Legende vom NSU Behördenwirrwarr
Wie alle Behörden an einem Strang zogen und ziehen
Die Nicht-Aufklärung des NSU Mordes in Kassel war alles andere als zufällig. Und alle Behörden, die an der Verwischung von Spuren und Beweisen beteiligt waren, zogen - entgegen der Legende vom Behördenwirrwarr - an einem Strang.
Von Wolf Wetzel Montag, 09.12.2013, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.07.2015, 0:13 Uhr Lesedauer: 14 Minuten |
‘Cleaner’ nennt man Spezialisten, deren Beruf es ist, Tatorte und Beweise so präparieren, dass sie zu dem erwünschten Ermittlungsergebnis führen.
In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund/NSU zugeordnet wird. Dieses Mal wurde der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat kaltblütig ermordet. Wie in den vorangegangenen Morden wurde ‘zufällig’ auch dieser ins ausländische Milieu abgeschoben. Wieder aus Zufall wurde „nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt“ (FR vom 24.11.2011). Ebenso zufällig wurden Täter im familiären und beruflichen Umfeld des Ermordeten gesucht.
Dennoch weist der Mord in Kassel eine Besonderheit auf: Zur Tatzeit war der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme (dienstlicher Aliasname: Alexander Thomsen) in besagtem Internet-Café – selbstverständlich zufällig. Ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der den Spitznamen ‘Klein-Adolf’ trug, einen ortsbekannten Neonazi als V-Mann ‘führte’, mit dem er am Mordtag in telefonischem Kontakt stand.
In diesem Beitrag geht es darum, zu belegen, dass die Nicht-Bereitschaft zur Aufklärung dieses Mordes alles andere als zufällig war und ist. Außerdem belegt dieser Fall sehr eindringlich, dass an der Nicht-Aufklärung, an der Verwischung von Spuren und Beweisen alle Behörden beteiligt waren/sind und – entgegen der Legende vom Behördenwirrwarr – alle an einem Strang zogen, bis heute: Von der Polizei, über den Verfassungsschutz bis hin zum hessischen Innenministerium und der Generalbundesanwaltschaft.
Der NSU-VS-Komplex. Wo beginnt der Nationalsozialistische Untergrund – wo hört der Staat auf? Unrast Verlag 2013/2. Auflage
Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als ein Mann das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf mit zwei Schüssen in den Kopf den Internetbesitzer Halit Yozgat schwer verletzt. Halit Yozgat stirbt noch am Tatort.
Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten.
Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche ZeugInnen des Mordes zu melden, folgen fünf Personen, die einen weiteren Besucher erwähnen. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme, der sich im Internet als ‘Jörg Schneeberg’ ausgegeben hatte. Daraufhin setzen interne und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ein. Dabei zeigt sich seine Erinnerung als äußerst flexibel oder anders gesagt: er änderte je nach (ihm zugänglich gemachten) Ermittlungsstand seine Aussagen: „Erst kannte er – in den Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.“ (Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013)
Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. Und er erinnerte sich wieder an den Grund des Nicht-Erinnerns: Er wollte nicht als User eines Erotik-Portals entdeckt werden.
Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Kenntnis, dass Andreas Temme neben behaupteter ‘Chat-Affäre’ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis hatte. Damit konfrontiert erklärt Andreas Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort, die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier abgelehnt: „Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden.“ (Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios, ZDF-Sendung vom 26.6.2012).
Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen.
In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht.
Außerdem behauptet der hessische Verfassungsschutz allen Ernstes, dass es von V-Mann Führer Temme angefertigte Treffberichte mit Benjamin Gärtner gäbe, nur keine für das Jahr 2006. Und das, obwohl Andreas Temme selbst bestätigt, dass er den Neonazi ein bis zwei Mal im Monat, also sehr regelmäßig und ergiebig getroffen habe, was dem V-Mann Benjamin Gärtner die Note ‘B’ einbrachte, die zweithöchste Bewertung für Quellenglaubwürdigkeit.
Dermaßen mit Verschleierungen der Umstände konfrontiert, liefen alle Bemühungen um Aufklärung ins Leere. Beschützt, gedeckt und abgeschirmt, wurden die Ermittlungen gegen den VS-Mann Temme im Januar 2007 eingestellt. Eine Meisterleistung in Sachen Behinderung der Aufklärung und des Verschwindenlassens von taterheblichen Beweismitteln.
Was haben den Chef des hessischen Verfassungsschutzes und den damaligen Innenminister Volker Bouffier als oberster Dienstherr, dazu bewogen, dem ‘Schutz’ des Verfassungsschutzes einen höheren Rang einzuräumen, als der Aufklärung eines Mordes?
Was hätte der Neonazi und V-Mann des Verfassungsschutzes aussagen können, was den Verfassungsschutz hätte gefährden können? Eine Antwort darauf zu geben, ist keine große Detektivleistung: Hätte der als V-Mann geführte Neonazi weder etwas mit dem Mord an dem Internetcafébesitzer zu tun, noch mit dem NSU, wäre er geradezu als Entlastungszeuge des in Nöten geratenen VS-Mitarbeiters Temme aufgerufen worden! Gefährden kann dieser Neonazi den hessischen Verfassungsschutz nur, wenn das Risiko besteht, dass er eine Verbindung zu dem Mord, zu den Mördern herstellt, wenn man ihn nicht für befragungsresistent einstufte!
Über vier Jahre lang gab es für diese naheliegende Schlussfolgerung keine Belege, keine Indizien. Alle an dem Mordfall beteiligten Behörden hielten dicht – von dem ansonsten so viel beschworenen Behördenwirrwarr keine Spur.>
Das änderte sich erst, als Beate Zschäpe als Folge der tödlichen Ereignisse am 4. November 2011 – mit der Versendung der Video-Kassetten – dafür sorgte, dass die Existenz des NSU nicht mehr geleugnet werden konnte. Leitartikel Meinung Politik
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Ein hervorragender, kritischer Artikel, der auch meine eigenen Ergebnisse vollauf bestätigt, s. Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Schwalbach i. Ts. 2013, S. 294f. ‚Wehret den Anfängen‘ hilft nicht mehr, wo das ‘Cleaning’ zur Struktur geworden zu sein scheint.
Erst lehnte die Partei „Bündnis90/die Grünen“ in Hessen einen NSU-Untersuchungsausschuss ab, jetzt steht die Partei in Koalitionsverhandlungen mit der CDU und Volker Bouffier.
Die Abkürzung NSU steht nicht nur für „National-Sozialistischen Untergrund“, sondern auch für „National-Sozialistische Union“, nämlich für ein Bündnis des nationalsozialistischen Untergrunds mit bundesdeutschen Behörden und Politikern.
Super Artikel. Stellt vollkommen meine Überzeugung dar. Trotz aller Indizien gegen diesen Mörder (oder zumindest Helfer) wird die Theorie von puren Zufällen verbreitet.
http://www.youtube.com/watch?v=bI2kbhlfQfY&feature=player_embedded
Auch lesenswert:
http://www.publikative.org/2013/12/05/der-fall-andreas-t/
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