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Auch im Bierzelt gelten Menschenrechte

Der lange Abschied von der Sozialpolitik nach Hausherren-Art

Das Landessozialgericht NRW hat einer vierköpfigen rumänischen Familie Anspruch auf Hartz IV zugesprochen. Nach einer Spiegel Online Meldung kochte die Leserschaft. Den Boden dafür bereitete der bislang noch für Integrationsfragen zuständige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich.

Von Claudius Voigt Montag, 14.10.2013, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 15.10.2013, 23:12 Uhr Lesedauer: 6 Minuten  |  

Die deutsche Volksseele kocht. Innerhalb einer Stunde beteiligen sich fast 150 Kommentator_innen an der Diskussion im Forum bei Spiegel Online. Wobei „Diskussion“ wohl nicht der richtige Begriff sein dürfte: Bis auf ganz wenige Ausnahmen lassen sich fast alle Kommentare exemplarisch unter diesem zusammen fassen: „Welcher Richter hat diese Entscheidung verbrochen? Er sollte des Landesverrats angeklagt werden. Wenn das tatsächlich durchgehen sollte, ist das der Anfang vom Ende unseres Sozialstaats.“

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Was war geschehen? Ist in einem skandalösen Gerichtsurteil noch weiter gehende Sanktionierung, Bevormundung und Ausgrenzung von Hartz-IV-Bezieher_innen für zulässig erklärt worden? Sollen die verbliebenen Reste des Sozialstaat etwa noch skrupelloser zusammen gestutzt werden? Nein. Der Auslöser für die Ereiferungen und das Gekeife des Spiegel lesenden Bildungsbürgertums war folgende Überschrift:

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EU-Einwanderer in Deutschland: Gericht spricht rumänischer Familie Hartz IV zu

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Das Landessozialgericht NRW hatte am Donnerstag für eine vierköpfigen Familie aus Gelsenkirchen, die während eines längeren Zeitraums erfolgloser Arbeitsuche nur vom Kindergeld und dem Verkauf der Obdachlosenzeitung überlebt hatte, einen Anspruch auf die staatliche Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums in Form von Arbeitslosengeld II festgestellt.

Eine solche Meldung führt im Deutschland des Jahres 2013 ganz offensichtlich noch immer zu derartigen, aus mehr oder minder unterschwelligem Rassismus gespeisten Neidreflexen, dass sich die Spiegel Online Redaktion entschloss, die Diskussion innerhalb eines Tages zu schließen. Das war vermutlich eine gute Entscheidung. Kostprobe gefällig? „Die kriegen’s nachgeworfen. Als Putzfrau oder -mann zu arbeiten, die viele ältere Mitbürger dringend bräuchten, und wofür sie wohl qualifiziert genug wären, haben sie nun nicht mehr nötig.“

Ganz offensichtlich hat die herrschende Strategie der letzten Jahre, Abstiegsängste in der Mittelschicht zu schüren und die Unterschicht gleichzeitig vollständig zu sedieren, so gut funktioniert, dass nun keineswegs die Tatsache einer auseinander driftenden Gesellschaft, der Abbau sozialer Leistungsstandards, die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben als Ursachen im Zentrum der Kritik stehen.

Sondern schuld sind diejenigen am unteren Ende der Verteilungskette: Moderne Lohnsklaven aus Osteuropa dürfen zwar gern im Schlacht-Imperium des Schalke-Chefs Tönnies Schweine zerlegen, so dass das Kilo Hackfleisch bei Lidl für 2,99 € zu haben ist. Sie dürfen zwar gern – mit andersfarbigen Helmen ausgestattet – in der Meyer-Werft in Papenburg Luxusliner für gut betuchte deutsche Pensionäre zusammenschweißen. Aber soziale Rechte sollen sie gefälligst nicht einfordern, wenn es mit der Arbeit nicht klappt. Ein menschenwürdiges Existenzminimum soll ihnen nicht zuteil werden – denn dafür gibt es ja Suppenküchen und Armeinspeisungen.

Der bislang noch für Integrationsfragen zuständige Bundesinnenminister Friedrich hat seit vielen Monaten beständig den Boden bereitet, auf dem eine solche – koloniale – Auffassung von Europäischer Union wachsen und gedeihen konnte. Das Recht auf Freizügigkeit sei „nicht dazu gedacht, dass Menschen in Scharen das Land wechseln, nur um höhere Sozialleistungen zu bekommen“, polterte er in der vergangenen Woche. Daraufhin konnte selbst EU-Justizkommissarin Viviane Reding laut FAZ nicht mehr ganz diplomatisch bleiben: „Der deutsche Minister Friedrich, manchmal macht der so Bierzeltaussagen.“

Und Sozialkommissar László Andor stellte auf die Frage des Spiegel nach dem von Friedrich aufgeblasenen Problem des „Missbrauchs“ von Sozialleistungen durch EU-Bürger_innen schlicht und treffend klar: „Es ist nicht die Aufgabe des Innenministers, sich um solche Fragen zu kümmern. Dafür gibt es eine Arbeits- und Sozialministerin.“

Stimmt. Aber was trägt Frau von der Leyen eigentlich zur Debatte bei? Die Antwort lautet: Nichts. Die ihr untergebene Bundesagentur für Arbeit nannte das oben genannte Urteil „grundsätzlich erst mal eine Einzelfallentscheidung, wir warten die schriftliche Begründung ab.“

Diese Haltung lässt sich aus zwei Gründen getrost als ignorant bezeichnen:

Zum einen ist seit langem erkennbar, dass die deutschen Regelungen des SGB II nicht mit europäischen Vorschriften übereinstimmen. Während das deutsche Recht arbeitsuchende EU-Bürger_innen von den Leistungen ausschließt, verbietet das EU-Recht eine Schlechterstellung von EU-Bürger_innen ausdrücklich. Immer mehr Gerichte entscheiden in den letzten Jahren klar in diesem Sinne. Der bundesweit bekannte Richter am Landessozialgericht Hessen, Frank Schreiber, sagt: „Das Problem ist, dass in den Durchführungsanweisungen, die den Mitarbeitern im Job-Center vorliegen, nicht auf Europarecht hingewiesen wird. Die deutschen Job-Center verweigern daher regelmäßig rechtswidrig Leistungen für EU-Bürger.“

Es wäre eindeutig Frau von der Leyens Aufgabe, für eine europarechtskonforme Anwendung der deutschen Regelungen zum Arbeitslosengeld II zu sorgen – und Unionsbürger_innen die Inanspruchnahme von Hartz IV in den meisten Fällen zu ermöglichen. Statt einer Klarstellung sitzt das Arbeits- und Sozialministerium das Problem aus.

Zum anderen – und dies ist noch viel wichtiger – ist es die vornehmste Aufgabe der Bundesregierung, die Verfassung einzuhalten. Und diese beinhaltet mit Art. 1 und Art. 20 GG den Anspruch eines jeden Menschen in Deutschland auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Das Bundesverfassungsgericht hat im Juli vergangenen Jahres sehr deutlich festgestellt, dass dieser Anspruch als Menschenrecht auch für alle in Deutschland lebenden Ausländer_innen – unabhängig vom Status und dem Grund des Aufenthalts – zu gewährleisten ist:

„Ausländische Staatsangehörige verlieren den Geltungsanspruch als soziale Individuen nicht dadurch, dass sie ihre Heimat verlassen und sich in der Bundesrepublik Deutschland nicht auf Dauer aufhalten. (…) Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.“

Dieser Auftrag der Verfassung wird gegenwärtig insbesondere bezogen auf Unionsbürger_innen systematisch ignoriert. Leider ist nicht erkennbar, dass die Bundesregierung gewillt ist, diesen unhaltbaren Zustand von sich aus zu ändern; wie so oft muss sie wohl erst durch die Gerichte dazu gezwungen werden.

Abgesehen von allen rechtlichen Debatten steht über allem allerdings auch noch eine ganz grundsätzliche Frage: Wie wollen „wir“ (wobei die Frage ist, wer „wir“ eigentlich ist) die Zugangsmöglichkeiten zu nationalen Systemen sozialer und gesellschaftlicher Teilhabe in Zeiten der Globalisierung und „Entgrenzung“ zukünftig gestalten? Die klassische Antwort in Form einer Zugangs- und Teilhabepolitik nach „Hausherren-Art“ getreu dem Motto: „Die waren nicht zur Party eingeladen, dann bekommen sie auch nichts vom Buffet, sondern dürfen allenfalls das Geschirr abwaschen (bzw. die Schweine für das Festmahl schlachten)“ jedenfalls ist anachronistisch und eines modernen Gesellschaftsverständnisses gänzlich unangemessen.

Oder, um es mit Prof. Thorsten Kingreen, Verwaltungsrechtler an der Uni Regensburg, etwas wissenschaftlicher auszudrücken:

Sozialrechtliche Zugehörigkeit emanzipiert sich von den formalen staatsrechtlichen Kategorien, die für die Frage, was ein Mensch für die Sicherung seiner Existenz benötigt, ohnehin niemals Bedeutung hatte. Normen, die Ausländer beim Bezug existenzsichernder Leistungen gleichwohl nach wie vor gegenüber Inländern benachteiligen, sind allenfalls noch Ausdruck symbolischer Sozialpolitik, die suggeriert, man könne das Sozialsystem durch Leistungsbeschränkungen zu Lasten einzelner gesellschaftlicher Gruppen sanieren. Als Signal an die Betroffenen, nicht dazuzugehören, ist sie integrationspolitisch indes eher kontraproduktiv.1

Leider ist nicht zu erkennen, dass das aktuell für derartige Fragen zuständige politische Personal der Bundesregierung über das notwendige Problembewusstsein verfügt. Die Antworten werden sich daher wohl leider weiterhin auf dem Bierzeltniveau der Forderung nach Einführung einer „Ausländermaut“ bewegen.

  1. aus: Staatsangehörigkeit als Differenzierungskriterium im Sozialleistungsrecht. SGb – Die Sozialgerichtsbarkeit 03/13
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  1. Hans Dampf sagt:

    Sie stechen in ein Wespennest Herr Voigt.
    Aber Sie haben ein sehr gutes Gespür und kommen auf den Punkt.
    Viele glauben vielleicht, dass wir in einem toleranten Land leben. Leider ist das absolute Gegenteil der Fall. Die 68er sind out! Die Deutsch-Menschen der heutigen Zeit, sind so vollgestopft mit Minderwertigkeitskomplexen, dass sie diese unbedingt auf andere projizieren müssen, weil sie nicht in der Lage sind, die Zusammenhänge zu begreifen. sie wollen es auch gar nicht, weil es nicht in ihr Weltbild passt.

    Wer ist an Dumpinglöhnen und Sozialabbau schuld?
    Die Ausländer natürlich. Denn wenn es anders wäre, dann müssten sie sich eingestehen, dass sie von ihrer eigenen Regierung an die Konzerne verkauft wurden. Nein, nein…so einfach kann es nicht sein.

    Mir begegnet dieser unterschwellige Ausländerhass jeden Tag…selbst im Freundeskreis. Deshalb habe ich beschlossen, Deutschland zu verlassen. Das ist alles andere, als ungefährlich. Mag jetzt für den ein oder anderen übertrieben klingen. Ist aber durchaus begründet. Wenn ich jetzt böse wäre, würde ich sagen: „Wartet nur ab…“ Das tue ich aber nicht…und gehe einfach.

    Es gibt auch tolerante Menschen, wie Herr Voigt. Es gibt aber leider immer mehr, die anders sind. Unmenschliche Arbeitsbedingungen sorgen nun mal für schlechtes Klima. Nein danke…lieber weg! Positiver Nebeneffekt: ich verdiene jetzt 20% mehr im Ausland für die gleiche Arbeit. Unter dem Strich leben wir dann besser, weil die Lebenshaltung gleich bleibt ;-)

  2. Soli sagt:

    @Hans Damp – na das muss ja das reinste Schlaraffenland sein wo sie hin auswandern. Aber, bitte, um das bewerten zu können wäre natürlich die Angabe des Bestimmungslandes notwendig.

    also – bitte raus damit, vielleicht folgt ihnen der eine oder andere (inkl. mir) dann ja sogar.

  3. Lionel sagt:

    Es ist sicher schwierig, einem Arbeitnehmer der 30 Jahre lang Beiträge zur Sozialversicherung geleistet hat, es als gerecht zu vermitteln,dass er als Grundsicherung exakt dieselben Hartz-IV- Leistungen bezieht, wie ein stets arbeitslos gebliebener Rumäne.

  4. Ömer sagt:

    Ja, Lionel!

    Genauso wie es einem türkischen Gastarbeiter schwer zu vermitteln ist, dass er dieselbe Leistung bekommt, wie der chronisch arbeitslose Rechtsextremist.

    Jetzt mal Ernst: Das Problem ist, dass Sie nicht verstehen, was im Grundgesetz steht, und dass Sie nicht verstehen, wieso es dort steht. So lange eine Gemeinschaft – egal ob Deutschland oder die EU oder von mir aus auch die Weltengemeinschaft – Geld hat, sich fettfrisst, dürfen im Nachbarhaus keine Menschen notleiden. Da gibt es nichts zu vermitteln! Denn es kann jeden treffen. Schnell ist man arbeitslos und braucht selbst Hilfe.

  5. Han Yen sagt:

    @Lionel

    Der Zweck der Arbeitslosenversicherung ist Lohndrückerei zu verhindern. Mit einer Arbeitslosenversicherung in der Tasche kann sich der Arbeitnehmer nämlich Arbeitgeber im Rahmen der Laufzeit der Arbeitslosenversicherung aussuchen.

    Rot-Grün hat mit den Hartz Gesetzen mit diesem Mechanismus aufgeräumt. In der BRD war das immer institutionell falsch organisiert. Die Arbeitslosenversicherung hätte immer durch die Gewerkschaft organisiert werden müssen, weil sie durch den kollektiven Arbeitskampf die Höhe festlegen kann. Der Staat hätte sich auf Existenzsicherung beschränken soll, wie es das Sozialstaats-Gebot und die Menschenwürde im Grundgesetz vorschreibt.

    Die EU Sozialpolitik und die deutsche Sozialpolitik konfligieren solange bis die EU direkte Steuereinnahmen auf Körperschaften erheben darf. Im Augenblick stecken wir in einem Steuerwettbewerb und andere EU Staaten haben immer die Möglichkeit durch Visa-Ausstellung arme Bevölkerungen nach Deutschland weiter reisen zu lassen.

    Auf die Rumänen, Romas, Polen und Spanier drauf zu schlagen hilft einfach nicht weiter.

  6. Cengiz K sagt:

    Guter Artikel.. Bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung muss allmählich ein Umdenken statt fnden, oder wir alle ersticken bald in diesem rassistischen Korsett…

  7. Die Emotionale sagt:

    @cengiz
    wieviel mehr sind Sie – zusammen mit der deutschen Mehrheitsgesellschaft – freiwillig bereit, an Steuern zu zahlen um dann allen diesen Menschen ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern, denn wie das heute gehandhabt wird, funktioniert nicht, wie Sie das „denken“?

  8. Lionel sagt:

    Zur Einordnung: Das Urteil ist eine Einzelfallentscheidung, die noch nicht rechtskräftig ist, und daher (noch) über keine juristische Signalwirkung verfügt.
    Zudem wird diese Angelegenheit wahrscheinlich noch vor dem BSG verhandelt werden.

    Rechtspolitisch könnte das Urteil jedoch Wirkung entfalten.
    Der Kreis der jetzt möglicherweise davon Betroffenen soll 130 000 Personen umfassen.
    Auf Bund und Kommunen kämen also Belastungen in Milliardenhöhe zu.
    Es ist daher zu erwarten, dass die Bundesregierung eine Nachbesserung der unklaren EU-Freizügigkeitsregeln verlangen wird.

    Der Sozialstaat ist ein Nationalstaat. Mit den Sozialbeiträgen wird die Absicherung von 81 Millionen Einwohnern Deutschlands finanziert.
    Dieses System wäre mit der Verantwortung für weitere 426 Millionen EU-Bürger schlicht überfordert.
    Das ergäbe sich aber aus dem Urteil des LSG: Die freie Einwanderung von Unionsbürgern, die nie eine Gegenleistung erbracht haben, in das sozialen Sicherungssystem.

  9. Cengiz K sagt:

    …an Steuern zu zahlen um dann allen diesen Menschen ein menschenwürdiges Auskommen zu sichern…

    Würde ist nicht gegen Geld aufzuwiegen.. Aber da ist bei ihnen ja auch eine Entwicklung vorbei gegangen.. Wenn Sie Geld wollen, streichen Sie die ganzen Kirchensubventionen.. Ihnen würden güldene Taler von den Augen fallen, […] Man/frau müsste auch nicht mehr Afrika ausbeuten, und und und..

  10. Mathis sagt:

    Das Urteil ist für die Betroffenen nicht so positiv, wie es aussieht. Da der Aufenthaltsgrund „Arbeitssuche“ wegfällt, kann leichter abgeschoben werden.
    Dass der Aufenthaltsgrund hinfällig sei, wurde in dem Urteilsspruch festgestellt.Allerdings weiß ich nicht mehr, wo ich diesen erhellenden Kommentar gelesen habe.