Keine Visafreiheit für Türken
EuGH beugt sich politischem Druck
Der Europäische Gerichtshof hat das jahrelange Hin und Her um die Visumpflicht für türkische Staatsangehörige beendet. Die Luxemburger Richter haben entschieden, dass Türken auch künftig ein Visum brauchen. Politiker und Juristen kritisieren die Entscheidung.
Mittwoch, 25.09.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 30.09.2013, 23:07 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Türkische Staatsangehörige sind auch künftig nicht berechtigt, ohne Visum in ein EU-Land einzureisen, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in dem Demirkan-Verfahren (Az.: C‑221/11) am Dienstag entschieden.
Damit geht ein jahrelang anhaltender Rechtsstreit um die Auslegung des Assoziationsabkommens zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei aus dem Jahre 1963 zu Ende. Ziel der Vereinbarung war unter anderem die Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern und später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern. 1970 wurde in einem Zusatzprotokoll außerdem vereinbart, keine neuen Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs einzuführen (sog. Stillhalteklausel).
Visumpflicht seit den 80ern
Entgegen dieser Klausel führten Deutschland und weitere EWG-Staaten in den 80ern jedoch eine Visumpflicht für türkische Staatsbürger ein. Bei dem Verfahren vor dem EuGH ging es nun darum, ob die zeitlich später eingeführte Visumpflicht eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darstellt und somit gegen die Stillhalteklausel verstößt.
Info: Im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens können die Gerichte der Mitgliedstaaten in einem bei ihnen anhängigen Rechtsstreit dem Gerichtshof Fragen nach der Auslegung des Unionsrechts oder nach der Gültigkeit einer Handlung der Union vorlegen. Der Gerichtshof entscheidet nicht über den nationalen Rechtsstreit. Es ist Sache des nationalen Gerichts, über die Rechtssache im Einklang mit der Entscheidung des Gerichtshofs zu entscheiden. Diese Entscheidung des Gerichtshofs bindet in gleicher Weise andere nationale Gerichte, die mit einem ähnlichen Problem befasst werden.
Dem Rechtsstreit lag der Sachverhalt der Türkin Leyla Demirkan zugrunde, die ihren deutschen Stiefvater in Berlin besuchen wollte, aber kein Visum erhielt. Es kam zum Rechtsstreit. Vor dem Gericht berief sie sich auf den freien Dienstleistungsverkehr und verwies auf die Stillhalteklausel. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg rief daraufhin den EuGH an, damit dieser die Tragweite des Stillhalteklausels festlegt.
Kritik von der Politik
Und das taten die Luxemburger Richter. Sie unterschieden in ihrem Urteil zwischen einer aktiven und passiven Dienstleistungsfreiheit. Das Abkommen erfasse nur die aktive Dienstleistungsfreiheit, wie sie von Künstlern oder Fernkraftfahrern erbracht werden, nicht aber den Empfang von Dienstleistungen, so die Richter. Deshalb verstoße die Visumpflicht für türkische Staatsbürger, die nur zu Besuchszwecken in ein EU-Land reisen möchten und damit Dienstleistungen lediglich in Empfang nehmen, nicht gegen die Stillhalteklausel.
Der SPD-Europaabgeordnete Ismail Ertuğ bedauerte die Entscheidung des EuGH als „materiell und formell fragwürdig sowie politisch destruktiv“. Als Begründung verweist Ertuğ auf den Anhang des Assoziierungsabkommens. Darin sei erklärt worden, dass visafreies Reisen möglich sein soll, wenn im Lauf der Reise Dienstleistungen erbracht oder in Anspruch genommen werden. „Dass dies 40 Jahre später durch ein Gericht verneint wird, ist meines Erachtens rechtlich fragwürdig.“, so der Europaparlamentarier. Das Urteil sei zudem politisch ein Schritt in die falsche Richtung. So würden europafreundliche Verbündete in der Türkei einmal mehr verprellt.
EuGH hat an Glaubwürdigkeit eingebüßt
Als „enttäuschend“ wertete auch Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen (Die Linke) die Entscheidung und warf dem EuGH vor, sich dem politischen Druck gebeugt zu haben. Offenbar, so Dağdelen, habe sich das Gericht von der Drohkulisse beeindrucken lassen, die von den Mitgliedstaaten im Vorfeld der Entscheidung aufgebaut worden war. „Die Mitgliedstaaten hatten dem EuGH die Auswirkungen eines Urteils im Sinne der Visumfreiheit in düstersten Farben beschrieben. In der Stellungnahme der Bevollmächtigten der Bundesregierung wurde gar davor gewarnt, dass eine positive Entscheidung praktisch zum Zusammenbruch des einheitlichen europäischen Visasystems führen würde. Das war unbegründete Panikmache, blieb aber offenbar nicht ohne Wirkung bei den Richterinnen und Richtern“, so die Linkspolitikerin.
Ähnlich bewertet Ausländer- und Europarechtsexperte Ünal Zeran den Luxemburger Richterspruch. Der EuGH sei seiner eigenen Rechtsprechungslinie untreu geworden. „Die Richter haben sich über Argumente der Klägerseite hinweggesetzt, ohne eine Silbe dazu zu verlieren und teilweise Kaffesatzleserei betrieben. Die besseren Argumente sprachen für die Visafreiheit“, sagte Ünal dem MiGAZIN. Diese Entscheidung sei nicht nur ein schwerer Schlag für die Befürworter der Visafreiheit, nein, der EuGH habe auch „ein Stück an Glaubwürdigkeit eingebüßt“. (bk) Leitartikel Recht
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@ Lutheros:
Sie schreiben: „Und es besteht überall Einigkeit, dass der Art. 50 Abs 3 des EG Vertrages nur die aktive Dienstleistungsfreiheit schützt.“
Mit Verlaub, das ist Unsinn! Der EuGH hat in Randnummer 35 des aktuellen Demirkan-Urteils seine ständige Rechtsprechung bekräftigt, wonach der Dienstleistungsbegriff nach Art. 56 AEUV die aktive UND passive Dienstleistungsfreiheit umfasst. Ich darf aus dem Urteil zitieren:
„Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs schließt die in Art. 56 AEUV den Angehörigen der Mitgliedstaaten und damit den Unionsbürgern gewährte Dienstleistungsfreiheit daher die „passive“ Dienstleistungsfreiheit ein, d. h. die Freiheit der Dienstleistungsempfänger, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschränkungen daran gehindert zu werden (Urteile Luisi und Carbone, Randnr. 16, vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, Slg. 1989, 195, Randnr. 15, Bickel und Franz, Randnr. 15, vom 19. Januar 1999, Calfa, C‑348/96, Slg. 1999, I‑11, Randnr. 16, und vom 17. Februar 2005, Oulane, C‑215/03, Slg. 2005, I‑1215, Randnr. 37).“
Im Demirkan-Urteil ging es lediglich darum, ob dieses Verständnis der Dienstleistungsfreiheit im EU-Kontext auf das EWG-Türkei-Abkommen zu übertragen war – wofür angesichts der bisherigen Rechtsprechung des EuGH vieles sprach. Ich zitiere noch einmal aus dem Demirkan-Urteil, Randnr. 43:
„In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass zwar nach ständiger Rechtsprechung die im Rahmen der Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr geltenden Grundsätze so weit wie möglich auf die türkischen Staatsangehörigen übertragen werden sollen, um zwischen den Vertragsparteien die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs zu beseitigen (vgl. in diesem Sinne Urteil Abatay u. a., Randnr. 112 und die dort angeführte Rechtsprechung).“
Doch dann kam das große ABER, der EuGH behauptete, das Assoziationsabkommen verfolge – anders als die EU-Verträge – einen vorwiegend wirtschaftlichen Zweck und deshalb sei eine andere Auslegung des Dienstleistungsbegriffs im Assoziationsrecht zulässig.
Mit dieser überraschenden Wendung hatte bis vor kurzem nahezu niemand in der Fachwelt gerechnet.
Wenn Sie glauben, dass Richterinnen und Richter nicht auch politische Menschen sind, die auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen reagieren und solche Motive in Ihrer Rechtsprechung berücksichtigen, will ich Sie in diesem Glauben nicht stören.
Es gibt allerdings unzählige Gerichtsurteile, dies kann ich zumindest für das Asyl- und Aufenthaltsrecht sagen, die aus fachlicher juristischer Sicht nur schwerlich zu begründen sind und die vor allem mit einer politischen Grundsatzentscheidung der jeweiligen Richterinnen und Richter erklärt werden müssen.
In formaler Hinsicht gilt natürlich die Macht des Faktischen, da haben Sie Recht: Recht ist demnach, was letztinstanzlich für Recht befunden wurde.
@Tim Tom
Danke für die sehr stichhaltigen Informationen und (insbesondere) für die letzten drei Absätze.