Buchtipp zum Wochenende
Mein Herz blieb in Russland
„Mein Herz blieb in Russland“ ist ein Buch, das aufrütteln und zugleich an das schwere Schicksal der Millionen von Russlanddeutschen erinnern will. Mehr als 30 russlanddeutsche Männer und Frauen verschiedener Generationen schildern ihre ganz persönlichen Erinnerungen. MiGAZIN veröffentlicht die Erinnerungen von Andreas Weigandt aus dem Kapitel "Enteignet und verbannt" in Auszügen.
Von Andreas Weigandt Freitag, 02.08.2013, 8:23 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 05.08.2013, 1:36 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Um die weiten, wenig bewohnten Landstriche Russlands im 18. Jahrhundert zu erschließen, warb das russische Zarenreich Fachleute aus Deutschland an. Wie alle Auswanderer erhofften sich auch meine Vorfahren in der neuen Heimat ein besseres Leben und reisten von 1764 bis 1767 aus der hessischen Grafschaft Isenburg-Büdingen an die Wolga aus, genauer gesagt: in die Kolonie Kutter, ein Dorf an der Bergseite der Wolga. Ursprünglich nannte sich der Ort Brenning nach dem ersten Vorsitzenden der Kolonie, Christoph Brenning.
Das sogenannten Vormundschaftskontor in der Kreisstadt Saratow stellte den Einwandererfamilien eine Art bäuerliche Grundausrüstung zur Verfügung: jeweils 25 Rubel, zwei Pferde, eine Kuh, einen Zaum, einen Leiterwagen, drei Klafter Seil und fünf Klafter Pferdeleine. Als der Ort Brenning-Kutter 1767 gegründet wurde, zählte er bereits 262 Einwohner.
Unser Bauernhof
Durch viel Fleiß und handwerkliches Geschick kamen meine Vorfahren in Kutter zu etwas Wohlstand. Der Bauernhof unserer Familie umfasste etwa 60 bis 70 Hektar Land. Hinter Bobrowka, sechs Kilometer von unserem Hof entfernt, lagen Ackerland und Heuwiesen.
Entlang des Flusses Karamysch zogen sich unsere zwei Hektar großen Obst- und Gemüsegärten. Zur Bewässerung trieben zwei Pferde am Fluss ein acht Meter großes Wasserrad an. Damit die Früchte kurz vor der Ernte nicht noch gestohlen wurden, musste jedes Jahr jemand aus unserer Familie zur Überwachung im Gartenhaus übernachten.
Auch unser Haus war umgeben von einem großen Garten, zu dessen Bewässerung ein zehn Meter tiefer Brunnen und vier Regenfässer dienten. Nicht weit vom Brunnen stand ein langer Trog als Viehtränke, und in der Nähe des Eingangstores war die Hütte für unseren Hund »Sowas«.
Unser Hof lag an der Hauptstraße und war zur Straße hin 34 Meter breit und 68 Meter tief. Wir wohnten in einem Holzhaus mit einem Blechdach und einem steinernen Gewölbekeller. Die Wirtschaftsgebäude waren aus Holzstämmen und Brettern gezimmert. Auf dem Hof standen außerdem die Ställe, zwei Speicher, ein Backhaus aus Stein und der Brunnen, den wir gemeinsam mit unserem Nachbarn nutzten. Unter einem Wetterdach waren vier Pferdewagen, der Strohschneider, die Kornschwinge, eine Getreidemaschine, Eggen und Pflüge untergebracht. In den Ställen übernachteten vier bis sechs Pferde, vier Arbeitsochsen, zehn bis zwölf Schafe, sechs Ziegen und einige Schweine.
In den zwanziger Jahren wohnten auf diesem Hof drei Familien: meine Großeltern, meine Eltern mit uns vier Kindern und die Familie unseres Onkels. Im Sommer nahmen wir unsere Mahlzeiten in einem der beiden Räume des Backhauses ein. Meine Großeltern schliefen im kleinen Zimmer, die beiden anderen Familien im großen.
In der Regel arbeiteten die Männer auf dem Feld, die Frauen im Haus. Wenn es an die Aussaat oder Ernte ging, halfen aber auch die Frauen und Kinder mit auf dem Feld. Konnten wir viel ernten, holten wir Verwandte hinzu oder stellten Erntearbeiter ein, die mit Geld, öfter aber auch mit Naturalien bezahlt wurden. Manchmal gingen auch mein Cousin Friedrich und ich mit aufs Feld, vor allem, um in der Mittagszeit auf die Ochsen und Pferde aufzupassen.
Jeden Sonntag besuchten wir die Kirche. Im Sommer fuhren die Erwachsenen bereits am Sonntagabend mit zwei oder drei Wagen, die mit Ochsen oder Pferden bespannt waren, aufs Feld hinaus und verbrachten die ganze Woche dort. Dann übernachteten sie in den überdachten Wagen oder auch gleich darunter. Am Freitagabend kehrten alle wieder nach Hause zurück. – Im Winter erledigte mein Vater die Schusterarbeiten, Opa und Onkel Adam reparierten das Pferdegeschirr und die Pferdewagen. Onkel Adam betrieb eine Schmiede, in der er die Pferde beschlug und Leiterwagen baute.
…
Bettelpfennige
»Kollektivierung« und »Entkulakisierung« waren die Schlagworte in der Landwirtschaft Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre. Die Bauernhöfe wurden zu Kollektiven zusammengelegt, die Bauern enteignet, die stolzen Großbauern, die »Kulaken«, entrechtet und verfolgt.
In Kutter hatte der Staat schon 1929 viele Bauern beraubt, die ersten Hungerfälle wurden bekannt. Die »Entkulakisierten« mussten bei Verwandten unterkommen, ihre Kinder gingen aber noch zur Schule.
In den Unterrichtspausen teilten die Lehrer oft Brote an die hungernden Kinder aus. Eine Schulbank vor mir saß ein Junge, dessen Eltern bis zur Enteignung durch die Kommunisten ein eigenes Geschäft hatten. Sein Vater war verhaftet worden, die Mutter lebte mit drei Kindern bei Bekannten. Als dem Jungen in der Klasse ein Stück Brot angeboten wurde, lehnte er ab:
»Ich bin kein Bettler. Gebt uns unser Eigentum zurück, ich brauche eure Hilfe nicht.«
Daraufhin bestellte der Schulleiter seine Mutter in die Schule und warf ihr vor, dass sie ihren Sohn gegen die Sowjetmacht stelle. Zu Hause sagte sie zu ihren Kindern:
»Wahrscheinlich werde ich verhaftet.«
Am folgenden Tag fand man den Jungen erhängt. Auf seinen Abschiedszettel hatte er geschrieben:
»Ich will nicht hungrig sein.«
Der Junge war erst neun Jahre alt.
Bald wurde in Kutter mit dem Aufbau der Kolchose begonnen. Zuerst traten die Bauern ein, die kaum eigenen Besitz hatten, die wohlhabenden Bauern wollten in der Regel nicht Mitglied der Kolchose werden. Da begannen die Bolschewiki mit ihrer gewaltsamen Agitation, der Reihe nach wurden die Grundeigentümer zum Eintritt gezwungen. Wer sich widersetzte, dem wurde zunächst das Wahlrecht entzogen; verweigerte er den Eintritt weiter, wurde er verhaftet, enteignet und zuletzt aus dem eigenen Haus gewiesen. Die Ausgewiesenen mussten in Erdhütten hinter dem Dorf wohnen, die sie selbst ausgruben.
Die Bolschewiki riefen die Bauern immer in der Nacht in ihr Kontor. Für die Kollektivierung in Kutter sorgte eine Kommission mit deutschen Landsleuten; aus Saratow und Engels waren zwei Juden dazugekommen.
Als Kolchosearbeiter erhielten wir zeitlebens nur Bettelpfennige. Jedes Mal mussten wir zu den Kolchosevorsitzenden gehen und sie um unseren Lohn bitten. Darin erkannte ich die Ideologie der Kommunisten: die Menschen zu abhängigen Sklaven zu machen und rücksichtslos über ihr Schicksal zu bestimmen. Um der vollständigen Enteignung zu entgehen, beschloss Opa, die Wirtschaft auf seine Söhne zu verteilen, auf Friedrich und auf Adam, meinen Vater. Wir teilten Haus und Wohnung, später auch den Viehbestand und das Inventar. Um alles behalten zu können und nicht verhaftet zu werden, traten Onkel Friedrich und mein Vater in die Kolchose ein. Nun wachte mein Vater über die Kolchosepferde, die ursprünglich ihm gehörten.
Eines Tages, unsere Oma lag im Sterben, begannen die Kommunisten, unsere Scheune im Garten abzubauen. Von ihrem Bett aus fragte Oma, was draußen passiere, weil es so krache. Opa antwortete, dass Holz weggefahren werde; er wandte sich ab und weinte. Dann sah Oma am Fenster, wie die grüne Scheunentür weggefahren wurde, und verstand. Im Oktober 1930 verstarb sie. Bald nach ihrem Tod wurden wir aus unserem Haus ausgewiesen. Aktuell Feuilleton
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Sehr bewegender Erfahrungsbericht. Außerdem bin ich überrascht, dass ein Buch vorgestellt wird, das vom Schicksal der Russland-Deutschen in der ehemaligen UdSSR und nicht in Deutschland handelt.
Klasse, sollte Schullektüre werden. Wunderschön. Vor allem wenn man bedenkt, dass einige „Zurück-„gekehrt sind.