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Antwort an Sercan

Die unentschiedenen Erstwähler

Viele junge Menschen wissen noch nicht, welche Partei sie wählen sollen. Darunter ist auch Sercan Sever, ein Abiturient aus Berlin. Welche Partei vertritt seine Interessen, fragte er in einem offenen Brief, der im Wochenmagazin "Der Spiegel" veröffentlicht wurde. Eine Antwort gibt Aziz Bozkurt.

Von Aziz Bozkurt Montag, 16.09.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 20.09.2013, 1:16 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Lieber Sercan Sever,

ich habe Deine – ich hoffe, ich darf Dich so vertraut ansprechen – Aussagen und Deine Fragen nach der Lösung des Wahl-Dilemmas im SPIEGEL gelesen. Nun bin ich nicht so vermessen, Dir eine Empfehlung zu geben, aber ich will Dir sagen, warum mein Herz in dieser Frage vergeben und meine Brille farblich rot beschlagen ist. Und das schon seit mehr als 15 Jahren, obwohl ich noch in einem Alter bin, in dem ich noch bei der Jugendorganisation der SPD, den Jusos, aktiv sein könnte.

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Du sprichst das Thema Sarrazin an und zwar zu Recht. Leider hat es meine Partei vergeigt, ihn achtkantig rauszuschmeißen. Als die Diskussion um den Herrn und seine rassistischen Thesen 2010 anfing und wir mit weiteren Genossinnen und Genossen eine Unterschriftenkampagne organisierten, meldeten sich tausende weiterer Genossen, die genauso dachten wie wir und meinten, dass dieser Rassist nicht in die Sozialdemokratie gehört. Ich warte auf den Tag, an dem der genannte Herr nur noch ein Rassist ist. Ohne das rote Parteibuch, das der einzige Grund ist, weshalb die Menschen ihn überhaupt noch beachten. Glaub mir bitte nur, dass es von meiner Sorte viele gibt. Und unsere Stimme ist laut in der Berliner SPD.

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Warum ich trotzdem in „diesem Verein“ bin? Wegen der Grundpfeiler der Sozialdemokratie, die die Gleichheit aller Menschen im Fokus hat. Wegen der Geschichte und wegen der Menschen, die die Geschichte dieser Partei prägten. Der Flüchtling Willy Brandt, die sozialistische Friedensaktivistin und Feministin Clara Zetkin oder mein politischer Ziehvater Heinz Schmidt, der den 2. Weltkrieg erlebte und daraus seine ganze Kraft für ein Leben für die antifaschistische Arbeit zog, der die Ostermärsche für eine friedlichere Welt organisierte und dafür aus der SPD ausgeschlossen wurde und wieder eintrat und sich sein ganzes Leben lang leidenschaftlich gegen die Diskriminierung von Sinti und Roma engagierte. Alles Menschen, die das hatten, was Du verlangst: Leidenschaft.

Leidenschaft in der Politik, die suchst und verlangst Du zu Recht. Ich suche sie manchmal auch und glaub mir, oft scheint es so, dass sie in allen Parteien tief versteckt ist. Aber wenn Du nach Leidenschaft in der Politik suchst, dann frage ich mich, wieso willst Du nicht diese Leidenschaft sein? Ich will nicht behaupten, dass man von bestimmten Problemen betroffen sein muss, um sich mit Herz für eine Sache zu engagieren. Aber Du sprichst nicht von abstrakten Hören-Sagen-Geschichten, sondern von Erlebtem. Das wäre mal eine gute Portion Leidenschaft für die SPD, die herzlich willkommen ist.

Glaubwürdigkeit ist der zweite Punkt, den Du forderst. Dabei zählst Du auf, was alles im Rahmen der Schröder-SPD falsch gemacht wurde. Ich glaube, die SPD hat hier in den letzten Jahren bewiesen, dass sie verstanden hat, wo sie Fehler gemacht hat. Und dass sie gewillt ist, dies einzugestehen und zu korrigieren. Gerade das Eingestehen ist im politischen Prozess manchmal sehr schwierig, weil die Krankheit „das Gesicht nicht zu verlieren“ oft unnötig als eine schwere Krankheit angesehen wird. Dabei ist das die hohe Kunst: Fehler selbstbewusst eingestehen. Im Bewusstsein, dass das Eingestehen so schwer ist, möchte ich bei Dir um Vertrauen für die Sozialdemokratie werben. Niemand, der sich nicht überwindet, solche Fehler einzugestehen – oder gar sein „Lebenswerk“ kritisch zu reflektieren –, wird in alte Denkmuster fallen.

Ob ich nicht auch manches Mal zweifle? Ja, klar. Da verhält es sich wie mit den Religionen. Die überzeugtesten Gläubigen sind die, die auch mal zweifeln.

Ich möchte um Deine Stimme für die SPD werben, mit dem Themenfeld, auf dem ich mich täglich bewege. Ich bin Landesvorsitzender einer Arbeitsgemeinschaft (AG Migration und Vielfalt) in der Berliner SPD, mit der ich mich dafür einsetze, dass die SPD eine moderne Politik für unsere Einwanderungsgesellschaft macht. Die von Unionspolitikern hochgekochten Diskussionen um die doppelte Staatsbürgerschaft, um „integrationsunwillige“ Migranten oder überbordende Einwanderung sind ein letztes Aufbäumen eines konservativen Kerns, der nicht wahrhaben will, dass Deutschland nicht mehr das Land ist, das es in den 50ern, 60ern oder 70ern war. Es ist manchmal so, als ob man gemeinsam Fußball guckt und diese rückwärtsgewandten Hanseln aufgrund ihres Schwarz-Weiß-Fernsehers die Vielfalt nicht erkennen. Es bleibt zu hoffen, dass diese Leute auf den Farbfernseher umschalten. Mit Roland Koch, diesem unsäglichen Unterschriftensammler, haben sie ja schon mal ihren wichtigsten Helfer verloren.

Die Realitätsverweigerung hat aber leider schwerwiegende Folgen für viele Menschen. Zum Beispiel beim Optionsmodell. Es ist krank, dass jemand mit 19 in diesem Land wählen kann und dies plötzlich mit 23 nicht mehr möglich sein soll. Oder dass sich jemand mit 20 für die Bundeswehr verpflichtet und plötzlich mit 23 nicht mehr deutscher Staatsbürger ist und rausgeschmissen wird. Die möglichen Kuriositäten könnten noch beliebig weitergesponnen werden. Sie zeigen nur, wie ideologisch verbohrt einige altbackene Typen sind. Das wollen wir mit der SPD ändern und das Werk vollenden, das wir leider unter Rot-Grün nicht zu Ende führen konnten. Das Verständnis vom Deutschsein ändern.

Ich würde Dich gern mit weiteren Punkten zuschütten, um Deine Stimme zu gewinnen, aber das persönliche Gespräch ist meist viel einfacher. Komm uns doch einfach bei der nächsten Gelegenheit im Kurt-Schumacher-Haus in Berlin besuchen. Ich würde mich freuen, Dich dort persönlich kennenzulernen.

Und vielleicht gewinnen wir nicht nur Deine Stimme, sondern auch Dein Herz und Dein Engagement für die Sozialdemokratie! Das wäre dann eine wichtige und gute Entscheidung für uns alle.

Viele Grüße und bis bald hoffentlich!

Aziz Aktuell Meinung

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  1. Sinan A. sagt:

    Schön geschrieben, und überzeugend!

    Nur einen Punkt würde ich gerne korrigieren.
    Deutschland in den 60er und 70ern – die Rede ist natürlich von der Bundesrepublik Deutschland – war entschieden ehrlicher als heute. Das Klima war allgemein offen und sozial-liberal, und zwar nicht weil es opportun war, sondern weil die Menschen wirklich daran glaubten. Ab und zu hat jemand „Scheiß Ausländer“ gerufen, aber das war’s auch schon. Danach hat man sich wieder die Hand gegeben.

    Heute reden zwar alle politisch korrekt, aber sie denken etwas völlig anderes. Das ist der Unterschied von damals zu heute.