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Vom Antisemitismus ohne Antisemiten

„Ich mag dich, auch wenn du Jüdin bist“

Zwei Studien belegen, dass antisemitische Einstellungen bei mehr als einem Viertel der Bevölkerung in Deutschland vorhanden sind. Die öffentlich geführten Antisemitismusdebatten konzentrieren sich fälschlicherweise auf rechtsmotivierte Handlungen und Gewalttaten oder entladen sich als empörte Schuldzuweisungen gegenüber Einzelpersonen, ohne den alltäglich anzutreffenden, unterschwelligen Antisemitismus als ein gesellschaftsimmanentes Kernproblem europäischer Mittelschichten zu erkennen.

Von Montag, 18.11.2013, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 27.01.2014, 13:09 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

„Aber, die sind doch selbst schuld, die Juden. Schau doch mal, was die in Israel machen. Da brauchen die sich nicht zu wundern.“ Sven drückt seine Zigarette aus und räuspert sich. Er ist Mitte 30, ein charmanter, etwas vorlauter Versicherungsmakler und ein „Dortmunder Original“, wie er gern betont.

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„Du bist ein Antisemit“, sagt Sara und lässt sich in die Kissen ihres roten Schlafsofas fallen. Die 26-jährige ist gebürtige Ukrainerin und studiert Psychologie in Essen. Hinter den beiden, auf dem Fensterbrett, steht eine Menora, deren Lichter das Dachgeschosszimmer in warmes Halbdunkeln tauchen. Es ist Freitagabend, es ist Schabbat.

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„Ich bin doch kein Rassist!“, erwidert Sven, seine Stimme zittert. „Ich bin nicht judenfeindlich aus rassistischen Gründen und schon gar nicht rechtsradikal. Und dich meinte ich damit doch gar nicht, Kleines. Ich meine die Anderen.“

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Im Privaten einer Dortmunder Studentenwohnung, in einer Stadt, die durch starke Präsenz der rechten Szene einen zweifelhaften Ruhm als Nazi-Hochburg erlangt hat, entsteht plötzlich ein facettenreicher Mikrokosmos aus jahrhundertealten und neuer Vorurteilen gegenüber den Juden.

In einer 2013 durchgeführten, nicht-repräsentativen Online-Umfrage der EU-Agentur für Grundrechte unter Juden aus acht europäischen Ländern gaben 76 Prozent der Befragten an, dass ihrer Wahrnehmung nach der Antisemitismus in ihren Heimatländern in den letzten fünf Jahren zugenommen hat, nur fünf Prozent sahen eine stagnierende Entwicklung. In Deutschland waren es insgesamt 32 Prozent der Befragten, die sich über eine deutliche Zunahme der Judenfeindlichkeit sorgten. Sind diese Sorgen nur subjektiv und unbegründet? Sind antisemitische Anfeindungen nur ein Instrument gesellschaftlicher Randgruppen, bekennender Rechtsradikaler, rechtsorientierter und gewaltbereiter Fußballfanatiker oder verkennen wir durch die Abschiebung der Problematik in bestimmte Milieus unsere gesamtgesellschaftliche Verantwortung und überhören die latent judenfeindlichen Botschaften im Alltäglichen?

Die letztes Jahr erschienene Studie „Die Mitte im Umbruch – Rechtextreme Einstellungen in Deutschland 2012“ der Friedlich-Ebert-Stiftung diagnostiziert, dass rechtextreme Einstellungen von 28 Prozent der Bevölkerung in Deutschland geteilt werden und die Zustimmung zu allen in der Studie vorgelegten Einzelaussagen deutlich über dem Bevölkerungsanteil manifest antisemitischer Personen (8,7 %) liegen.

Die Studie unterscheidet zwei Formen, die historisch bedingte primäre sowie die moderne sekundäre Form des Antisemitismus. Die Zustimmung zum sekundären, verstecktem Antisemitismus ist mit 23,8 % wesentlich höher als zum primären (11,5%) und stellt heute die Hauptform des Antisemitismus dar.

Der heutige Antisemitismus
In Gegensatz zu der historischen primären Ebene des Antisemitismus, die direkte Vorurteile und die negativen Eigenschaften der Juden als rassische Gruppe in den Vordergrund stellt, bedient sich die sekundäre Ebene eines Vorurteilssystems mit antiamerikanistischen sowie antiisraelischen Stereotypen und dient dazu, durch die Umkehrung der Täter-Opfer-Konstellation den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zu relativieren, um die Frage nach der deutschen Kollektivschuld abzuwehren. Die Stigmatisierung des Judentums, jüdische Mitschuld am Holocaust und Ausnutzung der Schuldgefühle für ihre heutige Interessen sowie die negative Einschätzung Israels und Relativierung antisemitischer Aussagen durch Aufzählung von „guten Juden“ gehören zu den gängigsten Argumentationsmustern der sekundären Ebene.

Diese Ebene gewinnt in modernen westlichen Gesellschaften zunehmend an Bedeutung, da antisemitische Ressentiments nach 1945 nicht verschwunden, sondern aufgrund der vorherrschenden Meinung nicht öffentlich thematisiert wurden und korreliert stark mit nationalistischen Überzeugungen. Durch das Hintertürchen stellvertretender Kritikäußerungen der sekundären Ebenen können also Sanktionen, die der primäre Antisemitismus nach sich nachziehen würde, umgangen werden.

„Niemand möchte als Antisemit gelten, aber die Ressentiments sind allgegenwärtig.“, sagt Sarah nachdem Sven gegangen ist. „Es ist einfacher, einen bekennenden Rechten auszumachen als jemanden, dessen Selbstbild mit den eigenen Einstellungen divergiert, zu entlarven.“

Was ist mit Israel?
Selbstverständlich muss die Siedlungspolitik Israels kritisch hinterfragt werden können, genauso wie der Bürgerkrieg in Syrien oder die permanenten Menschenrechtsverletzungen in Russland, ohne automatisch dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt zu sein. Wenn die internationale Gemeinschaft Druck ausübt und Deutschland als Zivilmacht dazu beitragen kann, dass Menschenrechtsverletzungen eingedämmt werden, sind dies richtige Schritte. Für die etwa 200.000 in Deutschland lebenden jüdisch stämmigen Menschen ist Israel aber nicht der identitätsstiftende Teil ihrer Kultur und das Bekenntnis zum Judentum besitzt für die Juden in Deutschland vielschichtige sozio-kulturelle Gründe, die um die Frage der eigenen Identität, das Leben in der Diaspora und auch um die Integration und Assimilation in Deutschland kreisen.

In Deutschland haben die Bürger das große Glück in einer demokratischen, weitestgehend sicheren und entmilitarisierten Gesellschaft zu leben. Oft nehmen sie diese Werte als selbstverständlich wahr und versuchen „von oben“ herabschauend anderen Nationen diese Werte zu diktieren, verkennend, dass andere Arten von Weltanschauungen ebenfalls ihre subjektive Berechtigung haben und nur im Diskurs erfasst und verändert werden können. Positiv zu bewerten sind der wachsende interkulturelle Austausch zwischen Deutschen und Israelis, die durch steigende Zahlen deutscher Reisender nach Israel belegt werden.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, der Antisemitismus ist nie aus der gesellschaftlichen Mitte verschwunden, sondern hat neue Formen gefunden, um salonfähig zu bleiben. Deshalb gilt es, alte Vorurteile auszumerzen und eine konstruktive Diskussion anzustoßen, anstatt die Schuldfrage vorangegangener Generationen immer wieder auf den Tisch zu bringen. Denn nur, wer sich seiner Einstellung bewusst ist, kann diese hinterfragen. Aktuell Meinung

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  1. Mathis sagt:

    Ich frage mich gerade, wie man den „sekundären Rassismus“ als verwässernd bezeichnen kann, wenn man doch selbst so verschwenderisch, ja inflationär den Rassismusbegriff anwendet, wie dies die Kommentatorin Marie hier regelmäßig vorführt.
    Aber natürlich: es geht halt „nur“ um Israel, da ist plötzlich der Maßstab ein anderer?Pardon, es geht ja gar nicht um Israel, es geht um Antisemitismus in Deutschland. Es geht auch nicht um Muslime, es geht um Juden, da ist @Marie nicht so kleinlich.Da wird manches entschuldigt.Schließlich, die israelische Politik, die ist doch immer kritisierbar…..Wer das nicht versteht, darf sich nicht wundern, angefeindet zu werden.
    Liebe @Marie, inmitten all der Verbrechen, die tagtäglich im Nahen und Mittleren Osten verübt werden wird der Blick des Antisemiten dennoch immer nach Israel schweifen.Denn nur dort lebt jenes verhasste Volk, das sie nicht aus dem Fokus nehmen können, ganz gleich was in der Welt gerade brennt.Die Besessenheit von Israel, die sich in „legitimer Israelkritik“ ausdrückt, ist der Antisemitismus, den wir heute, auch bei Autoren wie Augstein zu beklagen haben.

  2. Lionel sagt:

    @posteo

    Ergänzend:
    1. Wir bleiben alle.
    2. No state, no boder.

  3. Achmed sagt:

    Posteo, es gibt nur einen Feind im Nahen Osten! Und der zettelt alle Kriege an… macht eure Augen auf!

  4. Marie sagt:

    Wer keine Sachargumente hat, Herr Mathis, ist auf Unterstellungen angewiesen. Wenn Sie den Unterschied zwischen sekundärem und primärem Rassismus und schwersten Menschenrechtsverletzungen NICHT verstehen, ist das Ihr Problem, nicht meines. Ich wende den Rassismusbegriff nicht inflationär an, sondern ausschliesslich mit exakter Begründung. Und wenn ich hier jedes Statement, das auf sekundären Rassismus schliessen lässt, kommentieren wurde, wurde das meine Kapazitäten bei Weitem überfordern, weshalb ich mich allenfalls zu den schlimmsten Auswuechsen positioniere. Denn hier tummeln sich, ebenso wie in der Bevölkerungsqerschnitt, jene fast 60 % der Bevölkerung, die ausweislich der FES-Studie ihre Islamfeindlichkeit keineswegs sekundär versteckt, sondern sehr offen äussern. Wenn man in der Studie zusätzlich, wie beim Antisemitismus, auch sekundärere Formen des Antiislamismus untersucht haette, wuerde man noch zu weit höheren Zahlen kommen. Wenn Sie Herrn Augstein, der keineswegs nur die Politik der israelischen Regierung, sondern ebenso vieles andere und auch andere Regierungen kritisiert, ebenso, wie auch ich das tue, als Antisemiten beschimpfen, befinden Sie sich in der Gesellschaft des geistigen Brandstifters und Hetzers Broder, der sich ganz besonders auch im offenen und völlig unverstellten Islamhass einen zweifelhaften Namen gemacht hat. Und nein, das ueberrascht mich nicht, das passt prima zu Ihren sonstigen Äusserungen.

  5. posteo sagt:

    Achmed sagt: „Posteo, es gibt nur einen Feind im Nahen Osten! Und der zettelt alle Kriege an… macht eure Augen auf!“

    Ich nehme an, sie meinen die USA. Beim Irakkrieg gebe ich ihnen vollumfänglich recht. Nur muss man dabei auch berücksichtigen, dass dieser Krieg USA einen großen Teil seiner Wirtschaftskraft, bis hin zur schieren Zahlungsunfähigkeit der öffentlichen Hand gekostet hat.
    An den immensen Kosten, die jeder militärische Einsatz verursacht, sollte man auchein mal die süffige These „Krieg für Öl“ überprüfen, zumal der Nahe Osten mit seinem vielen Öl schließlich nichts anderes anfangen kann, als es zu verkaufen.
    Das heißt noch lange nicht, dass ich eine Idee habe, was die USA sonst zu immer neuen Kriegseinsätzen treibt, geschweige denn, dass ich diese Einsätze gut heiße.

    Nun aber zu den übrigen Akteuren im Nahen Osten. Wenn ich Sie recht verstanden habe, wären die Menschen im Nahen Osten ein einig Volk von Brüdern, wenn nur der böse Ami nicht wäre.
    Die Schiiten würden mit den Sunniten ökumenische Welt-Gebetstage abhalten, die saudischen Wahabiten hätten längst eingesehen, dass ihre strenge Auslegung der Sunna nicht nach jedermanns und vor allem -fraus Geschmack ist, die Palästinenser hätten sich nie in Fatah und Hamas gespalten und der Oman müsste seine Grenze zum Jemen auch nicht hermetisch verschlossen halten.
    Nun ist es aber spät geworden. Ich werde morgen weiter darüber nachdenken.

  6. posteo sagt:

    @lionel
    „Ergänzend:
    1. Wir bleiben alle.
    2. No state, no boder.“

    Danke für die Ergänzungen. Nur, was das Korrekturlesen unserer Beiträge angeht [no boRder], müssen wir wohl beide noch an uns arbeiten
    Mfg posteo ;-)

  7. aloo sagt:

    Marie hat einfach kein Geschichtsbewusstsein und Verantwortungsgefühl. Wenn mein Großvater einer Gesellschaft angehörte, die im großen Stil Juden vergaste und dabei eines der größten Verbrechen an die Menschheit beging, ist es meine Pflicht als Enkel oder Urenkel, den Juden das Gefühl zu geben, dass sie hier unbehelligt wie normale Menschen leben können. Dazu gehört angesichts des Traumas, den Juden in der jahrhundertelangen Verfolgung erlitten haben, jedes Anzeichen von Antisemitismus mit der gleichen Vehemenz entgegen zu treten, wie Marie es bei muslimfeindlichen Geisteshaltungen zu machen versucht.

    Wer aber wie Marie den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland bagatellisiert, den Jablonowska anhand mehrerer Quellen belegt und ihn gegen den sicher weitaus stärker verbreiteten Hass auf Muslime verrechnet, offenbart eine geschmacklose Prinzipienlosigkeit, die geeignet ist, den in Deutschland lebenden Juden vor dem Kopf zu stoßen.

    Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich früher oder später in den Beiträgen von Marie typische, uralte antisemitische Konstruktionen finden lassen. Eine solche Konstruktion ist die folgende:

    —-
    Sicher ist es nicht die Verantwortung von in Deutschland lebenden Juden, welche menschenrechtswidrige Politik die israelische Regierung betreibt, aber wenn … bla bla bla … braucht es Sie nicht wundern, dass selbiges geschieht. Ich habe da von den Vertretungen deutscher Juden keinen empörten Aufschrei vernommen. […] Heißt es nicht: Schweigen bedeutet Zustimmung, Frau Jablonowska? Ich finde, Sie machen es sich da zu einfach.

    Die antisemitische Konstruktion ist: Der Jude muss sich mal wieder nicht wundern, dass „selbiges“ geschieht.

    Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass Marie sich eines Klassikers anti-muslimischer Vorwürfe bedient. Eine beliebte wie auch unberechtigte Kritik gegen Muslime ist, dass sie sich nicht vom Terror der Islamisten distanzieren würden. Schweigen wird in diesem Fall ebenfalls als Zustimmung ausgelegt.

    Nun, zum einen stimmt das nicht. Zum anderen, warum sollten Muslime in Deutschland sich vom Terror der Islamisten distanzieren? Wo keine Gemeinsamkeit und Identifikation gibt, gibt es auch keinen Grund zur Distanzierung. Das gleiche gilt natürlich auch für die Juden in Deutschland.

  8. Mathis sagt:

    @Marie
    Wer die Strategie der doppelten Standards so konsequent auf die Rassismusdebatte anwendet wie Sie, dem braucht man mit rationalen Argumenten nicht zu kommen.Aber eins verstehe ich in Ihrem Wirrwarr doch recht gut: dass Sie den smarten Augstein dem dicklichen Broder bei weitem vorziehen.Kann ich verstehen, aus Ihrer Perspektive!

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