JTB schafft Deutschland ab
Postmigrantisches, politisches Theater
Im Zusammenhang mit Migranten tauchen immer wieder bestimmte Schlüsselwörter auf – Islam, Bildung, Kriminalität, Brennpunkt, Integration, Arbeitslosigkeit. Was kann dem entgegensetzt werden? Marie Güsewell hat sich auf die Suche gemacht - im Jugendtheaterbüro Berlin.
Von Marie Güsewell Dienstag, 01.04.2014, 8:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 04.04.2014, 0:33 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
„Und ihre Blicke mutierten zu Fingern. Zeigten auf mich, auf meine Andersartigkeit.“ 1
Ein starker, eindrucksvoller Satz, der während einer Probe im Jugendtheaterbüro Berlin (JTB) fiel. Blicke können wie Finger sein, sagt er. Finger, die zeigen, die eine Grenze ziehen, die isolieren, die Andersartigkeit herstellen und spürbar machen. Dieser eine Satz erzählt, dass Menschen nicht einfach anders sind, sondern zu Anderen gemacht werden. Er erzählt, dass so eine Ordnung und eine Aufteilung der Gesellschaft hergestellt wird, die zwischen ‚Ihr‘ und ‚Wir‘ unterscheidet, die Menschen Gruppen und Kategorien zuordnet, sie als anders markiert und ihnen Eigenschaften zuweist. Person nicht-deutscher Herkunft, Migrant oder Mensch mit Migrationshintergrund sind solche Kategorien. Sie definieren Menschen als (noch) nicht oder anders deutsch, unterscheiden sie von jenen, die selbstverständlich, fraglos deutsch sind und normalisieren diese Unterscheidung.
Diese Kategorien sind nicht neutral, nicht einfach nur Orientierungs- oder Zuordnungshilfen. Nicht nur unterscheiden sie, markieren als anders, grenzen ab und aus, sie implizieren und transportieren Vorstellungen und vermeintliches Wissen über die so Benannten. So tauchen im Zusammenhang mit Menschen mit ‚Migrationshintergrund‘ immer wieder bestimmte Schlüsselwörter auf – Islam, Bildung, Kriminalität, Brennpunkt, Integration, Arbeitslosigkeit – die auf die mit den Kategorien verknüpften Vorstellungen und Zuschreibungen hinweisen.
Was kann dem entgegensetzt werden? Wie gehen Menschen mit der oben beschriebenen Realität um, dass sie für einen großen Teil der Gesellschaft des Landes, in dem sie leben, die ‚Anderen‘, die ‚Fremden‘ sind? Wie können sie sich dagegen wehren, von anderen benannt, beschrieben, ‚gemacht‘ zu werden? Gibt es Formen und Mittel, um selbst hörbar und sichtbar zu werden – sich selbst zu ‚machen‘ und zu (re)präsentieren?
Antworten auf diese Fragen fand ich im Jugendtheaterbüro Berlin (JTB). Das JTB ist eine freie Spiel- und Produktionsstätte für und von Jugendliche(n) und junge(n) Erwachsene(n), die potenziell auf ihren ‚Migrationshintergrund‘ und ihre ‚Andersheit‘ verwiesen werden. In meiner mehrmonatigen Forschungszeit im JTB, der Begleitung der Proben und Stückentwicklung mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung, ist ein reicher Materialschatz – Beschreibungen von Improvisationen, Körperübungen und Spielen, Szenen, Diskussionen und Erzählungen – zusammengekommen.
Info: Das Buch „JTB schafft Deutschland ab“. Postmigrantisches, politisches Theater im Jugendtheaterbüro Berlin (JTB) ist im Lit Verlag in der Reihe Soziologie und Anthropologie: Kulturwissenschaftliche Perspektiven erschienen.
Aus der Auseinandersetzung mit diesem Material ist das Buch „JTB schafft Deutschland ab“: Postmigrantisches, politisches Theater im Jugendtheaterbüro Berlin (JTB) entstanden. Dieser Beitrag ist kein Auszug aus dem Buch, sondern ein eigenständiger Artikel, der sich jedoch an Argumentationen aus dem Buch lehnt.
Aufteilung der Gesellschaft
In ihrer Theaterarbeit – in Stückszenen, Improvisationen oder Diskussionen – thematisierten die Akteure im JTB immer wieder Diskurse über Immigration, über Islam und Muslime, über Integration, die von der Mehrheitsgesellschaft geführt werden. Diese Diskurse zeichnen sich in hohem Maße durch eine Definitionsmacht der Vertreter der sogenannten Mehrheitsgesellschaft über sogenannte Minderheiten aus. Und sie sind verbunden mit oftmals stereotypisierenden, teilweise abwertenden, feindlichen und rassistischen Zuschreibungen. ‚Ihr‘ und ‚Wir‘ werden zu Oppositionen, die Gesellschaft wird aufgeteilt. In einer Szene des Stückes Arab Dream wurde eindrucksvoll inszeniert, wie die Aufteilung der Gesellschaft funktioniert, wie Andere benannt, beschrieben, ‚gemacht‘ werden.
Habub saß in seiner Rolle als Hussain mit seiner Freundin auf einer Bank am rechten, hinteren Bühnenrand. Sie saßen nah beieinander und unterhielten sich. Hussain schenkte seiner Freundin einen Ring, um ihr zu zeigen, dass er es ernst mit ihr meine. Sie freute sich über sein Geschenk, bat ihn aber um Zeit. Ein Soziologe in weißem Hemd und mit großer, dunkel gerahmter Brille tänzelte auf Zehenspitzen auf die Bühne. Er blieb in recht großem Abstand zu dem Paar stehen, nahm ein Diktiergerät aus seiner Brusttasche und begann über Hussain und seine Freundin zu sprechen: „Memo an mich selbst. Der Moslem und sein neues Opfer…“ Dann tänzelte er näher an das Paar heran, beugte sich zu ihm, beäugte es, doch schien er seine Rede nicht zu hören. Stattdessen richtete er sich an das Publikum, erklärte und bewertete das Verhalten der beiden: „Oh mein Gott seht ihr das? Erkennt ihr, was hier los ist? Der Moslem und sein Opfer. Liebe pfff, der Moslem kennt so was gar nicht. Das ist so ekelig. Die Arme Frau darf gar nichts machen, wie ein Hund. […] [sic!]“ Und als Hussain seiner Freundin den Arm um die Schulter legte, kommentierte der Soziologe: „Schau, er nimmt ihr die Luft weg, sie kann nicht mehr atmen.“ 2
Der Soziologe erschien in dieser Szene als Sinnbild für all jene Wissenschaftler, Politiker, Journalisten, die über und stellvertretend für Andere sprechen und schreiben, die Kategorien definieren und zuordnen, die stereotype Beschreibungen entwerfen, benutzen und verbreiten. Er observierte Hussain und seine Freundin aus der Ferne, sprach über sie statt mit ihnen, kategorisierte sie als „Moslem“ und „Opfer“, hörte und verstand ihre Rede nicht, missdeutete ihr Handeln und ordnete es stereotypen Mustern entsprechend ein.
Kategorisierung und Stereotypisierung, also die Reduzierung von Menschen auf einige wenige, vereinfachende und übertriebene Wesenseigenschaften, die so dargestellt werden, als gehörten sie zur Natur des beschriebenen Menschen, sind nach dem Sozialwissenschaftler und Kulturtheoretiker Stuart Hall Strategien „der ‚Spaltung‘“. Es wird eine „symbolische Grenze“ errichtet, zwischen „dem, was ‚dazu gehört‘ und dem, was nicht ‚dazu gehört‘ oder was ‚das Andere ist‘, zwischen […] Uns und Ihnen“ 3. Durch die Einordnung von Menschen in scheinbar eindeutige Kategorien und Gruppen und die Zuschreibung von Eigenschaften sowie vorhersehbaren Handlungs- und Verhaltensweisen, wird die Gesellschaft geordnet und aufgeteilt. Es entstehen Ungleichheiten und Ungleichwertigkeiten, die wiederum über ungleiche Formen der Teilhabe und Zugehörigkeit bestimmen.
Umgang mit Stereotypen
In der Theaterarbeit des JTB beobachtete ich verschiedene Strategien, die Stereotypen zu verhandeln, mit denen sich die Akteure immer wieder konfrontiert sehen. Eine Strategie ist das Aufzeigen von Komplexität, die Offenlegung der vielen Geschichten eines Menschen, die durch die eine reduzierende, stereotype Beschreibung überdeckt werden. Eine andere ist das Aufblasen, Übertreiben und Verzerren von Stereotypen bis sie platzen und deutlich wird: „Egal welchen Titel Ihr uns gebt und welches Bild Ihr Euch von uns macht… Ihr werdet nie den passenden Titel oder das richtige Bild für uns finden!“ 4
- Forschungsnotiz 26.10.2012
- Jugendtheaterbüro (2012): Arab Dream. Internes Textbuch, Stand Oktober 2012. & Forschungsnotiz 03.11.2012
- Hall, S. (2004): „Das Spektakel des ‚Anderen‘“. In: Ders.: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4. Hrsg. v. J. Koivisto & A. Merkens. Hamburg: Argument, S.108-166, S.144.
- Jugendtheaterbüro (2011): „KulTür auf! Das Brennpunkt Manifest“
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