Der Berliner Herbstsalon im GORKI
Postmigrantische Identität im Theater
Am Abend des 8. November hat Klaus J. Bade die Neueröffnung des Berliner Maxim Gorki-Theaters mit dem ‚Berliner Herbstsalon‘ erlebt. Und zwar nicht als Kunst- oder Kulturkritiker, sondern als Otto Normalverbraucher, der von Berufs wegen Historiker, Migrationsforscher und insoweit auch Gesellschaftsbeobachter ist.
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Dienstag, 12.11.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 17.11.2013, 20:23 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der ‚Berliner Herbstsalon‘ im, am und um das ‚GOЯKI‘, wie es mit linksgewendetem ‚R‘ heute heißt, ist ein gelungenes künstlerisches Wagnis. Es weckt Erinnerung an ein nur dem Namen nach scheinbar verwandtes Experiment vor hundert Jahren: Es war der ‚Erste Deutsche Herbstsalon‘, die internationale Avantgarde-Ausstellung von 1913, die das Multitalent Herwarth Walden organisiert hatte.
Ausgestellt waren damals experimentelle Werke der neuen Künstlerelite: von Henri Rousseau über den Blauen Reiter bis zu italienischen Futuristen. In den gehässigen Antworten der verdutzten konservativen Kunstkritik auf die Herausforderung durch die künstlerische Innovation gab es schon damals Stichworte wie ‚Entartung‘ und ‚Symptome einer kranken Zeit‘.
Der erste blieb der letzte Herbstsalon, denn der Erste Weltkrieg warf diese Schienen aus dem Gleis. Franz Marc vom Blauen Reiter z.B. fiel 1916 in der Schlacht bei Verdun, andere Künstler kamen zerrüttet aus dem ersten Jahrhundert-Massaker zurück.
Heute gibt es einen neuen, den ‚Berliner Herbstsalon‘. Der hat aber eine ganz andere Funktion. Er soll rahmen und öffnen zugleich: Er soll das ‚GOЯKI‘, wie es heute abgekürzt heißt, als Ort der Kunst durch andere Künste rahmen. Und er soll das Theater zugleich öffnen in die Global City – oder besser in das Global Village hinein, in das globale Dorf Berlin, in dem sich alles auf Zeit und auf Dauer begegnet, was sich in diesem Land und in Europa überhaupt begegnen kann:
Das umschließt Nationalitäten, Ethnien, Schichten, Gruppen, einheimische Ausländer, fremde Deutsche, Menschen mit und ohne den sogenannten Migrationshintergrund. Transnationale Existenzen begegnen bodenständigen urbanen Dorfbewohnern, die nie dauerhaft außerhalb der Grenzen ihres Bezirks gelebt haben, darunter sogar höchstrangige Verantwortungsträger wie der Distriktbürgermeister Buschkowsky aus Neukölln. Nicht zu vergessen die allgegenwärtige Menschenwalze der Touristen, von den gestressten Berlinern trotzdem liebevoll ‚Touries‘ genannt. Das alles prägt die brummende multiple Identität dieser Stadt, und damit etwas, was man außer in Berlin heute am ehesten wohl noch in den Kulturmetropolen New und York Istanbul erleben kann.
Was mit dem ‚Berliner Herbstsalon‘ angekündigt und begleitet wird, ist nicht nur eine neue Theater-Spielzeit. Es ist die Neugründung eines Theaters, das mit dem Salon ein Stück weit seine künstlerische Philosophie offen legt. Der ‚Berliner Herbstsalon‘ eröffnete am Abend und in der Nacht zum 9. November, einem vielfach historischen Datum: Novemberrevolution 1918, Reichs-Pogromnacht 1939, Fall der Berliner Mauer 1989, um nur drei zu nennen.
1989 ist hier das wichtigste Datum. Im Jahr zuvor wurde am seinerzeitigen Maxim Gorki-Theater, das damals das Ostberliner Staatstheater war, das dort mühsam durchgesetzte, visionäre Stück ‚Die Übergangsgesellschaft‘ inszeniert. Volker Braun hatte es schon 1982 geschrieben. Der ‚Übergang‘ kam im Jahr darauf mit der Maueröffnung am 9. November 1889. Was dann zusammenwuchs, war eine andere ‚Übergangsgesellschaft‘, die es als Einwanderungsgesellschaft mit offenem Ende bis heute gibt: Schon ältere Bewegungen von Menschen über Grenzen im Westen und die Bewegung einer Grenze über Menschen hinweg im Osten hatten dazu beigetragen.
Am GOЯKI redet man von postmigrantischer Gesellschaft und von postmigrantischer Identität. Und das ist mehr als ein Erbe des Postmigrantischen Theaters Ballhaus Naunynstraße von Shermin Langhoff und Team. Es ist die Frage nach des Pudels Kern in einer Gesellschaft mit Millionen von längst eingesessenen und jährlich Hunderttausenden von neuen Ein- und Zuwandereren.
Es geht um Menschen mit einem schon Generationen übergreifenden sogenannten Migrationshintergrund. Sie haben keine eigene Migrationserfahrung mehr, werden aber von anderen oft noch immer als ‚Migranten‘ gesehen. In einer Einwanderungsgesellschaft oder postmigrantischen Gesellschaft, die schon mehrere Generationen von Einwandereren umschließt, ist Integrationspolitik für Migranten aber kein Thema mehr, von Neuzuwanderern abgesehen.
Es geht um Teilhabe an den zentralen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens: von Erziehung, Bildung und Ausbildung über Wirtschaft und Arbeitsmarkt, Recht und Soziales bis hin zur politischen Teilhabe. Thema ist heute also teilhabeorientierte Gesellschaftspolitik für alle, ob nun mit oder ohne den sogenannten Migrationshintergrund.
Das gehört mit zu den versteckten Botschaften des ‚Berliner Herbstsalons‘, die aber noch weiter reichen: Erlebbar wird in den Inszenierungen, dass die postmigrantische Gesellschaft kein Zustand ist, sondern ein eigendynamischer und unübersichtlicher Kultur- und Sozialprozess, der sich ständig weiter entfaltet und ausdifferenziert. Darin verändern sich ständig die sozialen und kulturellen Lebensumfelder. Was die einen dabei als kulturelle Bereicherung umschwärmen, macht anderen Stress und Angst. Es geht darum, die Herausforderung durch diesen Wandel als Normalität zu begreifen.
Der Berliner Salon signalisiert aber auch, dass das Grundvertrauen zwischen den verschiedenen Gruppen die Basis der postmigrantischen Gesellschaft ist. Ihre tragenden Säulen sind soziale Anerkennung und Akzeptanz der kulturellen Differenz. Deshalb geht man durch diese Inszenierung wie durch einen künstlerischen Orientierungskurs in Sachen postmigrantische Kultur. Und das ist ein Lebensthema von Shermin Langhoff.
Der ‚Berliner Herbstsalon‘ gibt eine die künstlerische Rahmung des Programms der Gorki-Intendanten Shermin Langhoff und Jens Hillje für die neue Spielzeit: Und da ist man zuerst verblüfft: Wieso beginnen die ihre Spielzeit am 15.11. ausgerechnet mit Tschechows ‚Kirschgarten‘, also mit einem Klassiker? Weil es da auch um die stets mitlaufende Selbstreflexion geht, sagt Hillje, um historische Modernisierungskonflikte, die zeigen, das eine Übergangsgesellschaft historisch durchaus nicht so neu ist wie sie erscheint.
Am nächsten Spieltag geht es in der Bühnenfassung des Romans ‚Der Russe ist einer der Birken liebt’ von Olga Grjasnowa um die brüchigen Kollisionszonen von privaten, gesellschaftlichen und politischen Systemen. Und am 3. Spieltag, also am 17.11., geht mit Marianna Salzmanns Stück ‚Schwimmen lernen‘ der Vorhang hoch für einen Versuch, auszubrechen aus privaten Konventionen und alles anders zu machen – in einer Fremde, die aber ein neues Zuhause nicht werden will.
Aus ganz unterschiedlichen Perspektiven geht es hier also um die Frage nach Konvention, Innovation, Identität und Differenz, die man auszuhalten lernen muss. Dazu passt am 22. 11. besonders die schon klassische Raserei ‚Verrücktes Blut‘ von Erpulat und Hillje, ein rasantes Stück vom Ballhaus Naunynstraße. Das ist die Konfrontation, Kollision und am Ende die Dekonstruktion von allem, was an vermeintlich klar kalkulierbaren Identitäten auf der Bühne steht. Und so geht es fort, bis sich am 14. Dezember der Kreis wieder schließt mit Volker Brauns ‚Übergangsgesellschaft‘, die 1988 am gleichen Ort, aber hinter der Mauer, uraufgeführt worden war. Das neue GOЯKI ist ein kulturelles und künstlerisches Geschenk an alle in der multikulturellen Global City Berlin und weit über ihre Grenzen hinaus. Man sollte sich keine Inszenierung entgehen lassen. Leitartikel Meinung
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Die postmigrantische Gesellschaft gibt es nicht, genauso wenig eine multikulturalistische Gesellschaft. Das sind alles strategische Sprachspiele, ohne eine Grundlage in der Politik und Ökonomie.
Was wir beobachten ist eine anachronistische Institutionalisierung der migrantischen Flows von Menschen, Kapital und Wissen. Es ist nicht schwer, die entsprechenden Konzepte der Think Tanks und der Wissenschaft gegen den Strich zu lesen, und für die Mehrheit der Menschen eine gute Migrationspolitik zu machen.
Allerdings sollte sich auch ihr Fach langsam auf die globalen Trends zu bewegen. In den USA haben wir Transnational America Studies, und es wird gezeigt, dass die Prosperität der europäischen Nationalstaaten ganz wesentlich von der Masseneinwanderung von Europäern in die USA abhing. Prominente Beispiele sind Irland und Italien. Little Italy hatte den fiskalischen Wert einer armen italienischen Provinz, und versorgte den italienischen Staat mit Ressourcen mit. Die Lage in Deutschland hingegen ist mehr als düster. Es werden kaum sozialhistorische Studien gemacht, zu welchen Bedingungen dieser Ressourcenaustausch heterolocal statt fand.
Wann kommen die Transnational Europe Studies ? Sie müssen ihren Ex-Kollegen in der Historiker Zunft besser zureden. Die Geplänkel mit der inkompetenten Necla Kelek sind ehrenwert für Sie, aber letztlich ist Wissenschaft auf einer anderen Funktionsebene, und sie sollte von Wahrheitsliebe angetrieben werden.
Erst wenn die Geschichtswissenschaft neben den Nexus zwischen Ethnos und Demokratie in das Reich der Fabel verweist, können sich die Migranten vom Long Distance Nationalism lösen. Die Realgeschichte war immer eine Geschichte der Ausbeutung der Diaspora Minderheiten durch die Westfälische Welt der Nationalstaaten.
Transnationale Diaspora Gemeinden hatten immer versucht mittels Gewerkschaften, Kulturvereinen, Sportvereinen, Kirche und Community Organisationen und wilden Streiks begrenzte Gegenwehr gegen die Westfälische Welt zu leisten.