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Grenzen

Tauziehen um das Recht auf Bewegungsfreiheit

Wo liegen Deutschlands Grenzen und wo die gefühlten Grenzen, um die sich eine weitere, „harte“ Grenze legt, der alle Asylbewerber in Deutschland unterliegen? Miltiadis Oulios über Menschen, Grenzen und falschen Verdächtigungen.

Von Miltiadis Oulios Donnerstag, 03.04.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.04.2014, 22:53 Uhr Lesedauer: 16 Minuten  |  

Arrash sitzt auf der Rückbank des Polizeiautos, die Hände sind hinter dem Rücken gefesselt. Zur Erleichterung versucht er sich hinzulegen. Das verhindert einer der Beamten, indem er sich neben ihn setzt. Vier Stunden dauert die Fahrt. Arrash hat kein Verbrechen begangen, fühlt sich aber wie ein Verbrecher behandelt. Und seine Handgelenke schmerzen höllisch.

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Warum wird dieser Mann über Hunderte Kilometer im Polizeiauto quer durch Deutschland transportiert? Wo liegen Deutschlands Grenzen? Für Arrash verlief schon um das Asylheim eine Grenze; in einem Dorf am Niederrhein, in dem er untergebracht war. Der heruntergekommene Flachbau steht am Ende einer Sackgasse in einem ansonsten idyllischen Wohngebiet mit Einfamilienhäusern. Die Bewohner des Heims haben mit den Einheimischen nichts zu tun. „Wir grüßen uns“, sagt Marwin aus Nigeria, der auch dort wohnt, „aber wir kennen unsere Namen nicht.“ Es ist eine gefühlte Grenze, um die sich eine weitere, „harte“ Grenze legt, der alle Asylbewerber in Deutschland unterliegen: die sogenannte Residenzpflicht. Sie dürfen ohne Erlaubnis der Ausländerbehörde das Bundesland nicht verlassen – in Bayern und Sachsen nicht einmal den Regierungsbezirk. 1 Grenzen mitten in Deutschland.

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Der Staat und seine Behörden bemühen sich, die freie Bewegung jener Menschen zu kontrollieren, denen bestimmte Freiheitsrechte nicht zugestanden werden, und stoßen dabei ebenfalls an ihre Grenzen. Wir sollten den Begriff der Grenze daher nicht in Ausdrücken der Geometrie wie Linie oder Kreis beschreiben. Grenzen haben eher mit sozialer Physik zu tun. Ein Feld, in dem entgegengesetzte Kräfte aufeinandertreffen. Eine Beziehung zwischen Menschen, in denen um den Zugang zu gleichen Rechten gestritten wird.

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Arrash hat sich nämlich nicht an die Residenzpflicht gehalten. Er verließ Nordrhein-Westfalen, ohne um Erlaubnis zu fragen. Er fuhr nach Würzburg und schloss sich anderen politischen Flüchtlingen aus dem Iran an. Diese Männer begannen im Frühjahr 2012 – nach dem Selbstmord eines Asylsuchenden in einer Massenunterkunft für Flüchtlinge – gegen die Missstände in den Heimen und für ihre Anerkennung in Deutschland zu demonstrieren. Die Polizei kontrollierte Arrash mehrmals am Protestzelt in der Würzburger Innenstadt. Weil er wiederholt der „Aufenthaltsbeschränkung“ zuwidergehandelt habe, sollte er 800 Euro Strafe zahlen. Am Ende fuhren ihn die Polizeibeamten in Handschellen zurück ins Heim nach Grefrath. „Das hat mir nur geholfen“, konstatiert Arrash, „besser zu verstehen, dass das Gerede vom freien Europa sehr oberflächlich ist.“ Aufgehalten hat es ihn nicht.

Auf den Oberarmen und dem Schulterblatt trägt Arrash Tattoos. Neuerdings hört er wieder mit Begeisterung Nirvana. Das sei ein wenig Nostalgie, schmunzelt er, „es erinnert mich an die Zeit als ich Anfang zwanzig war.“ Als junger Mann rebellierte er gegen das Regime im Iran, wurde Atheist, hielt sich nicht an den Ramadan und war an Protesten beteiligt. Er wurde mehrmals festgenommen und mit Lötkolben gefoltert, erklärt er dem Asylrichter in Deutschland, als er seinen Unterarm hebt und ihm die Brandmale zeigt. Arrash musste 2006 fliehen. Ein Schlepper brachte ihn über die Berge in die Türkei. Dort lebte er fünf Jahre, arbeitete als Maler und Tapezierer und engagierte sich weiterhin politisch. Deswegen bekam er auch mit der türkischen Polizei Probleme und erhielt kein Asyl. Dann zahlte er 2.000 Euro, um nach Griechenland zu gelangen. Wieder zu Fuß über die Grenze, durch Wälder und den Grenzfluss. Nach Deutschland reiste er mit dem Flugzeug.

„Ich glaube, Grenzen sind dafür gemacht, dass die Menschen sie überwinden“, betont Arrash. „Einfach gesagt, es leben sieben Milliarden Menschen auf der Welt“, hebt er an, „wer ist gefragt worden, ob wir überhaupt diese Grenzen haben wollen?“

In der Asylbewerberunterkunft, die ihm zugewiesen wurde, blieb er nur drei Monate. Das trostlose Zimmer kam ihm vor wie ein Gefängnis. Statt Geld gab es Gutscheine. Die Gängelung seines Lebens erinnerte ihn an den Iran. Um frei zu sein, nimmt er in Kauf, keine Asylbewerberleistung zu erhalten, weil er nicht im Heim bleibt. „Ich bin nicht des Geldes wegen nach Deutschland gekommen“, stellt er klar, seine Eltern gehören der Teheraner Mittelschicht an. „Ich bin gekommen, weil ich frei sein will.“ Lieber schläft er mit anderen Aktivisten in Schlafsäcken auf der Straße oder in den Wohnungen von Unterstützern der Proteste.

In Würzburg nähen sie sich die Lippen zu. Das geht durch die Medien. „Wir mussten schockieren. Das war zu diesem Zeitpunkt unsere einzige Möglichkeit, gehört zu werden“, erklärt Arrash, „im Heim depressiv zu werden, ist viel schlimmer, als sich einmal die Lippen zuzunähen.“ Daraufhin entstehen auch in anderen deutschen Städten Protestgruppen von Geflüchteten.

Im September 2012 marschieren sie nach Berlin, sprechen mit der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, fordern das Ende der Massenunterkünfte für Asylbewerber und einen Abschiebestopp. Das Treffen sei ihm wie politisches Theater vorgekommen. „Sie sprach zu uns wie zu kleinen Kindern“, findet Arrash, „ja, wir wissen um eure Probleme, ihr habt ja Recht“, hätte die Politikerin gesagt, „aber ihr müsst warten.“

Die Politik reagiert, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten. Das Arbeitsverbot für Asylsuchende wurde von zwölf auf neun Monate verkürzt, die Integrationsbeauftragte macht sich für eine gesetzliche Bleiberechtsregelung stark. In Bayern, so die bayerische Sozialministerin, wohne nur noch die Hälfte der Betroffenen in Gemeinschaftsunterkünften. Für Asylsuchende, die dort ausziehen wollen, gebe es neuerdings Berater vor Ort. Minderjährige sollen auch in Bayern nicht mehr dort untergebracht werden. Bei der Forderung nach einem Abschiebestopp hören alle weg.

Und ihre Rebellion stößt auf Grenzen der Akzeptanz. Die Öffentlichkeit kann mit Geflüchteten besser umgehen, wenn sie als Empfänger von Mitgefühl erscheinen. Selbstbewusste Typen, die sich so verhalten, „als wären sie hier zu Hause“, sprengen diesen Rahmen. Dabei sind es gerade diese Protestierenden, die für demokratische Rechte kämpfen. Sie nennen sich „non-citizens“, Nicht-Bürger, die Bürger sein wollen.

Die meisten illegalisierten Migranten und Asylsuchenden sind nicht so politisch. Doch in einem wesentlichen Punkt handeln sie auf die gleiche Weise. Der US-Forscher Luis Cabrera hat dies in Gesprächen mit Einwanderern aus Mexiko und anderen lateinamerikanischen Staaten festgestellt, die illegal in die USA migrieren. Sowohl Gegner als auch Unterstützer der illegalisierten Einwanderer gehen davon aus, dass Bürgerrechte etwas sind, das auf den Nationalstaat begrenzt ist. Die unerlaubten Migranten aber, bringt es Cabrera auf den Punkt, handeln heute schon so, als ob es längst möglich wäre, ein Weltbürger zu sein. Sie praktizieren eine „global citizenship“. 2

Wer nur auf das Leid blickt, das beim unerlaubten Übertreten der Grenze und in der Bekämpfung dieser Migration entsteht, übersieht, dass dabei etwas praktiziert wird, das man ein Weltbürgerrecht nennen kann, das Recht, selbst zu entscheiden, wo auf dieser Welt man leben möchte. Viele Menschen haben zudem Verwandte oder Freunde in anderen Staaten, die es ihnen erleichtern, in diese Staaten zu gelangen. Das ist ein wichtiger Aspekt der Weltgesellschaft. Wir sind alle schon überall, Menschen aller Nationalitäten finden sich in fast allen Staaten dieser Welt. All dies relativiert die bestehenden Grenzen.

  1. Die Residenzpflicht galt lange Zeit bundesweit für den Regierungsbezirk und wurde infolge der Proteste der Flüchtlingsbewegung, die 2000 ihren Anfang nahmen, gelockert. Die Flüchtlinge verlangen gleichwohl ihre Abschaffung.
  2. Luis Cabrera, The Practice of Global Citizenship, Cambridge 2010.
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