Anzeige

Schweizer Volksentscheid

Die defekte Demokratie

Mit der Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ hat die rechtspopulistische SVP den Volksentscheid knapp für sich entscheiden können. Die Zuwanderung in die Schweiz wird gebremst. Wieder einmal zeigt damit die direkte Demokratie ihre Schwächen: Mehrheiten werden zu Diktaturen und Minderheiten zu Sklaven von Entscheidungen, die sie nicht mitbestimmen können. Ein Kommentar.

Von Montag, 10.02.2014, 8:28 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.02.2014, 7:18 Uhr Lesedauer: 2 Minuten  |  

Im Grunde genommen ist ein Volksentscheid der Königsweg des demokratischen Entscheidungsprozesses. Das Volk entscheidet unmittelbar über Gesetze. Vergessen werden darf aber gleichzeitig nicht, dass Volksentscheide ein entscheidendes Manko haben, weshalb sie abgelehnt werden müssen: den mangelnden Schutz von Minderheiten.

Anzeige

Unsinnige Volksentscheide
Exemplarisch hierfür ist der Volksentscheid am vergangenen Sonntag in der Schweiz. Dort hat die Schweizerische Volkspartei (SVP) mit ihrer Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ 50,3 Prozent der Stimmen errungen. Darin fordert die SVP nicht nur eine Drosselung der Zuwanderung, sondern auch die Beschränkung des Anspruchs „auf dauerhaften Aufenthalt, auf Familiennachzug und auf Sozialleistungen“. Mehr noch: Es soll ein „Vorrang für Schweizerinnen und Schweizer“ auf dem Arbeitsmarkt geben.

___STEADY_PAYWALL___

Wie unsinnig Volksentscheide teilweise sein können, zeigt dabei die jüngste schweizerische Geschichte selbst: Bis 1971 durften Frauen aufgrund von negativen Volksentscheiden nicht wählen, lange nach der Türkei, Afghanistan oder Haiti. Bis ins Jahr 2002 hatte die Schweiz zudem die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen abgelehnt.

Anzeige

Vor allem funktionieren Volksentscheide immer dann gut, wenn es um Migranten geht. Das zeigen die Volksbegehren „Gegen den Bau von Minaretten“ (2009) und „Für die Ausschaffung krimineller Ausländer“ (2010). Migranten dienen dann immer schnell als Sündenböcke oder Projektionsfläche für Ängste der Mehrheitsgesellschaft.

Keine Mitbestimmung der Betroffenen
Darunter leidet im Besonderen immer die Minderheit: In diesem Fall also die etwa 1,9 Millionen Migranten ohne schweizerischen Pass. Sie konnten obendrein gar nicht erst mitbestimmen, was entschieden wird. Sie müssen also wieder einmal einen scheußlichen Kuchen essen, den sie nie bestellt haben – aber bezahlen müssen sie ihn allemal.

Der Grundsatz „was alle betrifft, bedarf der Zustimmung aller“ liegt in der Schweiz nicht vor. Wenn aber eine Staatsform Menschen unterschiedlich behandelt, also die einen benachteiligt und die anderen über sie herrschen lässt, dann sprechen wir gelinde gesagt über eine defekte Demokratie: Nachahmung nicht empfehlenswert. Aktuell Meinung

Zurück zur Startseite
MiGLETTER (mehr Informationen)

Verpasse nichts mehr. Bestelle jetzt den kostenlosen MiGAZIN-Newsletter:

UNTERSTÜTZE MiGAZIN! (mehr Informationen)

Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.

MiGGLIED WERDEN
Auch interessant
MiGDISKUTIEREN (Bitte die Netiquette beachten.)

  1. Cengiz K sagt:

    Versucht die SVP nicht schon länger deutsche Armutsmigranten in der Schweiz los zu werden? Was mich wundert ist, wie kann der/die SchweizerIn für etwas abstimmen, wofür es keine Grundlage gibt? Und morgen wird für/gegen eckige Ovaltische abgestimmt? Gibt es eigentlich eine Gestzesvorlage? Wenn ja, könnte das Migazin diese hier posten? Also, irgendwie ist das schweizerische Modell auch nicht tadellos..

  2. aloo masala sagt:

    Ein Demokratiedefizit liegt vor allem dann vor, wenn eine demokratische Abstimmung nicht das gewünschte Ergebnis liefert und man diese deswegen als undemokratisch anfechtet. Besser kann man seine Verachtung für die Demokratie nicht bekunden.

    Nun verdient nicht jede Abstimmung das Etikett „demokratisch“. Zum Beispiel ist die Schweizer Abstimmung zum Minarettenstreit keine demokratische Abstimmung, weil in diesem Fall Grundrechte der Minderheit durch die Mehrheit beschnitten werden können. Das widerspricht den Werten einer Demokratie, die den Schutz der Minderheit betont. Die Abstimmung über das Minarettenverbot hat somit nichts mit direkter Demokratie zu tun sondern ist nichts anderes als direkte Undemokratie. Es würde auch niemand auf die Idee kommen, eine Abstimmung 1939 über den Holocaust, dem vielleicht eine große Mehrheit der Deutshcen zugestimmt hätte, als Fehler der direkten Demokratie zu bezeichnen. Wenn über ein Verbrechen abgestimmt wird, dann ist das nicht ein Makel oder Defekt der Demokratie und ihrer Werte, sondern ein Defekt des Demokratieverständnisses in der Gesellschaft.

    Eine Abstimmung über die „massenhafte Zuwanderung“ ist dagegen eine nationale Angelegenheit eines souveränen Staats. Grundrechte werden durch das Abstimmungsverhalten nicht beschnitten.

    In Fragen von direkten „demokratischen!“ Abstimmungsverhalten gibt es nur zwei Positionen: Entweder man respektiert das Abstimmungsergebnis oder man hängt einer faschistoiden Haltung nach, die nur die eigene Weltsicht akzeptiert und dem Bürger für zu dumm hält, um komplexe Fragen zu beantworten.

  3. TaiFei sagt:

    aloo masala sagt: 16. Februar 2014 um 13:16
    „Eine Abstimmung über die “massenhafte Zuwanderung” ist dagegen eine nationale Angelegenheit eines souveränen Staats. Grundrechte werden durch das Abstimmungsverhalten nicht beschnitten. “
    Das ist noch nicht raus. Was ist z.B. mit Familiennachzug?

  4. aloo masala sagt:

    @TaiFei

    Im Abstimmungstext heißt es: Familiennachzug kann beschränkt werden.

    Änderungen des Familiennachzugs sind somit kein verpflichtender Teil der Abstimmung. Sollte eine Beschränkung erfolgen, die mit menschenrechtlichen Standards nicht vereinbar ist, dann ist das in der Tat ein Kritikpunkt. Allerdings nicht ein Kritikpunkt an direkte Demokratie, sondern an die Politik, die ohne Anlass völkerrechtliche Abmachungen bricht.

    Verpflichtend für die Abstimmung ist eine Einführung von Kontingenten die Zuwanderung begrenzen. Somit ist die Abstimmung der Schweizer keine Abstimmung, die demokratischen Grundsätzen widerspricht.

    Mehr Zuwanderung wird von der Politik gefordert, weil die Wirtschaft das fordert. Folglich sind Politik und Wirtschaft auch neben den üblichen verblendeten Ideologen am lautesten bestürzt, empört und entrüstet, wenn das Schweizer Votum Schule in der EU machen sollte. Hehre Werte wie Freizügigkeitsregelung werden wie eine Monstranz vor sich hergeschoben, um die rein kapitalistischen Motive zu verschleiern und ihnen ein schönes Gewand zu verleihen. Als ob sich Politik und Wirtschaft je um das Wohl der Zuwanderer geschert hätten.

    Ich gehören nicht zu den Menschen, die sich Sorgen um den Job machen müssen. Hakan Demir wohl auch nicht, Ekrem Senol ebenfalls nicht. Deren und mein Lohn wird wohl auch kaum von ausländischen Arbeitnehmern gedrückt. Die akademische Schicht ist recht gut versorgt. Es sind vor allem die Arbeiter, die sich Sorgen um ihren Job machen und deren Lohn letztlich im Konkurrenzkampf gedrückt wird. Es ist nichts neues, dass der Kapitalismus sich Kolonnen von potentiellen Arbeitnehmern in das Land holt, um Löhne zu drücken. Das hat uns schon Karl Marx über England wissen lassen. Die Zuwanderer werden von der Wirtschaft für ihre eigenen Interessen benutzt, was am Ende zu einem feindseligen und vergifteten Klima umschlägt.

    Unbestritten werden auch rein ausländerfeindliche Motive eine Rolle bei der Befürwortung eine Zuwanderungsbegrenzung die Rolle gespielt haben. Ausländerfeindlichkeit entsteht jedoch nicht nur, weil die Menschen gerne böse durch die Welt herumlaufen, sondern auch, weil die Politik sich eine Reihe von Versäumnissen vorwerfen lasen muss, u.a., dass sie den Interessen der Wirtschaft Vorrang gegenüber den Interessen des kleinen Manns einräumt. Genau aus diesem Grund sollte es mehr direkte Demokratie geben.

  5. TaiFei sagt:

    @aloo masala
    „Allerdings nicht ein Kritikpunkt an direkte Demokratie, sondern an die Politik, die ohne Anlass völkerrechtliche Abmachungen bricht. “
    Das ist mir zu schwammig. Die Abstimmung enthält doch eindeutig einen Passus, welcher geradezu in diskriminierender Absicht ausgelegt werden kann. Also muss sich auch die direkte Demokratie entsprechender Kritik zwecks Beeinflussung stellen. Sie ist hier keineswegs immun. Ich verweise hier auch nochmals auf Volksabstimmungen in der CH vor 1971, welche verhinderten, dass Frauen ebenfalls ein Wahlrecht zugestanden wurde. Direkte Demokratie ohne eine starke verfassungsrechtliche Kontrolle kann sehr schnell zur Diskriminierung führen. Was glauben Sie denn wie z.B. eine Abstimmung zum Thema:“ Todesstrafe für Kinderschänder“ ausgehen würde?

  6. aloo masala sagt:

    @TaiFei

    „Die Abstimmung enthält doch eindeutig einen Passus, welcher geradezu in diskriminierender Absicht ausgelegt werden kann.“

    Das ist mir zu schwammig. Man kann auch den Koran als Religion der Unterdrückung der Frau auslegen. Was man alles kann ist eine Sache. Eine andere ist, die Politik für man die letztlich stimmt. Verpflichtend ist hier eine Kontigentregelung. Eine Regelung des Familiennachzugs ist optional und kann ebenso auch völkerrechtlich konform ausgestaltet werden.

    Zu berücksichtigen wäre auch das Gesamtbild. Wer hat denn das größte Interesse an einer Zuwanderung?

  7. Songül sagt:

    In Fragen von direkten “demokratischen!” Abstimmungsverhalten gibt es nur zwei Positionen: Entweder man respektiert das Abstimmungsergebnis oder man hängt einer faschistoiden Haltung nach, die nur die eigene Weltsicht akzeptiert und dem Bürger für zu dumm hält, um komplexe Fragen zu beantworten.

    ————————————————————————————————–
    Nun ja, in Anbetracht der Tatsache, dass die BILD unsere Volkszeitung darstellt, werden die kritischen Stimmen bezüglich mehr direkter Demokratie nicht abnehmen, ohne gleich als faschistoid oder überheblich gelten zu müssen.

  8. Hansi sagt:

    Eine direkte Demokratie also die Möglichkeiten ein Referendum durchzuführen, ist auch möglich ohne gleich grundsätzliche Menschen- und Bürgerrechte zur Wahl zu stellen. Sinn und Zweck eines Referendums kann ja wohl nicht sein, Volksgruppen oder Einzelnen Ihre Grundrechte wegzunehmen oder will man z.B. wirklich ein Referendum darüber halten, ob Person X weiterleben darf oder nicht? Unter der Berücksichtigung dieser Rechte sind Volksentscheide im Sinne tatsächlich umgesetzter Demokratie durchaus sinnvolle Instrumente. Über den Euro hätte man das Volk entscheiden lassen sollen, genauso über den Euro-Rettungsschirm.

  9. aloo masala sagt:

    @Songül

    Konsequent zu Ende gedacht: warum nicht gleich das Wahlrecht für die Dummen entziehen?

  10. Songül sagt:

    @aloo masala

    Nette Idee, nur schwer umsetzbar: Zum einen steht es uns nicht auf der Stirn geschrieben, zum anderen ist auch der Intelligenztest kein zuverlässiges Mittel. Makaber …

    Scherz beiseite, was ich etwas überspitzt und provokativ dargestellt habe, hat Hansi mE auf eine besonnene Weise schön dargestellt.

    So romantisch die Idee der direkten Demokratie daherkommt, so sehr weist die harte Realität ihr die Grenzen auf.