Bades Buchkritik zu Sarrazins "Tugendterror"
Die Welt ist ungerecht – und das ist auch gut so!
In seinem Buch "Der neue Tugendterror" erklärt Thilo Sarrazin der Political Correctness den finalen Krieg. Er rechnet mit seinen Gegnern ab, bleibt aber seinen Leitargumenten treu. Aus der "Sarrazin-Debatte" hat er selber wenig gelernt - Rezension von Prof. Klaus J. Bade:
Von Prof. Dr. Klaus J. Bade Montag, 24.02.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 28.02.2014, 2:34 Uhr Lesedauer: 38 Minuten |
Der Bestsellerautor Thilo Sarrazin möchte mit seinem neuen Buch „Der neue Tugendterror“ 1 noch einmal richtig Kasse machen; denn sein Letztes „Europa braucht den Euro nicht“ (2012) hatte sich zwar ebenfalls sehr gut verkauft, war aber für den verwöhnten Erfolgsautor ein Flop im Vergleich zur allein in Deutschland mehr als anderthalb Millionen hohen Auflage seines Bestsellers ‚Deutschland schafft sich ab‘ (2010).
Und es hatte außerdem nichts bewirkt. Denn zum Ärger von Thilo Sarrazin und der ‚Alternative für Deutschland‘, der die Argumente des bekennenden Sozialdemokraten erheblich näher stehen als denen der deutschen Sozialdemokratie, glauben die Deutschen nach Auskunft des Politbarometers von ZDF und Tagesspiegel von Mitte Dezember 2013 mehr und mehr an den Euro und daran, dass das Jahr 2013 für Deutschland ein gutes Jahr war. Was macht man da? Man versucht inhaltlich und geschäftlich noch einmal an den Bestsellererfolg von 2010 anzuknüpfen in der Hoffnung, dass die Welle vielleicht noch trägt.
Das Ergebnis ist ein mitunter flott, meist aber langatmig geschriebenes Buch. Es ist offenbar aus drei verschiedenen Anläufen zusammengequält und deshalb in seiner Struktur so verschachtelt, dass der Autor immer wieder mit lästigen gliedernden Hinweisen, Ankündigungen und Rückbezügen den roten Faden hochhalten muss. Die Möchtegern-Sozialphilosophie steht dabei von Beginn an stets im Hintergrund.
Im ersten Drittel des Buches antwortet der beleidigte und beleidigende Autor auf Kritik an seinem Bestseller ‚Deutschland schafft sich ab‘. Er übergeht dabei aber Stimmen, die ihm wirklich gefährlich wurden. Das gilt z.B. für Klaus J. Bades Gesamtdarstellung der sogenannten Sarrazin-Debatte 2 ebenso wie für die Kritik der Berliner Soziologin Naika Foroutan und ihrer Forschungsgruppe an seinen Thesen zu Muslimen in Deutschland. 3
Im zweiten Drittel posiert der neokonservativ argumentierende Möchtegern-Sozialphilosoph von der traurigen Gestalt in seiner liebsten Rolle: als angeblicher Tabubrecher in Sachen Political Correctness und öder Gleichmacherei. Im letzten Drittel geht die Bühne auf für ein Kabarett, in dem das Publikum an vierzehn Beispielen lernen darf, was man doch wohl noch sagen darf.
Erster Akt: Der Märtyrer Sarrazin – Selbstverteidigung im Freistilkampf
Zunächst und sehr lange dominiert im Buch eine Flut von empörten bis beleidigten, mitunter auch beleidigenden Erregungen des stachelmimosigen Angreifers, der gern austeilt, aber nicht einstecken kann. Er wehrt sich, wohlgegliedert nach Zettelkasten oder Excel-Tabelle, gegen vielerlei Kritik an seinem Bestseller ‚Deutschland schafft sich ab‘, unter besonderer Berücksichtigung der in der Sarrazin-Debatte leitenden Themen. Dazu stellt er eingangs, nach einigen Begriffsklärungen, nochmals die schrägen ‚Kernthesen‘ seines Bestsellers vor:
An erster Stelle steht die Einschätzung, dass sich Deutschland mit seiner anhaltend niedrigen Reproduktionsrate „aus der Geschichte wegschrumpft“, was bekanntlich so nicht stimmt.
An zweiter Stelle steht seine These, dass durch die sozial „schiefe Geburtenstruktur“, für die auch „die spezifische Konstruktion des deutschen Sozialstaats einschließlich des Familienlastenausgleichs“ verantwortlich sei, „das intellektuelle Potential in Deutschland und damit auch die potentielle Bildungsleistung noch schneller als die Zahl der Geburten“ sinken, was insgesamt, drittens, Wirtschaftskraft und Lebensstandard gefährde.
Einwanderer wären, viertens, nur dann eine Hilfe, wenn ihre Bildung und Qualifikation über dem deutschen Durchschnitt lägen. Das aber sei wegen der „spezifischen Struktur der Einwanderung in Deutschland“, nämlich „vorwiegend aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mittelost“, nicht der Fall. Das ist natürlich weitestgehend falsch, denn: Die Wanderungsbilanz gegenüber der Türkei ist bekanntlich seit vielen Jahren negativ; drei Viertel aller Zuwanderer in Deutschland stammen heute aus Europa, zwei Drittel aus der EU; und 29 Prozent davon zählen zur Gruppe der Hochqualifizierten, die in Deutschland nur 19 Prozent stellen.
Download: Die Rezension von Prof. Klaus J. Bade zum neuen Sarrazin Buch: „Der neue Tugendterror“ können Sie im PDF-Format herunterladen.
Fünftens, und damit geht es ab in die Welt der Vererbungslehre, gebe es „zwischen unterschiedlichen Gruppen von Einwanderern signifikante gruppenbezogene Unterschiede, die sich auch in den nachfolgenden Generationen nur langsam abbauen, wenn überhaupt. Generell gilt: Einwanderung aus Fernost erhöht die durchschnittliche Bildungsleistung und das Qualifikationsniveau der aufnehmenden Gesellschaft. Einwanderung aus der Türkei, Afrika, Nah- und Mittelost senkt die durchschnittliche Bildungsleistung und das Qualifikationsniveau der aufnehmenden Gesellschaft.“
Dass z.B. die von ihm andernorts nur als ‚Armutswanderung‘ und damit als Gefahr für den Wohlfahrtsstaat registrierte Zuwanderung aus Rumänien (‚Nah- und Mittelost‘) zu knapp der Hälfte aus Qualifizierten und zu fast einem Viertel aus Hochqualifizierten besteht, ist ihm offenbar nicht bekannt.
An sechster Stelle rangiert die Vertiefung seiner kulturrassistischen Einschätzungen mit der antiislamischen These von der erblichen Abhängigkeit von Qualifikationsniveau und Bildungsleistung von der Herkunftskultur: “Muslimische Prägung von Kulturen wirkt sich negativ auf das durchschnittliche Qualifikationsniveau und die durchschnittliche Bildungsleistung von Einwandereren und ihren Nachkommen aus.“
Am Ende steht, siebtens und insgesamt, Sarrazins wohlbekannte, hier etwas verklausulierte These: Die Einwandererbevölkerung mit ihren zwar schrumpfenden aber relativ noch immer höher liegenden Geburtenraten, ihrem niedrigeren Qualifikationsniveau und ihrer niedrigeren Bildungsleistung tendiert dahin, die deutsche Bevölkerung demographisch zu überrunden und die deutsche Kultur auf ihr niedriges Niveau herabzuziehen. (S. 57f.)
Das alles wird in diesem neuen Buch nicht etwa näher differenziert, sondern nur mit zusätzlichen Scheinbelegen und zuweilen auch mit argumentativen Winkelzügen weiter expliziert. Sarrazin bleibt insoweit das, was er immer war, ein sturer Exeget seiner bekannten Behauptungen. Das gilt vor allem für seine in der vorgetragenen Pauschalisierung gesellschaftspolitisch gemeingefährlichen Lieblingsthemen: die Erblichkeit von Intelligenz und deren weitgehende Unabhängigkeit von sozialen Umfeldbezügen einerseits und die angeblich weltweit erkennbare kulturelle Bodenhaftung ‚der‘ Muslime:
Der Genetiker Sarrazin weiß schwurbelklar: „Wenn Hochqualifizierung auch nur teilweise mit der genotypischen Intelligenz korreliert, dann kann eine dauerhaft niedrige Geburtenrate der Hochqualifizierten nicht ohne Auswirkungen auf die durchschnittliche genotypische Intelligenz bleiben“. (S. 272f.) Diese genetische Logelei ist auch nicht durch soziale Umstände zu relativieren, erst recht nicht bei den ‚kulturell‘ minderrangigen Teilen Einwandererbevölkerung: „Die Vermutung, schlechte Bildungsleistungen bei bestimmten Gruppen von Migranten seien Resultat der Einwanderungssituation, lässt sich empirisch nicht bestätigen. Das Gegenteil ist der Fall. Offenbar sind die Prägungen der Herkunftskultur über Generationen recht stabil.“ (S. 287)
Die Belege für das ‚Gegenteil‘ bleibt Sarrazin seiner Gemeinde schuldig. Macht auch nichts, denn die glaubt ihm das sowieso. Und dass türkische Aufsteigerhaushalte ihre Kinder oft aus umständehalber miserablen deutschen Schulen abziehen und in der Türkei zur Schule schicken, dass in der Türkei abgeschlossene Schulausbildungen denen von türkischen Kindern in Deutschland mitunter klar überlegen sind, das weiß der Bildungsgenetiker Sarrazin alles nicht. Damit nicht genug. Das kulturell niedrige Niveau bewirkt sogar politische Schlagseiten: „Genetische Prädispositionen wirken indirekt selbst auf politische Einstellungen.“ (S. 258) Alles Genetik oder was?
- Thilo Sarrazin, Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, Deutsche Verlags-Anstalt, 397 S., München 2014.
- Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt. Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft‘, 400 S., Wochenschau-Verlag, Schwalbach / Ts. 2013.
- Naika Foroutan, Korinne Schäfer, Coskun Canan, Benjamin Schwarze, Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland, Berlin 2010.
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Unabhängig vom Inhalt des Buches bzw. des Autors: ich finde es etwas schwach, ein Buch zu rezensieren und den Autor dabei persönlich zu beleidigen:
„Im ersten Drittel des Buches antwortet der beleidigte und beleidigende Autor auf Kritik[..]“
„Im zweiten Drittel posiert der neokonservativ argumentierende Möchtegern-Sozialphilosoph von der traurigen Gestalt in seiner liebsten Rolle[..]“
„beleidigenden Erregungen des stachelmimosigen Angreifers[..]“
Für mich unseriös und damit wertlos. Und wie sowas dann auch noch „Hand und Fuß“ für die Studierenden haben kann… unverständlich. Man sollte schon sachlich bleiben, soviel Anstand muss sein. Auch wenn das Buch, wie jedes Sarrazin-Buch, sicherlich giftiger Schrott ist. Das sage ich als Privatmensch, nicht als Rezensent.
Danke für die ausführliche und sorgsame Analyse. Ich habe nur einen Blick ins Buch geworfen …. und das hat genügt. Ich kann mich nur den vorangegangenen Kommentaren anschließen.
Inzwischen haben wir eine Welt in der vertikale und horizontale transgovermentale Netzwerke zusammen mit der Institution der transregionalen Familie den institutionellen Rahmen für das globale Pulsieren der Kapitalströme stellen.
Es wäre nicht schlecht wenn die Historiker sich die us-amerikanische Debatte zu Digital Humanities aneignen würden.
Integrierte Studiengänge zu Migrationsstudien mit einem Pflichtanteil Computer Linguistik, Information Retrieval und Film- und Dokumentationswissensschaften sollten auch in der BRD selbstverständlich werden.
Wir könnten sehr gut eine mit Metadaten angereicherte Datenbank aus Karten, Migrationsgesetze, Zeitungsberichten, Fotos, Oral History, Briefen und Plakate etc. gebrauchen, um die Geschichte der Migration in unterschiedlichen Institutionen Settings zu verstehen.
Die Computer Linguisten haben Software-Werkzeuge entwickelt, um die Narrative zu annotieren und in Zahlen umzuwandeln. Der Narrative Turn sollte einheitlich auf alle hinterlassenden Artefakte aus der europäischen Massenmigration, der postkolonialen Migration und der Gastarbeitermigration angewandt werden.
In der historischen Stereotypenforschung fehlen Motivverzeichnisse, um die Adaption von Stereotypen quer durch die Medienarten verfolgen zu können.
Die transregionalen Solidaritätsbande sind kommunikativ entstanden auf grosser Entfernung. Die Westfälische Welt und das globale Kapital wußten nicht immer, wie man bewußt von diesen Familientypen profitiert. Die transregionalen Communities besaßen nicht schon immer ein globales Bewußtsein in Form von organischen Intellektuellen und sozialen Internet-vermittelten Netzwerken. Das wäre doch einmal ein Thema für eine Mentalitätsgeschichte.
Betreff: Re: AW: Klaus J. Bades Buchkritik zu Sarrazins „Tugendterror“
Wichtigkeit: Hoch
> Kollege Bade ist wie immer, so auch hier, klug, witzig, scharf und „to
> the point“. Herzlichen Dank für die Texte zu dem unsäglichen Herrn
> Sarrazin, Ihr Hermann Wellenreuther
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Zur neuerlichen Diskussion über „Deutschland braucht eine neue Willkommenskultur“ Ich bin eine Europäerin mit inzwischen zwei EU-Pässe.
Trotzdem, verachte ich diesen Staat und Gesellschaft seit mindestens 20 Jahre. 50 Jahre „Nichtwillkommenskultur“, Diskriminierung, Arroganz, Überheblichkeit und Besserwisserei haben sowohl meinen beruflichen als auch privaten Lebenslauf kaputt gemacht. Und so denken mittlerweile tausende andere Frauen meiner Generation. Wir sind nie wirklich gefragt wer wir sind und was wir können, wir mussten immer nur dies und jenes. Jetzt zahlen wir es eben zurück, durch entsprechendes Votum bei Wahlen. Trotzdem, Kompliment an Prof. Bade, wie er für eine „Neue Willkommenskultur“ aufgetreten ist.
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