Kein offener Dialog
Türkei, Istanbul, Gezi Park, Religion & Erdogan
Seit drei Wochen demonstrieren verschiedene Gruppen – angefangen im Gezi Park am Istanbuler Taksim Platz – in mehreren Städten der Türkei gegen den türkischen Premier Recep Tayyip Erdoğan und seine Partei AKP. Eren Güvercin sprach mit Türkeikenner Pater Richard Nennstiel über die aktuellen Hintergründe der Unruhen.
Von Eren Güvercin Dienstag, 18.06.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 19.06.2013, 22:09 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Eren Güvercin: Pater Richard, Sie haben ihr Pastoralpraktikum in Istanbul gemacht und eine Zeit lang in der deutschen Gemeinde in Sisli gearbeitet. Wie beurteilen Sie die chaotische Situation in Istanbul?
Richard Nennstiel: Meines Erachtens war die Situation in Istanbul schon einige Zeit angespannt. Durch den Zuzug aus Anatolien hat sich die Sozialstruktur Istanbuls geändert. Istanbul ist eine Millionenstadt, aber keine Weltstadt mit einer großen Zahl von verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen. Abgesehen von einigen Stadtteilen, ist Istanbul eine rein türkische Stadt. Besuchen Sie einmal die Neubaugebiete.
Pater Richard Nennstiel lebt zurzeit im Dominikaner-Konvent in Hamburg und leitet dort das Dominikanische Institut für christlich-islamische Geschichte, das sich mit der Geschichte des christlich-islamischen Dialoges beschäftigt. Er hat sein Pastoralpraktikum in Istanbul gemacht und für einige Zeit in der deutschen Gemeinde in Şişli gearbeitet. Er beschäftigt sich aktuell mit der Geschichte der Dominikaner im Osmanischen Reich und promoviert gegenwärtig an der Universität Bonn im Bereich Kirchengeschichte zur Geschichte der Dominikaner in Istanbul während des Ersten Weltkrieges. Im Januar 2012 wurde Pater Richard von Erzbischof Dr. Werner Thissen zum ersten Islambeauftragten des Erzbistums Hamburg ernannt.
Diese Änderung der Sozialstruktur hat den Anspruch der alten Eliten in Frage gestellt. Die Zugezogenen aus Anatolien sind wirtschaftlich und auch bildungsmäßig erstarkt. Sie stellen eine Herausforderung für die „säkulare” Elite dar. Besonders die Frage nach dem Einfluss und der Bedeutung der Religion im öffentlichen Raum ist sehr umstritten. Die Frage des Alkohols ist auch eine Symbol für diese Frage. Warum soll die Religion eine solche Bedeutung bekommen. Stellt sie nicht den säkularen Charakter der Türkei in Frage. Die Frage der Bedeutung der Religion für das öffentliche Leben ist meines Erachtens noch nicht geklärt. Aber einen offen Dialog zwischen den beiden Lagern gibt es kaum. Weil es eben um viel mehr geht. Es geht auch um Fragen der Kultur, der politischen Einflussnahme und letztlich auch um wirtschaftliche Macht. All dies ist in den letzten Jahren in Bewegung gekommen. Der Konflikt bricht so radikal auf, weil es lange – und immer noch – ein großes Misstrauen verschiedener Gruppen gegeneinander gibt.
Anfangs wurde die Erdoğan-Regierung von Europa für ihren Reformeifer gelobt. Nun sprechen viele Beobachter in Deutschland von einem diktatorischen bzw. autoritärem System Erdoğan. Hat sich der politische Kurs der Erdoğan-Regierung so sehr verändernt in der letzten Zeit?
Nennstiel: Ich glaube nicht, dass sich der Kurs der Erdoğan-Regierung geändert hat. Die Türkei hat in den letzten Jahren einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung genommen. Dieser Aufschwung hat alle Bereiche erfasst. In Istanbul wurden verschiedene Universitäten neu gegründet, die neuen Medien haben Möglichkeiten der Kommunikation eröffnet, die so noch nie bestanden. Ministerpräsident Erdoğan ist in demokratischen Wahlen von den Wählern in seinem Amt bestätigt worden. Die Opposition gegen Erdoğan ist ja nicht nur sachlich bestimmt. Erdoğan wird geliebt, aber eben auch gehasst. Dieser emotionale Aspekt bestimmt teilweise die Diskussion. Man ist für ihn oder gegen ihn. Aus! Und dieses Lagerdenken drückt auf die Entwicklung der Türkei. Erdoğan ist nicht der Einzige, der zu einer gewissen Polemik neigt.
Erdoğan will die Türkei weiter entwickeln. Er neigt aber zu einer sehr patriarchalen Form der Politik. Staatspräsident Gül hingegen ist auch durch seine Jahre im Ausland wesentlich sachlicher in vieler Hinsicht. Natürlich versucht jede Regierung ihr Programm umzusetzen, aber sie sollte versuchen, ein Einvernehmen mit der Andersdenkenden zu finden.
Einige Türkeiexperten finden in den deutschen Medien viel Raum, um ihre teils einseitige Sicht auf die Dinge zu präsentieren. Manch einer spricht davon, dass ein „Koransystem” in Schulen integriert wurde, die Einschränkung des Alkohohlverkaufs wird genannt. Kurz: Erdoğan verfolge langfristig eine „geheime Agenda”. Sie haben als Christ in Istanbul gelebt, sind immer noch regelmäßig dort. Können Sie diese Skepsis verstehen oder stimmen Sie dem gar zu?
Nennstiel: Die Frage der Religion und der Religionsfreiheit ist in der Türkei sehr komplex. Das hat historische Wurzel, die bis in die Gegenwart reichen. Allerdings hat sich die Situation der Christen unter der AKP Regierung verbessert. Die sogenannten säkularen Regierungen haben über Jahre in diesem Bereich nichts bewegt. Erst unter Erdoğan hat eine Entspannung stattgefunden unter dem kritischen Blick der säkularen und nationalen Kräfte. Durch Zugeständnisse an Christen sahen sie die nationale Einheit der Türkei in Gefahr. Erdoğan war und ist in einer schwierigen Lage. Jedes Zugeständnis im Bereich der Religion- somit auch der christlichen – trifft auf den massiven Widerstand der nationalen Kräfte. Im Westen gibt es häufig die einfache Gleichung bezüglich der Türkei: säkular = gut / religiös = schlecht. Diese Einschätzung offenbart eine eklatante Unkenntnis der türkischen Geschichte und Gesellschaft.
Die Entwicklung im Bereich der Religionsfreiheit wird noch Jahre dauern, weil es in diesem Bereich um grundsätzliche Fragen geht. Ich glaube aber, dass eine positive Entwicklung zu verzeichnen ist. Was ein „Koransystem“ ist oder sein soll entzieht sich meinem Wissen. So ein Begriff sagt mehr über den Urheber als über die Sache aus. Aber um Sachverhalte zu diskreditieren, sind manche Menschen sehr einfallsreich.
Die Türkei ist ein islamisch geprägtes Land. Aber gibt es in der Türkei einen „freien Islam” – einen Islam, der nicht durch staatliche Behörden kontrolliert wird? Der Islam emanzipiert sich, entwickelt sich, findet seine reichen Wurzeln in der osmanischen Tradition wieder. Er wird wieder öffentlich. Für Frauen und Mädchen wird der Islam zu einer Kraft der Emanzipation. Das wird oft schlicht verkannt. Aktuell Ausland Interview
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„Es gibt also im Grunde zumindest in vielen Fällen doch keine freie Wahl der Frau oder wollen sie das leugnen ?“
Also heute haben die Frauen z.B. die Wahl ein Kopftuch zu tragen, was früher schlichtweg verboten war. Warum haben Sie Probleme mit der Liberalisierung der Gesellschaft?
Diplom-Psycho-Loge 2.Grades
Nun, „Diplom Psycho-Loge“ zeigt durchaus, dass er intime Kenntnisse über die frühere Türkei hat … über die Eliten und die weniger Begünstigten … aber warum um Himmels Willen wird hier immer das eine Unrecht mit dem/einem Anderen Unrecht zu rechtfertigen gesucht.
Die Untaten der kemalistischen Eliten rechtfertigen doch nicht, dass heute unter Erdogan die Pressefreiheit am Boden liegt und Demonstranten niedergeknüppelt werden.
Josef Özcan (Amnesty International / Diplom Psychologe ersten Ranges)
1.Ich frage mich, ob Herr Nennstiel tatsächlich in Istanbul war. Kein Mensch, der diese Stadt kennt, kann behaupten, es sei „keine Weltstadt mit einer großen Zahl von verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen“. Gerade dieser Vielfältigkeit und diesem Reichtum verdankt sie ihre unvergleichliche Einzigartigkeit.
2. Ohne auf das Thema „Stellung der Frau im Islam“ einzugehen, allein die Anmassung Erdogan’s mir als Mensch und als Frau vorzugeben, wieviel Kinder ich gebären soll, ob ich (selbst im Falle einer Vergewaltigung) abtreiben kann oder nicht, wundere ich mich doch sehr, wenn hier über meine angebliche „Emanzipation und Freiheit“ gesprochen wird.
3. Jegliche brutale Gewalt (mittlerweile mehrfach bewiesen) geht von der Polizei aus, die die Befehl Erdogan’s umsetzen !! Das Volk hat keine Gasbomben und Wasserwerfer !! Daher ist für mich der Satz „Auch die Demonstranten müssen sich weiterhin klar gegen Gewalt aussprechen – auch die aus dem Lager der Demonstranten“ eine Respektlosigkeit ohne gleichen gegenüber all den Verletzen, die in den letzten Wochen auf übelste Weise zugerichtet und sogar getötet wurden !
zu: ShelStanbul
Richtig:
Frauen müssen selbst und selbstbestimmt über ihre Rechte und Pflichten entscheiden dürfen … Eine Religion muss sich freiheitlich-demokratischen Grundprinzipien beugen … und wenn sie das nicht tut muss sie darauf verpflichtet werden … Das Recht der Religionen hat da zu enden, wo sie die Freiheitsrechte der Menschen unterdrückt … dabei stehen vor allem Frauen in Gefahr der Unterdrückung zu unterliegen …
Josef Özcan
Die Religion muss da in ihre Schranken verwiesen werden, wo sie nicht auf der Höhe der Zeit ist was die „Freiheitsrechte“ der Menschen angeht.
Insofern kann es tatsächlich keine absolute „Religionsfreiheit“ geben. Religionen müssen sich den allgemeinen Menschenrechten unterordnen, ob „sie“ das nun einsehen oder nicht … keine Religion hat das Recht Frauen zu unterdrücken, keine Religion hat das Recht die Menschen in der Wahrnehmung ihrer individuellen Wachstumsmöglichkeiten zu beschränken … das gilt für den Islam und alle anderen Religionen auch.
Insofern kann und darf es natürlich keine absolute „Religionsfreiheit“ geben.
Josef Özcan
Vielen Dank für diese sachliche Aussage.
Endlich mal ein echter Türkei-Kenner.
@SheIstanbul: Das Abtreibungsrecht in der Türkei ist um einiges liberaler als in Deutschland. Erdogan hat keiner Frau befohlen, wieviele Kinder sie bekommen muss. Ein statistischer Durchschnittswert zur Geburtenkontrolle ist erlaubt und von mir sogar gewünscht. Es gibt Gründe ihn zu kritisieren, deswegen muss man den Medien aber nicht alles nachplappern.