruierten »Wir« und einem als »fremd« empfundenen »Anderen«. Den normativen Hintergrund solcher Vorstellungen und Haltungen bilde häufig eine »solitaristische« Deutung menschlicher Identität. Polenz weist solche Vorstellungen mit der Begründung zurück, dass Identität keine unwandelbare Größe ist und hebt in Anlehnung an Amartya Sen hervor, dass menschliche Identitäten sich überschneiden und damit angeblich unüberwindlichen Einteilungskriterien entgegenwirken (14). Aktuell Rezension
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