Kümmert euch um eure eigene Politik!
Das Erdoğan-Bashing der deutschen Leitmedien nervt
Seit Wochen berichten hiesige Medien über die Demonstrationen am Taksim-Platz in Istanbul. Angeprangert wird vor allem der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan. Unter den Türkeistämmigen sind die Meinungen geteilt, Mustafa Esmer ist genervt.
Von Mustafa Esmer Freitag, 14.06.2013, 8:27 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.07.2013, 12:13 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Titel wie „Türkischer Frühling“ oder „Die Wut der Türken gegen das System Erdoğan“ zeugen nicht einzig von der Inkompetenz deutscher Redakteure, sondern von eindeutiger Einmischung in die türkische Innenpolitik, durch unhinterfragte Parteiergreifung. Seit Wochen erzeugen die deutschen Medien, durch undifferenzierte Berichterstattung, ein Zerrbild des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan. Er wird als Despot, als Diktator oder bei den ganz kreativen Redakteuren als Sultan beschrieben. Dass man damit lediglich die Zuschreibungen bestimmter oppositioneller Gruppen wiedergibt, scheint unwichtig.
Wer, außer den Volksvertretern, soll denn sonst die Macht innehaben?
Ich als Enddreißiger kenne die Türkei vor der AKP-Regierung. Daher stoßen Aussagen wie, dass es in der Türkei, unter der Erdoğan-Regierung, eine Einschränkung der Freiheitsrechte gibt, bei mir auf taube Ohren. Politik ist jedoch ein Prozess und diese Rechte müssen auch für die Zukunft bewahrt, sogar ausgebaut werden.
Zu allererst müsste den deutschen „Experten“ auffallen, dass die türkische Republik mit einer Junta-Verfassung vom 7. November 1982 regiert wird. Diese sprach dem türkischen Präsidenten immense Macht zu und die Arbeit der großen türkischen Nationalversammlung (TBMM) fand unter dem Damoklesschwert des Militärs statt. Die stets von der Opposition kritisierten Gesetzesänderungen der Regierung stärkten den TBMM und die demokratisch gewählten Vertreter des Volkes. Dieses als Konzentrierung von Macht zu beschreiben ist bedauerlich!
Die Dominanz des Militärs wurde eingeschränkt und die Rechte des Individuums gestärkt. Weitere Beispiele für einen positiven Wandel sind die Abschaffung der Todesstrafe, die Aufhebung der Benachteiligung von Frauen im Erbrecht, die Aufhebung der Strafmilderung für „Ehrenmorde“ und der Strafbarkeit unehelicher Beziehungen. Außerdem wurden die Rechte, der in der Republik lebenden Minderheiten gestärkt. Ein sehr gutes Gesundheitssystem aufgebaut, das Bildungswesen modernisiert und die an das 20. Jahrhundert, zu Zeiten des Kalten Krieges, erinnernden Militärparaden, an nationalen Feiertagen, abgeschafft.
Gleiches Recht für alle!
2005 wurden in der Türkei Anti-Terror-Gesetze verabschiedet, die wesentlich die Handschrift des Militärs und der türkischen Opposition tragen. Diese Gesetze legitimieren heute die Anklagen der Staatsanwaltschaften und haben zu den ganzen Inhaftierungen der letzten Jahre geführt. Selbst Erdoğan hat die Justiz dafür mehrfach kritisiert. Schließlich war er selbst, oft genug, Opfer der türkischen Justiz. Das Problem in der Türkei ist, dass jeglicher Reformversuch der Regierung, beispielsweise der Justiz, an der Opposition scheitert. Mit populistischen Kampagnen werden Vorwürfe wie Landesverrat, Islamisierung und so fort erhoben und eine negative gesellschaftliche Spannung erzeugt.
Man kann sich gerne die Zusammensetzung der Kommission für die neue Verfassung anschauen. Obwohl die AKP mehr als 50 % der Sitze im TBMM, innehat, ist sie selbst, mit der gleichen Anzahl an Mitgliedern vertreten, wie alle anderen im TBMM vertretenen Parteien auch, selbst die BDP (Politischer Arm der PKK), die nur einige Direktmandate hat.
Die Oppositionsparteien könnten zur Abwechslung auch mal am Tisch sitzenbleiben und gemeinsam mit der Regierung diese notwendigen, sorry, dringend notwendigen Reformen durchführen!
Die Behauptung „Erdoğan lässt knüppeln“ suggeriert doch in sich schon, dass es in der Türkei ein Sultanat gibt, wo der Ministerpräsident alles bestimmt.
Der Oberbürgermeister Istanbuls Kadir Topbaş, Architekt, der dies sicherlich eher entscheidet, ist seit 2004 im Amt und er war vorher Berater von Erdoğan, als dieser selbst noch Oberbürgermeister Istanbuls war. Ruft der dann bei Erdoğan an und fragt, ob er die Umweltschützer niederknüppeln lassen soll? Hat Erdoğan nichts Wichtigeres, worum er sich kümmern muss? Hüseyin Avni Mutlu, der Gouverneur von Istanbul, Jurist, hat lange Jahre die gleiche Tätigkeit im Südosten der Türkei, in Siirt und Diyarbakir, ausgeübt. Er kennt sich also mit gewaltbereiten Protestierenden aus. Ob seine Vita einen Einfluss auf seine Entscheidung bezüglich der Härte des Polizeieinsatzes hatte, kann ich nicht beurteilen. Es sollte dennoch festgehalten werden, dass er, als Gouverneur, die politische Verantwortung für die Ereignisse am Taksim-Platz trägt.
Mich stört, dass die meisten Erdoğan-Gegner – viele studieren oder studierten Wirtschaft oder Sozialwissenschaften – bei der Betrachtung der türkischen Innenpolitik ihre Bildung vergessen aufgrund einer ideologischen Verblendung.
Fördert die Regierung den Handel mit dem „Westen“, dann verkauft sie das Land und sie sind Verräter. Wird der Handel mit den vorwiegend islamischen Nachbarstaaten gefördert, islamisieren sie das Land. Werden Entscheidungsfindungsprozesse de-olligarchisiert und dem TBMM mehr Macht gegeben, versucht Erdoğan Sultan zu werden. Man nehme zum Beispiel das Präsidialsystem, das von Erdoğan favorisiert wird?
Jetzt mal ganz ehrlich! Wie viele Erdoğan-Gegner, die dieses Argument benutzen, haben sich mal angeschaut, wie es gestaltet werden soll? Wie viele haben recherchiert und wissen, wogegen sie sind? Wie viele haben die inhaltliche Validität ihrer Anklage wirklich untersucht?
Es ist die Absurdität der Vorwürfe, die mich ärgert. Natürlich brauchen wir den Handel mit den islamischen oder türkischen Staaten, weil wir kein eigenes Öl oder Gas haben und der Verbrauch, mit steigendem Wohlstand, steigt. Natürlich müssen wir Handel mit dem Westen betreiben, wie auch mit allen anderen Regionen in der Welt. Natürlich ist die USA, gerade in unserer Region ein wichtiger Bündnispartner.
Globalisierung bedeutet in der Türkei das Gleiche wie hier in Deutschland, das sollte jedem bewusst sein.
Mir gefällt’s! Es findet keine Islamisierung statt, was sich im Straßenbild widerspiegelt. Die Menschen dürfen seit den letzten Jahren erst offen zeigen, dass sie Muslime sind, ohne verhöhnt zu werden. Weil sie das tun, fällt auf, das es mehr sind als vorher. Richtig! Aber kämpft man nicht für Freiheiten? Es wird viel von der Symbolik der baulichen Änderungen am Taksim-Platz gesprochen, die man als Indiz für eine Islamisierung und einer Abkehr von Atatürk deutet. Ich frage mich, ob auch nur ein deutscher Journalist das Projekt kennt, wenn Aussagen der Protestler publizistisch reproduziert werden? Dieses Projekt ist bereits 2011 verabschiedet worden und trägt nicht nur die Unterschrift der AKP, sondern auch die Unterschrift, der damals vom Projekt begeisterten und heute dagegen protestierenden Oppositionspartei CHP. Aktuell Meinung
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eindeutig pro-AKP Regierung. Objektivität ist was anderes..
Der Berichterstattungsstil des Springer-Verlags spricht Bände, da braucht man sich nur mal die vollkommen undifferenzierten und pauschalisierenden Artikel durchzulesen, welche in den meisten Fällen so gut wie keine Hintergrundrecherchen bieten. Was und wen sie damit in welcher Weise erreichen, sieht man an den Kommentaren, welche egal wie rassistisch dennoch veröffentlicht werden, wird man ja mal sagen dürfen.
PS: Achtet mal auf die Anzahl der Kommentare und die Zahl der „Like“s, wenn es um Türkei und Erdogan usw geht. Ungewöhnlich höher als die meisten anderen Themen.
Mustafa Esmer hat in allen Punkten recht.
Wichtig ist nur ein: Das die Mehrheit der Menschen in der Türkei genauso denkt! Und das tut sie, sonst wäre Erdogang nicht Ministerpräsident.
Die türiscke Republik existiert nunmehr seit 90. Aber die Zeit vo Erdogan, waren verlorene Jahre aus vielerlei Hinsicht.
In diesen 90 Jahre gab es nur einen konstanten Machtfaktor: das Militär. Ein Militär, das sich auf das Erbe vo Atatürk berief, wenn es darum ging demokratisch gewählte Regierungen zu stürzen.Sich auf Atatürk berufend, haben sie 90 Jahre genau das verhindert, was Atatürk wirklich wolle: Eine Deomkratie nach westlichem Vorbild.
Das einzig wichtge für die Türkei ist die Bildung und für die Effektivität der Regierung der Bildungsstand des Volkes. Was sich geändert nach diesen 90 Jahren, ist nur eins: das Volk selber.
Und an alle, die Erdogang kritisieren, irgendwann
İch bin beeidruckt. Endlich mal jemand, der es auf den Punkt bringt und die richtigen Fragen stellt. Vielen Dank für diesen Artikel.
Es ist wirklich erstaunlich, immer wieder festzustellen, wie sehr Erdoğan in der Welt für Aufmerksamkeit sorgt. Da fragt man sich oft. Warum? Und vor allem oft nur einseitig und negativ. Die Türkei hat doch mindestens 30 Jahre keinen interessiert. Und ich zaehle nur die Zeit, an die ich mich mit meinem Alter erinnere. Daher finde ich den Artikel nochmal doppelt gut.
Weiter so Herr Esmer. Hoffentlich werde ich noch mehr so gute Artikel von İhnen lesen können. Es ist erfrischend, mal gute Artikel zu lesen!
DANKE
Sie können ja alternativ die Medien in der Türkei nutzen da ist es ein wenig AKP komformer .
Pinguine lassen grüßen.
Bemerkenswert, die Unfreiheit der türkischen Gesellschaft, wird durch die Unfreiheit, die es ja anscheinend schon immer gab in der Türkei, relativiert.
Nach dem Prinzip, es war schon immer so, wieso beschwert ihr euch.
Ich möchte in keinem Land leben, wo Journalisten liberale Demokratien so unbedeutend sehen.
Ich finde den Artikel von Herrn Esmer auch klasse und die Türkei ist ein tolles Land, das in den letzten Jahren unglaubliche Fortschritte in jeder Hinsicht gemacht hat. Die meisten Menschen in der Türkei sind absolut zufrieden mit der Entwicklung.. Sicher kann das eine oder andere kritisiert und verbessert werden, aber das ist Sache der Staatsbürger und nicht der BILD und des deutschen Stammtisches, aufgehetzt durch die deutschen Leitmedien.. Das Erdogan-Bashing ist reinste Heuchelei, finde ich. Von der Polizei-Gewalt gegen deutsche Kapitalismuskritiker war in den deutschen Leitmedien annähernd nix zu lesen – Gewalt gegen Kapitalismusgegner in Deutschland ist eben „gute“ Gewalt´, Gewalt gegen Erdogan-Kritiker in der Türkei ist „schlechte“ Gewalt.. An Heuchelei nicht zu überbieten.
Der alles entscheidende und wohl wichtigste Sachverhalt findet hier keine Beachtung und wird auch nicht mit einem einzigen Wort erwähnt. Der entscheidende Punkt ist, das Recht der freien Meinungsäußerung ist eines der wichtigsten Prinzipien einer Demokratie. Die türkische Regierung gestattet Ihrer Bevölkerung dieses fundamentale Prinzip nicht. Beispiele:
+ Die türkische Polizei knüppelte zu Beginn mit brutaler Gewalt friedliche Demonstranten nieder, die nichts anderes wollten, als ihre Meinung öffentlich zu äußern.
+ Journalisten wurden von der Polizei zum Teil schwer verletzt und zum Teil festgenommen (auch ausländische Journalisten).
+ Mehrere Twitter-Nutzer wegen der Verbreitung „irreführender und beleidigender Informationen“ inhaftiert wurden.
+ Die Berichterstattung in der Türkei über die Proteste wird beschnitten. Gegen einige Fernsehsender, die über die Proteste berichteten, wurden angeblich Geldstrafen verhängt.
+ Erdogan bezeichnet die Demonstranten als „Çapulcu“ und Twitter als „Plage“. Besser kann man seine Verachtung gegenüber dem Recht der freien Meinungsäußerung nicht ausdrücken.
Wir sind Zeuge eines der beschämendsten Momente in der türkischen Geschichte. Verantwortlich dafür ist die Erdogan Regierung und nicht die westlichen Leitmedien, bei allen Unsinn, den sie über die türkischen Proteste verbreiten (dürfen).
Er kennt sich also mit gewaltbereiten Protestierenden aus.“ Eine Unterstellung, die nicht hingenommen werden kann. Als hätte alles mit der Gewaltbereitschaft der Gezi-Aktivisten angefangen. Die systematische Vereinnahmung jeglicher Insitutionen – insbesondere der Medien – wird hier völlig verschwiegen. Die Strafe an Halk TV, die gefangenen Ärzte, die die verletzten Aktivisten behandelten, die tausenden Journalisten im Gefängnis. Die Verniedlichung von Erdogans „Mängel“ und „Fehler“ kann hier nur noch als linientreue Propaganda interpretiert werden. Vom Migazin hätte ich mehr Qualität und Gerechtigkeitssinn erwartet.