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Bildungsstudie

Entscheidend ist der soziale Hintergrund und nicht die Herkunft

Der Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund an einer Schule wirkt sich nicht negativ auf die Leistung aus. Entscheidend sind sozialer Hintergrund der Schüler. Das sind Ergebnisse einer aktuellen Studie des SVR-Forschungsbereichs.

Freitag, 19.07.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 08.01.2020, 15:45 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Deutschlandweit geht jeder fünfte Grundschüler auf eine segregierte Schule; besonders hoch ist der Anteil segregierter Schulen in Großstädten. Hier besuchen knapp 70 Prozent der Kinder mit Migrationshintergrund bereits im Grundschulalter eine Schule, an der mehrheitlich Kinder nichtdeutscher Herkunft unterrichtet werden. In mittelgroßen Städten (mit mehr als 100.000 Einwohnern) gilt dies für 57 Prozent der Grundschüler mit Migrationshintergrund, in Kleinstädten beträgt der Wert rund 41 Prozent.

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Damit legt eine aktuelle Studie des Forschungsbereichs des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), die am Donnerstag in Berlin vorgestellt wurde, detaillierte bundesweite Daten zum Ausmaß der Segregation an Schulen vor. „In allen Regionen Deutschlands lernen Schüler nichtdeutscher Herkunft besonders häufig an segregierten Schulen und haben damit oft die schlechteren Startchancen“, sagte Dr. Jan Schneider, Leiter des SVR-Forschungsbereichs.

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Entscheidend ist der soziale Hintergrund
Laut Studie wirkt sich Segregation negativ auf den Lernerfolg von Schülern mit und ohne Migrationshintergrund aus. Es ist aber nicht der Zuwandereranteil an einer Schule bzw. in einer Schulklasse, der die Leistung einzelner Schüler hemmt. Entscheidend sind vielmehr die sozioökonomischen Bedingungen des Elternhauses und insbesondere das durchschnittliche Leistungsniveau der Mitschüler.

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Für die Studie, die von der Stiftung Mercator gefördert wurde, hat der SVR-Forschungsbereich eine Sonderauswertung der jüngsten Schulleistungsuntersuchungen IGLU und TIMSS durchgeführt sowie Schulstatistiken einzelner Bundesländer und des Mikrozensus ausgewertet. Im Mittelpunkt stehen Handlungsempfehlungen, wie Schulen mit hohem Zuwandereranteil bessere Lernbedingungen schaffen können.

Recht auf Bildung noch nicht Realität
„Alle Kinder haben ein gleiches Recht auf Bildung. In Deutschland ist diese Vision noch nicht Realität. Nach wie vor schneiden Kinder mit Zuwanderungsgeschichte in der Schule im Durchschnitt schlechter ab als Kinder ohne“, sagte Prof. Dr. Bernhard Lorentz, Vorsitzender der Geschäftsführung der Stiftung Mercator. „Daher setzen wir uns in unseren Projekten für mehr Chancengleichheit ein und wollen den Transfer in die Breite begleiten: So unterstützt das Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache zum Beispiel eine bessere Lehrerausbildung für die Arbeit mit Schülern unterschiedlicher Herkunft.“

Ursache der Entmischung der Schülerschaften ist laut Erhebung vor allem die wohnräumliche Segregation in den Kommunen. Verschärft wird die Segregation durch die elterliche Schulwahl: Besonders bildungsnahe Eltern – mit und ohne Migrationshintergrund – tendieren dazu, Schulen mit hohem Zuwandereranteil zu meiden. Dadurch steigt an einzelnen Schulen der Anteil der Schüler, die aufgrund ihres Elternhauses schlechtere Lernvoraussetzungen haben; sehr zum Nachteil vieler Schüler mit Migrationshintergrund. „Die lernschwächsten Schüler brauchen die stärksten Schulen“, nennt Jan Schneider als Ziel. „Davon sind wir derzeit noch weit entfernt.“

Lernbedingungen verbessern
Da eine ausgewogenere Mischung von Schülern nicht „von oben“ erzwungen werden kann, empfiehlt der SVR-Forschungsbereich als erfolgversprechenden Ansatz, die Lernbedingungen an segregierten Schulen strategisch und ganzheitlich zu verbessern. Die Handlungsempfehlungen basieren auf den jüngsten Erkenntnissen der Schulentwicklungsforschung und wurden in einem intensiven Austausch mit Experten aus Schulpraxis, Verwaltung, Bildungspolitik und Zivilgesellschaft erarbeitet. Die vorgeschlagenen Maßnahmen haben sich in der Praxis an segregierten Schulen bewährt; die Studie des SVR-Forschungsbereichs versteht sich somit auch als wissenschaftlich fundierte Handreichung für Praktiker.

Laut Studie sind Wege aus der schulischen Segregation vor allem dann vielversprechend, wenn sowohl die einzelnen Schulen als auch die zuständigen bildungspolitischen Akteure konzertiert handeln. „Eine Schlüsselrolle spielt die Interkulturelle Öffnung der segregierten Schulen“, betonte Schneider. Das bedeute, die immer noch vorherrschende Orientierung am „deutschen Durchschnittsschüler“ in allen Bereichen des schulischen Alltags schrittweise an die vielfältige Schülerschaft anzugleichen. „Eine erfolgreiche Interkulturelle Öffnung kommt letztlich allen zu Gute: Sie verspricht bessere Bildungschancen für eine immer stärker von Diversität geprägte Schülerschaft.“

Systematische Fortbildungsplanung für Lehrer
Damit die Interkulturelle Öffnung gelingt, müsse das gesamte Lehrerkollegium einbezogen werden. Dazu gehörten erstens eine systematische Fortbildungsplanung für alle Lehrkräfte, um interkulturelle Kompetenz und ihre Umsetzungsstrategien an der gesamten Schule zu verankern. Zweitens müssten Lehrer die durchgängige sprachliche Bildung der Schüler in allen Unterrichtsfächern unterstützen. Drittens müsse sich die Interkulturelle Öffnung auch in einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Eltern niederschlagen. Da Schulerfolg in hohem Maße vom Elternhaus abhängig sei, müssen Familien über Kooperative Elternarbeit aktiv in die schulische Entwicklung der Kinder einbezogen werden.

Grundvoraussetzung für verbesserte Lernbedingungen an segregierten Schulen, so der SVR-Forschungsbereich weiter, ist eine langfristige Unterstützung der Schulen durch die zuständigen Schulbehörden und Kultusministerien. Dies gelte vor allem für die Qualifizierung des Schulpersonals, die Unterstützung von schulischen Kooperationen und die Einführung von Sozialindizes als Bemessungsgrundlage für die Mittelzuweisung.

Nur an jeder fünften Hochschule
Derzeit gehört es für Lehramtsstudierende nur an jeder fünften Hochschule zum Pflichtprogramm, sich pädagogische Kompetenzen im Umgang mit einer heterogenen Schülerschaft anzueignen. „Die Vielfalt der Schülerschaft ist an Schulen in Deutschland längst der Normalfall. Lehrer und Erzieher müssen darauf besser vorbereitet werden“, so Schneider. Der Umgang mit Heterogenität sollte bundesweit fester Bestandteil der Lehrerausbildung werden, dies gilt insbesondere für die Sprachbildung.

Download: Die Studie des SVR-Forschungsbereichs „Segregation an deutschen Schulen. Ausmaß, Folgen und Handlungsempfehlungen für bessere Bildungschancen“ kann unter svr-migartion.de kostenlos heruntergeladen werden.

Eine weitere Voraussetzung für eine gelingende Interkulturelle Öffnung sei eine nachhaltige schulische und außerschulische Kooperation, z.B. mit Sportvereinen und Kultureinrichtungen. Die Erfahrung aus Modellprojekten zeige, dass Kooperationen besser gelingen, wenn sie langfristig durch Akteure vor Ort und durch die Kultusministerien unterstützt werden. Daher empfiehlt der SVR-Forschungsbereich die Förderung kommunaler Bildungslandschaften. Diese Netzwerke aus Schulen, Sportvereinen und Einrichtungen der Jugendhilfe organisieren z.B. Hausaufgabenhilfe, kulturelle und sportliche Aktivitäten sowie vielfältige Angebote für Eltern.

Wenn die nötigen Mittel vorhanden sind…
Segregierte Schulen, in denen häufig viele sozial benachteiligte Schüler lernen, benötigten zusätzliche personelle und materielle Ressourcen. Nur so könnten sie ein besseres Lernumfeld bieten. Um segregierte Schulen bedarfsgerecht zu finanzieren und eine Interkulturelle Öffnung zu ermöglichen, sollten sie auf der Grundlage eines sog. Sozialindex zusätzliche Mittel erhalten. Bremen und Hamburg praktizieren dies bereits seit Jahren.

„In allen Teilen Deutschlands gibt es Beispiele dafür, dass Schulen eine positive Wende schaffen können, wenn die nötigen Mittel vorhanden sind und Schulleitung und Lehrerkollegium Konzepte engagiert umsetzen“, sagte Jan Schneider. Das komme den Schülern zugute, die bessere Lernbedingungen vorfinden, aber auch den Lehrern, deren Arbeitsbedingungen sich wieder verbessern. Die Studie nennt vier Beispiele von segregierten Schulen in Hamburg, Bremen, Dortmund und München, an denen die Interkulturelle Öffnung gelungen sei.

„Wir brauchen wesentlich mehr Schulen, die diesen Weg beschreiten und dabei konsequent von Politik und Verwaltung begleitet werden“, erklärte Bernhard Lorentz. „Wenn Schulen, Schulbehörden, Kultusministerien und die Zivilgesellschaft gemeinsam verstärkte Anstrengungen unternehmen, kann es gelingen, eine Breitenwirkung zu erzielen und auch für Schüler mit Migrationshintergrund Chancengleichheit herzustellen.“ (svr/sb) Gesellschaft Leitartikel Studien

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