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Rezension zum Wochenende

Hier fremd geblieben, da fremd geworden

Harun ist ein Externer, ein geheimer Fremder vom Ende der Welt, vielleicht auch vom Anfang. Der Held in İpek Demirtaş’ zweitem Roman "Wintermädchen. Der Fremde zwischen zwei Welten" bewegt sich in anderen Kreisen als die Protagonisten klassischer Migrationsgeschichten.

Von Sabine Adatepe Freitag, 19.07.2013, 8:26 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 24.07.2013, 0:14 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

„Vom türkischen Gastarbeiterkind zum hochbezahlten deutschen High Potential“, heißt es an einer Stelle über den Mann Ende 30, der zu den grauen Herren gehört, die mit ihren Notebooks und Blackberrys mehr auf den Flugplätzen dieser Welt zu Hause sind also sonst irgendwo. Zu den wenigen Damen, die in dieser Kategorie Global Player höchsten Ranges mitspielen, gehört die Autorin selbst. Sie weiß, wovon sie schreibt.

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Die Frage nach dem Zuhause ist eine der wenigen, die Harun Kara, der „es“ geschafft hat und dazugehört, sich in seltenen stillen Stunden einmal stellt. Heimat? Harun lebt „fern seiner Wurzeln“, aber nicht geschützt vor ihnen: „Wurzeln zu haben, sie zu fühlen, tief in sich, konnte nicht weniger schmerzhaft sein, als wenn man keine Wurzeln hätte, es stattdessen nur eine Leere gäbe. Dann wäre der Schmerz wohl Sehnsucht, Sehnsucht nach etwas, das die Leere füllte.“ Nach 17 Jahren findet er seine Vergangenheit wieder, knüpft an die Wurzeln an, die er gleich nach dem Abitur schmerzhaft hatte kappen müssen: Vater, Mutter und der jüngere Bruder Ibrahim gingen in die Türkei zurück, wo Harun verheiratet werden und den klassischen Weg Ehe-Arbeit-Familie gehen sollte, doch da war er längst in anderer Richtung unterwegs.

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Warum nur funktionierte sein Leben nicht wie sein Job, in dem es vor allem darum ging zu funktionieren? Unternehmen beurteilen, ihren Wert ermitteln, Prozesse zum Verkauf vorbereiten und begleiten, als „Global Prime Player“ einer Investmentbank ist Harun gefragter Spezialist und lieber auf Reisen als in seinem Appartement mit Dachterrasse in einer deutschen Großstadt, die ungenannt bleibt. Flüchtet er? Niemand wartet nirgendwo auf ihn. Bis er den seelenverwandten Georg auf einem Flug nach Paris kennenlernt, ist da nur Wolfgang, der Theologe und Leiter einer christlichen Wirtschaftsakademie, mit dem er persönlichen Austausch pflegt, selten genug. Einen konkreten Mangel verspürt er nicht, auch nicht den nach einer Partnerin, denn er hat Ines, die mehr von ihm will als er von ihr. Und doch ist da die große Leere. Gedanken an seine Vergangenheit im ostanatolischen Dorf, an die nun in Istanbul lebende Familie verdrängt er systematisch. Er lebt in ständiger Gegenwart. In Georgs Satz, er habe das Gefühl, nicht er lebe sein Leben, sondern sein Leben ihn, findet er sich sofort wieder, ebenso in Georgs Formulierung, er sei ein „synthetischer Türke“. Muslimischer Deutscher mit hervorragenden Sprachkenntnissen in Englisch und Französisch zu sein, gereicht in der globalisierten Elite durchaus zum Vorteil. Schwächen bei anderen registriert er wie von einem anderen Stern.

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Er wirkt nicht kalt oder gar gefühllos oder unsensibel, nicht einmal aalglatt, und doch fehlt dem erfolgreichen Finanz- und Businessman entscheidend Menschliches. Das ändert sich, als er Elaine kennenlernt, die Frau eines mittlerweile in Barcelona lebenden Schulfreundes. Als Literaturübersetzerin teilt sie eine Neigung Haruns, und rasch erkennt er in ihr, der Französin, die heimliche Fremde, ein Spiegelbild seiner selbst, doch als Frau seines Freundes ist sie für ihn tabu. Denkt er. Und quält sich ein Jahr lang mit den Gedanken an und der wachsenden Zuneigung für sie. Er funktioniert weiter, keimende Gefühle tun dem Professional keinen Abbruch im Job. Dann kommt der Anruf, der doch alles aufreißt, was vergessen und begraben schien: Dem Vater in Istanbul geht es schlecht. Harun folgt dem Ruf der Familie heim. Zum ersten Mal im Leben fliegt er nach Istanbul, gräbt sein Türkisch wieder aus, und fühlt sich plötzlich geborgen, obwohl die Versöhnung mit dem Vater zunächst misslingt. „Alle Hektik ist eigentlich Attitüde“, heißt es über die Metropole am Bosporus. Haruns Melancholie paart sich mit hüzün, der besonderen Schwermut der Stadt, die hier allerdings nicht beim Namen genannt wird.

Die selbst im kurdischen Osten der Türkei aufgewachsene, heute in Dortmund lebende und im High Management tätige Autorin scheint sich selbst erst wieder in der Heimat ihrer Kindheit zurechtfinden zu müssen, so sind zahlreiche türkische Namen und Ortsbezeichnungen fehlerhaft wiedergegeben, ein „Hoca“ – der Duden verzeichnet den „Hodscha“ seit Jahren – wird als „eine Art Pastor“ beschrieben, das Istanbuler Szeneviertel Ortaköy mutiert zu Ortogöy, Fenerbahçe zu Fenabace. Die türkischen Sonderzeichen fehlen ganz (aus Ayşe wurde gar Aiyshe). Bei deutschen Autoren, die nur kurz zu Gast in der Türkei waren, wären solche Ausrutscher ärgerlich, aber verzeihlich, bei einer Autorin mit interkulturellem Anspruch sind sie unverständlich und nicht durch die ansonsten ausgefeilte, durch Präzision bestechende Sprache wettzumachen. Oder empfindet sich die Autorin noch deutscher als ihr Held, der sich wundert, überhaupt noch im Türkischen klarzukommen nach so vielen Jahren Abstinenz?

In Rückblenden erzählt die Autorin vom Dorfleben in Haruns Kindheit, konstruiert dabei ein extrem hinterwäldlerisches Dorf, in dem der Neffe draußen in einem Verschlag hausen muss und nicht einmal die Männer alphabetisiert sind, von seiner ersten Zeit in Deutschland bei den ihm fremden Eltern, vom Schulbeginn, vom Deutschlernen und von der rasanten Entfremdung von der Familie im „Gastarbeitermilieu“, je mehr er sich ins deutsche Umfeld integriert. Philosophische Miniexkurse über Heimat, Tod, Gott und die Welt durchziehen den Text mit lesenswerten Denkanstößen.

Am Ende, als der Vater stirbt und Harun mit der Familie die Überführung ins Dorf begleitet, fallen Vergangenheit und Gegenwart zusammen. „Der Tod besiegelt alles.“ Seit der ersten Woche in Istanbul weiß Harun, dass man „Grenzen überschreiten kann, wenn der Zeitpunkt gekommen ist.“ Erst auf der langen Fahrt gen Osten verliert er das Gefühl, überall und immer ein Fremder zu sein. Es gibt Dinge, das erkennt er nun, die „irgendwann doch noch ihre Zeit bekommen. Andere Dinge nicht. Damit musste man leben.“ Im Dorf aber ist Harun dann doch wieder fremd, die Trauer der Menschen dort ist nicht seine. „Dort ein fremd Gewordener, hier ein fremd Gebliebener“, mehr noch: Ein Fremder im eigenen Leben ist und bleibt der Deutsche aus dem kurdisch geprägten Sivas mit dem in der Türkei doch eher an der Schwarzmeerküste gebräuchlichen Namen Harun, den Schmerz darüber fühlt er, belässt ihn aber an der Oberfläche des Intellekts. Ganz am Ende findet er dann im Dorf doch noch inneren Frieden und den Anstoß, seinem Leben eine Wende zu geben.

Ein behutsamer Eingriff in Sprachverliebtheit (ein Abend kann nicht schwelgen und ein Erlebnis nicht beschwingt sein etc.), eine Straffung allzu langatmiger Passagen und Streichung ausufernder Redundanzen, mehr direktes Erzählen statt Beschreibung in Reflexionen und inneren Monologen wären der Lesbarkeit zuträglich gewesen. Inhaltlich aber füllt das Buch eine Leerstelle im Migrationsmosaik: Ein kosmopolitischer Yuppie mit kurdisch-türkischen Wurzeln, der nicht zwischen, sondern IN mindestens zwei Welten zu Hause ist. Aktuell Rezension

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  1. Affron sagt:

    Danke für die sehr gute Rezi.