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Kulturelle Identität

„Stör’ meine Kulturkreise nicht“

Der Zwang des Kollektivs: Warum kulturelle Identität kein harmloser Teamgeist, sondern exklusives Konstrukt ist - von Tobias Prüwer.

Von Tobias Prüwer Freitag, 19.07.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 24.07.2013, 0:14 Uhr Lesedauer: 14 Minuten  |  

„Das Ich ist kein Gegenstand.“ Ludwig Wittgenstein 1

Leitkultur 2 und Integration, Kampf der Kulturen und Identitäre, Mehrheitsgesellschaft und Schicksalsgemeinschaft: Immer wieder ploppen in bundesdeutschen Debatten neue Begriffe auf oder werden längst begraben geglaubte Konzepte zu neuem untoten Leben erweckt – „das grundlegende Kulturverständnis jedoch verändert sich kaum. Ob nun die bereichernden Qualitäten der Multikultur gepriesen werden oder Konservative auf die deutsche ‚Leitkultur’ pochen, immer bleibt Johann Gottfried Herder der unsichtbare Pate des hiesigen Kulturdiskurses. Noch die avanciertesten postmodernen Konzeptionen von ‚Transkultur’ arbeiten sich an der hergebrachten Vorstellung ab, Kulturen seien unabhängige Gebilde mit festen Grenzen und gleich bleibendem Kern.“ 3

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In reichlich pathetischer Prosa dreht sich das Identitätskarussell mit der 2012 in Frankreich aufgetauchten, selbst ernannten Identitären Bewegung in eine weitere Pirouette hinein. Von deutschen Aktivisten übernommen, machten sie bisher mit eher spärlichen Aktionen aber reichlich Pathos von sich reden: „Unsere Generation ist das Opfer der 68er […] Wir lehnen die Geschichtsbücher ab und wollen unsere Identität selbst wiederfinden. […] Wir sind die Bewegung, die auf unsere Identität, unser Erbe, unser Volk und unsere Heimat schaut und erhobenen Hauptes dem Sonnenaufgang entgegengeht!“ 4 Ihre Forderungen sind ein Musterbeispiel für die Konstruktion kultureller Identität. Im Abwehrkampf einer „Selbstabschaffung“ Deutschlands und vermeintlich von einer internationalistischen und individuellen Perspektive bedroht, gibt diese Gruppe die Wacht am Rhein – und bedient rassistische Ressentiments. Ohne näher auf sie einzugehen, soll im Text vielmehr betrachtet werden, was kollektive Identität, die oft im Gewand kultureller Kongruenz daherkommt, überhaupt sein soll.

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Kollektiv-Identität: Heimat in unheimlicher Welt
In den 1980ern kam die Rede von der kollektiven Identität massenhaft auf und sie füllte schließlich jene gemeinschaftsstiftende Lücke, die mit dem Ende des Kalten Krieges entstanden war. Als mit „Ostblock“ und „Westmächten“ noch zwei politische Großgegner gegenüberstanden, konnten sich Menschengruppen wie Staaten leicht in einem Raster verorten, davon Selbstlegitimation und Zughörigkeit ableiten. Das wurde mit dem Fall des Eisernen Vorhangs schwieriger. Zudem brachen weltweit verschiedene Konfliktlinien auf, die zuvor noch durch das Blocksystem gedeckelt wurden, oder einfach erst jetzt ins weltöffentliche Interesse rückten.

Immer dann, wenn eine „Krise der Identität“ angenommen wird, kocht das Konzept vom Identitätskollektiv – sei es in der Staatenwelt oder innerhalb eines Landes – hoch. Im Festhalten des Einzelnen an einem größeren Rahmen, wird nie dezidiert deutlich, was Identität eigentlich sein soll. Das braucht es offensichtlich auch nicht, denn findet sich die Horde erst einmal unter ihrer Standarte zusammen, fühlt schon jeder, was Sache ist. In Europa verfolgen derzeit mehr als 30 Regionalparteien separatistische Bestrebungen von Schottland bis Korsika, 5 die sich alle die Bewahrung ihrer kulturellen Identität bemühen. Auch im Jargon der Mitte, der angesichts des heraufziehenden Bundeswahlkampfes wieder hochfrequenter und lauter zu hören ist, kommt die kollektive Identität zum Tragen. 6

Als positiv gesetzt und unhinterfragt behauptet, aber unbestimmbar, hat die kollektive Identität beste Chancen, weiterhin Dreh- und Angelpunkt öffentlicher Debatten und Scheingefechte zu sein. In seinem lesenswerten Buch zum Thema bringt Lutz Niethammer die Mengelage aus realen Bedingungen und identitären Begehren auf folgenden Punkt: „daß es weder Europa noch dessen Nationen mehr in der hergebrachten Weise gibt, sondern daß sie […] durchsetzt sind von Inseln von Zuwanderern, die sich oft dem späteuropäischen Pragmatismus zugleich sozial ausgesetzt und kulturell überlegen fühlen. Der von ihnen und von Minderheiten in den Mehrheitsgesellschaften beanspruchte Multikulturalismus liegt im Widerstreit mit dem kulturellen Förderalismus der europäischen Nationalstaaten, die mit breiten Mehrheiten noch an Nationalkulturen festhalten, die zugleich immer mehr zur Fiktion werden. In diesem Strudel von staatlicher Souveränität, nationaler Selbstbestimmung, Menschenrechten und kultureller Selbstbestimmung wird kollektive Identität von jedweder Seite eingefordert, denn niemand will ausbuchstabieren, was das bedeutet und wer für die Kosten aufkommt. Meist werden im öffentlichen Diskurs sogar sorgenvoll Identitätskrisen […] auch für große und komplexe Kollektive ausgemacht, und es wird, zumindest im Subtext, streng ihre Überwindung, das Erwachsenwerden von Nationen und sogar die Rückkehr zu einer festen Identität, angemahnt. Als hätte es die je gegeben.“ 7

A rose is a rose is a rose
Identität ist ein Begriff aus der Logik und meint dort soviel wie Übereinstimmung, Wesensgleichheit, Kongruenz. Seit der Antike nun treibt diese Idee der Deckungsgleichheit die Philosophen um, denn was heißt das auf die reale Welt übertragen? Man kann vielleicht noch eher von zwei Steinen behaupten, sie seien gleich, weil beide aus Granit sind und dasselbe Gewicht besitzen. Bei komplexeren Weseneinheiten wie zwei Hauskatzen oder den Nachbarn, ergibt das Feststellen von gegenseitiger Übereinstimmung schon keinen Sinn mehr.

Dem Soziologen Jürgen Habermas zufolge ist Identität „jene eigentümliche Fähigkeit sprach- und handlungsfähiger Subjekte, auch noch in tiefgreifenden Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur, mit denen sie auf widersprüchliche Situationen antworten, mit sich identisch zu bleiben“. 8 Das Wort „eigentümlich“ ist hier ein bezeichnender Hinweis, deutet es doch an: Erklären kann Habermas auch nicht, was er genau meint oder wie Identität denn nun funktioniert. Und doch hat sie sich als für das Subjekt festen Ort des Egos, als eine Art Ichbewusstsein nicht nur im Sprachgebrauch durchgesetzt. Was es heißen soll, wenn man sagt: „Ich bin mit mir selbst identisch“, bleibt dabei ebenso unbeantwortet wie die Frage, was es helfen würden, eine Antwort darauf zu kennen. „An Vorstellungen von Identität“, hat die Erziehungswissenschaftlerin Käthe Meyer-Drawe formuliert, „muß ein Wesen scheitern, das altert und das sterblich ist.“ 9 So leer aber und unterbestimmt das Konzept ist, so erfolgreich ist das Konzept. Wie sich gleich bei der Kollektiv-Variante zeigen wird: Es sind die Leere und Floskelhaftigkeit, die Unterbestimmung und Unbestimmbarkeit, die zu Boom und Durchbruch des Identitätsprinzips in öffentlichen Diskursen und gerade auch der Politik verholfen haben. 10

Aus der Bildungs- und Sozialisationstheorie stammend, wurde das Identitätsprinzip neben die personale Einheit alsbald auf Kollektivzugehörigkeiten wie die Nation oder Kultur erweitert. Mittlerweile ist er in unüberschaubar vielen Zusammensetzungen und Zusammenhängen gebräuchlich. Der Identitätsbegriff wird zu Surrogat und Substitut für die verloren gegangene Wesensbestimmung des Menschen und damit zur neuen Art der (Selbst )Legitimation, was gleichfalls für den Gebrauch von kollektiver Identität zutrifft: Sie ist Ersatz „für Gemeinschaft […]: für unsere angeblich ‚natürliche Heimat‘ also, jenen Kreis, in dem wir es stets warm haben, egal wie kalt draußen der Wind bläst. Diese Heimat ist in unserer immer schneller globalisierten, privatisierten und individualisierten Welt nicht zu haben“. 11

  1. „Tagebücher 1914-16, in: Ders.: Tractatus logico-philosophicus, Suhrkamp: Frankfurt/M. 1987, S. 87-187, 175
  2. Der ursprünglich von Bassam Tibi als analytisches Mittel eingeführte Begriff erlebte ab 2000 eine Veränderung und Politisierung zur deutschen Wertegemeinschaft.
  3. Mark Terkessidis: „Nur meine Augen bleiben„, Die Zeit, 8.2.2001
  4. identitaere-bewegung.de
  5. Rainer Trampert: „Ein Gespenst geht um: Europa“, Jungle World, #48 2012, S. 3
  6. Vgl. Tobias Prüwer: „Extremismusdebatte: Ab durch die Mitte“, Novo Argumente online, 23.11.2011
  7. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000, S. 25
  8. 1976: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus: S. 93; zit. n. Heinrichs, 1999: „Identität und Geschlecht: Bildung als diskursive Praxis der Geschlechterformierung“; in: Behm, Britta L. & Heinrichs, Gesa & Tiedemann, Holger (Hg.) 1999: Das Geschlecht der Bildung – Die Bildung der Geschlechter; Opladen, S. 219–37, 221
  9. Käthe Meyer-Drawe, 2000: „Bildung und Identität“; in: Wolfgang Eßbach (Hg.): wir/ihr/sie – Identität und Alterität in Theorie und Methode; Würzburg: S. 139–50, 145
  10. Niethammer, a.a.O., S. 37
  11. Zygmunt Baumann, 2001: Gemeinschaften; Frankfurt/M., 2009: S. 23
Aktuell Meinung

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  1. posteo sagt:

    Guter Text, von einem klugen Mann, der der Verklärung nationalstaatlicher Verhältnisse genauso eine klare Absage erteilt, wie der Festlegung der Zuwanderer auf eine gedachte „Community“.

  2. Es ist die vorrangigste Aufgabe der Menschen für die Zukunft sich von jeder Art „Identitätswahn“ zu befreien.

    Das gilt für „Einheimische“ genauso wie für Migranten. Gerade auch Migranten stehen jedoch in Gefahr sich in Reaktion auf ihre Situation identitär zu panzern.
    Eine Situation, die oft dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Aufnahmegesellschaft verschließt und „das Fremde“ zur Stärkung des eigenen Identitätswahns instrumentalisiert.

    Andererseits suchen sich auch viele Migranten durch die Steigerung ihres Identitätswahns gegen die neuen Einflüsse abzuschotten, was bis zu einem gewissen Grad psychologisch nachvollziehbar ist.

    Aber es geht hier auch nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Aufklärung … es geht um die „Postmoderne“.

    Das große Welt-Projekt in Richtung der „Postmoderne“ stellt im Kern ein Projekt gegen identitäre Abschottung dar.
    Gegen den IDENTITÄTSWAHN.

    Ohne Zweifel gibt es Menschen und Kulturen, die auf diesem Weg weiter sind als Andere.

    Aber nicht jeder, der glaubt auf diesem Weg besonders fortgeschritten zu sein ist es faktisch auch. (!)
    Dasselbe gilt für Kulturen und Nationen. (!)

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International)

  3. Der Blob sagt:

    Hm, wenn aber schon die Sprache zur Identität mit dazu gehört wie soll das mit dieser „Postmoderne“ denn funktionieren wenn jegliche Nationensprache dem im Weg stehen würde? Denn Sprache ist auch aus der nationalen Gemeinschaft, früher Stammesverbänden geboren. Ob diese sprachliche Gemeinsamkeit zufällig oder absichtlich geschah ist dabei völlig unerheblich. Fakt ist das die stammeseigene Sprache ein gesellschaftliches Bindeglied war und auch heute noch ist. Sprache ist ein Basisstein der nationalen Identität. Und was passiert wenn man nicht miteinander sprechen und somit handeln kann hat man auf der Baustelle des Turmes von Babylon schon sehen können. Alles stob auseinander und ging seiner Wege.

  4. zu: „DER BLOB“

    Ich bin dankbar für jeden vernünftigen Beitrag.

    Nun, Sprache ist zunächst einmal aus dem Kontext der wechselseitigen Verständigung hervorgegangen d.h. Sprache war und ist trotz aller identitärer Überfrachtung und Instrumentalisierung vor allem ein Mittel etwas symbolisch zu erfassen, sich etwas mitzuteilen und es zu bewahren.
    Dazu eignet sich wie wir wissen jede Sprache, auch ohne „Identitätsgefühl“.
    Diesen zentralen nichtidentitären Aspekt von Sprache dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren, trotz der ständigen identitären Instrumentalisierung von „Sprache“. Uns wird eingeredet wir seien unsere Sprache(n), was natürlich Unsinn ist. Wir sind nicht unsre Sprache(n) , sondern wir haben unsere Sprache(n). Und wir können sie auch wieder abgeben und gegen andere eintauschen ohne uns selbst „abzugeben“ und zu verlieren.

    Deshalb ist es durchaus möglich seine „Muttersprache“ gegen eine neue Sprache einzutauschen ohne seine „Identität“ zu verlieren.

    Ein guter Weg im Übergang zur „Postmoderne“ was „Sprache“ betrifft wird bereits beschritten. Nämlich neben der eigenen nationalen und /oder ethnischen Sprache eine „Weltsprache“ zu etablieren. Englisch setzt sich immer weiter als eine solche Sprache durch. Sie wird heute teilweise schon im Kindergarten vermittelt.

    Natürlich lässt sich kritisieren das ausgerechnet Englisch diese Rolle übernehmen soll … denn Englisch ist letztlich eine „westliche Sprache“ … und zeigt das hier auch eine Anmaßung vorgeht.

    Josef Özcan (Diplom Psychologe / Amnesty International)

  5. BillBrook sagt:

    Die Ideologie von MultiKulti ist aber doch nichts anderes. Wie überhaupt die MultiKulti-Fans und der größte Teil der MultiKulti-Feinde sich wesentlich näher stehen, als sie wahrhaben wollen. Beide gehen von derselben Grundvoraussetzung aus: Sie sehen den Menschen als Teil eines wie auch immer zusammendefinierten oder halluzinierten Kollektivs und nicht als Individuum.

  6. posteo sagt:

    Josef Özkan sagt:
    Natürlich lässt sich kritisieren das ausgerechnet Englisch diese Rolle übernehmen soll … denn Englisch ist letztlich eine “westliche Sprache” … und zeigt, dass hier auch eine Anmaßung vorgeht.

    Ich habe mir auch Gedanken gemacht, warum sich ausgerechnet Englisch so durchgesetzt hat. Dazu sind mir folgende Gründe eingefallen:

    Sprechen ist auch ein mechanischer Akt. Wir müssen dazu Lippen, Zunge, Kiefer, Gaumen und Kehlkopf bewegen. Deutsch fühlt sich dabei für mich so an, wie wenn man durch die Gassen einer Altstadt kurven muss. English geht viel leichter von den Lippen und besitzt diese bemerkenswerte Kürze, die auch Werbesprüche (Neudeutsch slogans) und die moderne Rock- und Popmusik ausmachen.

    Dann hängt die Bedeutung einer Sprache nicht nur von der Anzahl der Muttersprachler, sondern auch von der Anzahl der veröffentlichten Dokumente (Publikationen) ab. Und da hat Englisch nun mal die Vorherschaft als internationaler Wirtschaftssprache und in Sachen technischer und wissenschaftler Veröffentlichungen errungen.
    Persönlich habe ich kein Problem mit der Vormachtstellung des Englischen, da es die einzige Fremdsprache ist die ich einigermaßen sicher beherrsche.

  7. Marie sagt:

    „Die Ideologie von MultiKulti ist aber doch nichts anderes.“

    Sie verwenden hier einen abwertenden Begriff, der in ultrakonservativen Kreisen gebräuchlich ist, um die Idee eines friedlichen Nebeneinanders der Kulturen abzuwerten. Menschen, die so „argumentieren“, träumen in der Regel von einer dominanten Nationalkultur, in die sich alle anderen zu assimilieren haben.

    „Wie überhaupt die MultiKulti-Fans und der größte Teil der MultiKulti-Feinde sich wesentlich näher stehen, als sie wahrhaben wollen.“

    „Sie sehen den Menschen als Teil eines wie auch immer zusammendefinierten oder halluzinierten Kollektivs und nicht als Individuum.“

    Auch hier werten Sie ab, in dem Sie Andersdenkenden unterstellen, sie würden halluzinieren. Selbstverständlich gibt es in der Gesellschaft Gruppen, die aufgrund “ gemeinsamer Normen und Werte Gefühle der Zusammengehörigkeit entwickeln“.

    Wenn alle die, die den Multikulturalismus befürworten und alle die, die ihn ablehnen, „halluzinieren“, stellt sich die Frage: Wer „halluziniert“ denn Ihrer Meinung nach nicht? Derjenige, der sowohl dafür als auch dagegen ist.? Oder derjenige, der dazu keine Meinung hat? Andere Optionen gibt es m.M. nach nicht.

    Zum Thema dagegen sagen Sie nichts – wie stellen Sie sich denn das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen in dieser Gesellschaft vor?

  8. Zunächst einmal steht ohne Frage fest, dass der Mensch sowohl das Grundbedürfnis nach Zugehörigkeit hat als auch nach Selbstverwirklichung also nach Individualisierung, egal ob dieser Mensch in eher kollektivistisch orientierten oder in eher individualistisch orientierten Kollektiven/Gesamtgesellschaften lebt.

    Entscheidend sowohl für die stark individualistische Perspektive als auch für die eher kollektivistische ist es jedoch offen zu bleiben, sowohl ein sich verschließender und abschottender Individualismus als auch ein identitätswähniger Kollektivismus zerstören sich letztlich selbst, d.h. Öffnung dient geradezu ihrem Selbsterhalt.

    Durch die immer wieder aufs neue zu übende Öffnung kommen dynamische Kräfte in Gang, die eine Eigendynamik entfalten, der man vertrauen kann eben insofern immer wieder Offenheit geübt wird.

    Dabei ist gerade für Kollektive von Bedeutung, dass sie sich füreinander öffnen sich austauschen und wenn möglich auch „identitär“ annähern, ohne sich selbst ganz aufgeben zu müssen.

    Das ist der natürliche Gang der Dinge, der in der Wirklichkeit auch durchaus zu beobachten ist und der auch gefördert werden sollte und das trotz aller Probleme und Rückschläge.

    Josef Özcan (§)

  9. BillBrook sagt:

    @ Marie

    „Wenn alle die, die den Multikulturalismus befürworten und alle die, die ihn ablehnen, “halluzinieren”, stellt sich die Frage:“

    schreiben Sie, und zeigen damit, dass sie das Ganze nicht gelesen haben obwohl sie es sogar selbst zitierten. Ich schrieb nämlich nicht „alle“ sondern wie Sie schon ganz richtig zitierten „der größte Teil der MuliKultigegner“. Auch etwas anderes, was Sie mir unterstellten schrieb ich nicht: Ich schrieb nicht einfach „zusammenhalluziniert“ sondern zusammendefinert oder (!!!) halluziniert. Damit erübrigen sich Ihre Fragen völlig.

    Vom Zusammenleben von Kulturen halte ich in der Tat nicht unbedingt so viel. Aber nicht, weil ich für eine Nationalkultur, wäre ganz im Gegenteil. Sondern weil ich denke, dass nicht Kulturen, sondern Individuen, Menschen eben, zusammenleben. Wenn ich mit meinem iranischen Nachbarn über die letzten Bundesligaergebnisse oder die Kartoffelpreise rede, ist das eben kein deutsch-iranischer Dialog, sondern ein schlichtes Gespräch unter Nachbarn. Und dann leben auch nicht verschiedene Gruppen zusammen sondern eben Menschen

    „wie stellen Sie sich denn das Zusammenleben der verschiedenen Gruppen in dieser Gesellschaft vor?“

    Wie oben beschrieben geht es für mich darum genau nicht. Mal ganz davon abgesehen, dass das, was Sie mit „Gruppen“ meinen ja auch schon ethnisch besetzt ist, und der Mensch da wieder als Gruppe auftaucht. Es geht Ihnen sicher nicht um das Zusammenleben der Gruppe der Fussballspieler mit der Gruppe der Friseure beispielsweise.

    „Selbstverständlich gibt es in der Gesellschaft Gruppen, die aufgrund ” gemeinsamer Normen und Werte Gefühle der Zusammengehörigkeit entwickeln”.

    Das stritt ich ja auch nicht ab. Aber das ist eine freiwillige Gruppenzugehörigkeit. Zum Beispiel die Fussballspieler. Oder die Friseure oder, oder, oder. Warum sollen ausgerechnet Menschen, die aus der selben Gegend kommen, gemeinsame Werte und Normen haben.

  10. BillBrook sagt:

    Ach fast hätte ichs vergessen: Sie meinen ich sage nichts zum Thema? Das Thema war dies hier:

    „Der Zwang des Kollektivs: Warum kulturelle Identität kein harmloser Teamgeist, sondern exklusives Konstrukt ist –“

    Meine Anmerkung war durchaus zu dem Thema.