Buchtipp zum Wochenende
Einwanderungsland Deutschland: „Ziemlich deutsch“
Worauf beruht unsere kulturelle Identität? Was bedeuten Religions- und Meinungsfreiheit? Tragen gewohnte Ordnungsmuster noch in einer Gesellschaft, die sich durch die Begegnung mit anderen Kulturen, durch Migration, gewandelt hat? Das Buch spiegelt Erfahrungen, Meinungen und Richtungen.
Von Gabriele Voßkühler Freitag, 07.02.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 10.02.2014, 0:04 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Mehr als fünf Millionen Fernsehzuschauer haben in der letzten Woche im ZDF die Culture-Clash Komödie “Kückückskind“ gesehen. Zum Inhalt: Bei einem Krankenhausaufenthalt stellt sich heraus, dass Dominik (Robert Alexander Baer) nicht der Sohn seiner Eltern sein kann. Nachforschungen ergeben, dass die Türkin Ayse (Ava Çelik) und Dominik bei ihrer Geburt vor 15 Jahren vertauscht worden sind.
Um ihre leiblichen Eltern besser kennenzulernen, entschließen sich die Teenager ihre Familien für zwei Wochen zu wechseln. Es kommt zu einer Reihe „deutsch-türkischer“ Verwicklungen: Am Ende braucht die deutsche Mutter (Natalia Wörner) dringend Hilfe und die türkische Familie ist zur Stelle: Mit vereinten Kräften meistern beide Familien die Situation.
Was wäre, wenn wir die Geschichte des deutschen Wirtschaftswunders der 60iger Jahre neu erzählen würden – genauso wie das Ende dieser Fernsehkomödie, mit den damaligen „Gastarbeitern“ als Erzählern? Aber wie geht das eigentlich, „deutsche“ Geschichte neu erzählen?
Das ist nur eine der Fragen, mit der sich „Ziemlich deutsch“ beschäftigt. Dieser neue Band aus der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung liefert „Betrachtungen aus dem Einwanderungsland Deutschland“. Dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, bestreitet mittlerweile kaum noch jemand: Aber was hat die Einwanderung eigentlich mit Deutschland gemacht? Wo sind Spuren und Einflüsse der Frauen und Männer, die während der letzten 60 Jahre zum Leben und Arbeiten nach Deutschland gekommen sind, erkennbar? Was heißt heutzutage eigentlich Deutschsein?
Zu alle diesen Fragen gibt „Ziemlich deutsch“ Denkanstöße. Die Autoren und Interviewpartner sprechen in ihren Beiträgen über Dinge, die sich bei uns geändert haben: Seit den 50ern kommen Menschen zum Leben und Arbeiten nach Deutschland. Das hat sie selber geprägt aber auch die Deutschen. Die Herausgeberin von „Ziemlich deutsch“, Dorte Huneke, nimmt diese Einsicht zum Anlass, einen Blick auf „veränderte“ Menschen und das „veränderte“ Land, in dem sie leben, zu werfen.
Huneke hat für „Ziemlich deutsch“ eine Gruppe von Zeitzeugen ausgewählt, die Einwanderung als eine Chance für die deutsche Gesellschaft verstehen. Während wortgewaltige „Täter“ wie Sarrazin & Co. mit Panikmache und „deutscher Angst vor dem Islam“ während der letzten Jahre Millionen von Büchern verkauft haben, versuchen diese Zeitzeugen ein angstfreies und konstruktives Bild der „Einwanderungsnation Deutschland“ zu zeichnen: Immer auf Augenhöhe mit den Menschen, die ihre Wurzeln woanders haben, und immer geprägt von Respekt.
Zeigen, wie die Dinge bei uns laufen
Ein Versuch beim Thema Einwanderung nicht von Unterschieden oder Problemen zu sprechen, sondern von Vielfalt, ist das Interview mit Ulrich Pieper: Ulrich Pieper, 1956 geboren, nimmt nach einer Kindheit ohne Migranten als Gymnasiast an einem Projekt für eingewanderte Familien aus Italien, Spanien und der Türkei teil. Durch den Kontakt zu diesen Menschen eröffnet sich eine völlig neue Welt für ihn: „Wenn wir irgendwo klingelten und erklärten, weshalb wir da waren, wurden wir immer ins Wohnzimmer hineingewinkt.“
Das Vertrauen und die Gastfreundschaft der Menschen beeindrucken Pieper: „Üblicherweise gab es irgendwelche behördlichen Fragen zu klären. Das war allerdings meist auch mit einem großen Essen verbunden. Wir wurden richtig hofiert.“ Nicht nur die Familien, sondern auch Ulrich Pieper selber verändern sich durch diese Arbeit. Nach dem Studium geht er mehrere Jahre als Lehrer in die Türkei. Heute ist Pieper Vorsitzender einer multikulturellen Kinder- und Jugendorganisation in Bochum.
Wir müssen Geschichte neu erzählen
In einem Einwanderungsland wie Deutschland gibt es Minderheiten. Wie kann man diese Minderheiten einbinden? Naika Foroutan schlägt vor, neue Geschichten von einem pluralen Deutschland zu entwerfen: „Wir können versuchen bestimmte Teile der Geschichte in der Rückschau neu zu erzählen, (…). Zum Beispiel die Geschichte des deutschen Wirtschaftswunders.“
Der Wissenschaftlerin geht es vor allen Dingen darum, die damaligen „Gastarbeiter“ ihre Geschichte selber miterzählen zu lassen: „Wir könnten sagen: ‚Deutschland brauchte Hilfe, es gab nicht genügend Arbeitskräfte, wir haben es nicht allein geschafft. Es kamen Arbeiterinnen und Arbeiter aus anderen Ländern, um uns zu helfen. Als sie da waren, wurde alles besser, weil wir es zusammen geschafft haben. Deswegen haben wir in den 1960-iger Jahren ein Wirtschaftswunder erlebt.’“
Während Ulrich Pieper noch erzählt, wie Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund sein eigenes Leben verändert haben, geht die Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan schon einen Schritt weiter: Sie wünscht sich, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft deutsch sein können: „Pluralität in Deutschland ist dann normal geworden, wenn sie in die Alltäglichkeit unserer Sprache übergeht. Wie zum Beispiel die ‚Initiative schwarzer Deutscher‘, womit deutlich gemacht wird, dass Deutsche selbstverständlich auch schwarz sein können.“
Streiten ist gut
Dass viele Menschen auch viele unterschiedliche Meinungen zum Einwanderungsland Deutschland haben, ist für die Zeitzeugen aus „Ziemlich deutsch“ keineswegs etwas, was es zu vermeiden gilt. Es kommt ihnen vielmehr darauf an, wie man mit Meinungsverschiedenheiten und Konflikten zum Thema Einwanderung umgeht: Debatten sind immer auch eine Chance für neue Erkenntnisse. Oder wie es Bundespräsident Joachim Gauck in einem Interview mit der FAZ vor einigen Tagen gesagt hat: „Wir müssen darüber streiten, wie wir zusammenleben wollen.“ Aktuell Rezension
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