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Eine Prozessbeobachtung

Rassismus vor Gericht

Der Strafprozess: Wie werden Fragen gestellt, welche Worte werden benutzt, wie eindeutig wird beispielsweise Rassismus als Tatmotiv genannt? Fakt ist: 65 Prozent aller Betroffenen rassistischer Gewalt sind unzufrieden mit dem Verlauf und dem Ausgang eines Prozesses.

Von Dana Fuchs, Sabine Seyb Montag, 12.05.2014, 8:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 15.05.2014, 22:52 Uhr Lesedauer: 10 Minuten  |  

Allein in Hellersdorf wurden 16 Angriffe verübt. Die meisten davon müssen im Zusammenhang mit den rassistischen Protesten gegen das Flüchtlingswohnheim gesehen werden. Auch die Unterstützer_ innen der Geflüchteten wurden gejagt, permanent bedroht, von Neonazis beobachtet, fotografiert und angegriffen.

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Berlinweit wurden 288 (2012: 234) Menschen verletzt und waren Bedrohungen ausgesetzt. Rassismus steht als Motiv mit 87 Taten (2012: 68) noch immer im Vordergrund. Die meisten Angriffe fanden in aller Öffentlichkeit, auf Straßen, Plätzen (121; 2012: 69) und in öffentlichen Verkehrsmitteln und Bahnhöfen (42; 2012: 34) statt. Vor allem Letztere können dazu führen, dass die Mobilität und Bewegungsfreiheit der Betroffenen massiv eingeschränkt wird. Wenn niemand der Passant_innen und Fahrgäste eingreift und Hilfe holt, ist die Verarbeitung des schrecklichen Erlebnisses für die Betroffenen viel schwerer. Wenn jedoch Andere reagieren, gibt es die Chance, dass die Täter_innen juristisch zur Verantwortung gezogen werden. Und es ermöglicht den Betroffenen die Erfahrung, dass es eine für sie angemessene Auseinandersetzung mit dem Geschehenen geben kann. Ein Beispiel:

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9. Juli 2013 – Berlin-Mitte: Gegen 16.15 Uhr wird ein 48-jähriger Mann, der auf einer Parkbank am Neptunbrunnen sitzt, von zwei Männern rassistisch beleidigt, angegriffen und verletzt. Mehrere Zeug_innen greifen ein und die 23-jährigen und 33-jährigen Männer flüchten. Die Polizei nimmt sie in der Nähe fest. 1

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Mit Faustschlägen und Tritten traktierten Tomasz K. und Artur L. ihr Opfer Herrn S. – auch dann noch, als dieser bereits am Boden lag und bewusstlos war. Die Täter ließen erst von ihm ab, als umstehende Zeug_innen aufmerksam wurden und dazwischen gingen. Hätten Passant_innen nicht reagiert, würde Herr S. vielleicht nicht mehr leben. Herr S. erlitt eine Hirnblutung, einen Nasenbeinbruch und einen Bruch der rechten Augenhöhle, sowie Schürfwunden an Arm und Bein. Befördert wurde die Tat, laut Anklageschrift, durch die »Abneigung [der Täter] gegen Personen mit dunkler Hautfarbe sowie aus purer Lust an Gewalt«.

Seit dem 14. Februar 2014 läuft der Prozess gegen die beiden Täter. Angeklagt sind sie wegen versuchten Mordes. Herr S. ist Nebenkläger in dem Verfahren. Der Prozessauftakt sowie die ersten Verhandlungstage sind in ihrem Ablauf typisch für eine Gerichtsverhandlung: Die Anklage wird verlesen, die Personalien bestätigt, die Täter gefragt, ob sie sich äußern wollen und erste Zeug_innenaussagen gehört.

In seiner Stellungnahme betont der Angeklagte Tomasz K., dass ihm der Vorfall leid tue. Der zweite Angeklagte Artur L. hingegen schweigt.

Danach werden die ersten beiden Zeugen befragt. Die zwei Beamten vom Landeskriminalamt haben direkt am 9. Juli 2013 sowie die Tage danach die beiden Täter befragt. Leider verläuft die Befragung sehr schleppend, da beide Zeugen sich nicht genügend auf ihre Aussagen vorbereitet haben und sich kaum an die jeweiligen Verhöre erinnern können. Der erste Verhandlungstag endet mit der Befragung der beiden Beamt_innen, die direkt am Tatort waren, sowie eine erste Befragung mit Herrn S. im Krankenhaus durchgeführt haben.

Auch die weiteren Verhandlungstage ähneln diesem Prozessauftakt. Zeug_innen werden ausführlich befragt, was genau sie gesehen haben beziehungsweise woran sie sich erinnern können. Richter und Verteidiger_innen stellen detaillierte Nachfragen und lassen den Tathergang ausschnittsweise nachstellen.

Erfahrungen bei Prozessen

Dieser Gerichtsprozess scheint juristisch korrekt und sachlich abzulaufen. Richter, Staatsanwältin und Verteidigung versuchen die Tat genau zu rekapitulieren, um die Wahrheit herauszufinden und die Angeklagten rechtmäßig zur Verantwortung zu ziehen. Aber wie wirkt dieser ganze Prozess auf Außenstehende?

ReachOut ist die Berliner Beratungsstelle für Opfer rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt. Unterstützung finden auch Angehörige der Opfer und die Zeug_innen eines Angriffs. Das Team bietet außerdem Workshops, Veranstaltungen und Fortbildungen an. Das Projekt recherchiert Angriffe in Berlin und veröffentlicht dazu eine Chronik. Den Schattenbericht 2013 können Sie hier herunterladen.

Offizielle Zahlen beschreiben eine enorme Unzufriedenheit von Betroffenen rassistischer Gewalt während eines Prozesses: So sind 65,6 Prozent der Betroffenen unzufrieden mit dem Verlauf beziehungsweise dem Ausgang eines Strafprozesses. 70,7 Prozent konnten das Ergebnis des Prozesses nicht akzeptieren und 58,6 Prozent erleben das eigene Erscheinen vor Gericht als belastend 2. ReachOut hat zudem bei der Begleitung und Beratung von Betroffenen vor Gericht festgestellt, dass beispielsweise die Bedeutung des Strafmaßes in den Hintergrund rückt, wenn der Prozess sensibel geführt wurde und das Tatmotiv genau benannt wird. Für Betroffene ist die gerichtliche Anerkennung von Tatmotiv und Tat ein wichtiger Schritt, um die traumatischen Erlebnisse verarbeiten zu können.

Die steife Atmosphäre vor Gericht ist in vielen Fällen ein Einschüchterungsfaktor und kann zu einer sekundären Traumatisierung führen. Wie wirkt es beispielsweise für Herrn S., wenn die ersten beiden Zeugen sich nicht auf ihre Aussagen vorbereitet haben, sodass selbst der Richter die Geduld verliert? Herr S. hätte fast sein Leben verloren und die beiden Beamten lesen sich nicht einmal die eigenen Verhörprotokolle zur Vorbereitung durch.

Diese offenkundige Ignoranz dem Fall und seiner Besonderheit gegenüber, ist nur ein Aspekt, der die Teilnahme am Prozesses für den Betroffenen zur Tortur werden lassen. Bereits einfache Handgriffe können das Verfahren für die Betroffenen erleichtern: Als Herr S. nach dem Verlesen der Anklageschrift den Raum verlässt, öffnet ihm ein Justizbeamter die Tür. Dieser stellt sich links neben die Tür. Hätte er sich rechts platziert, hätte er zwischen Herrn S. und der Anklagebank gestanden. Herrn S. wären dadurch die harten Blicke der beiden Täter erspart geblieben. Diese für das Verfahren kaum relevante Kleinigkeit zeigt, dass ein sensibler Umgang mit Betroffenen nicht viel verlangt und leicht umsetzbar ist.

Der Umgang mit dem Betroffenen

Dies scheinen allerdings Richter und Verteidigung bei der über zweistündigen Vernehmung von Herrn S. am dritten Verhandlungstag nicht berücksichtigen zu wollen. Ungeduldig, teilweise genervt und die Stimme erhebend führt der Richter die Befragung durch. Herr S. antwortet ihm nicht schnell und konkret genug, zudem wiederholt er vor allem den Tathergang immer wieder. Dass ein solches Erlebnis schwer traumatisierend sein kann und Betroffene vor Gericht alles ‚richtig‘ machen wollen, darauf scheint der Richter keine Rücksicht nehmen zu wollen.

  1. Polizei Berlin, 9.07.2013/ B.Z., 9.07.2013/ rbb online, 9.07.2013/ Tagesspiegel, 9.07.2013/ Stern, 10.07.2013/ Berliner Kurier, 10.07.0213/ Berliner Zeitung, 10.07.2013/ Junge Welt, 11.07.2013/ ReachOut
  2. Haupt, Holger/ Weber, Ulrich (1999): Handbuch Opferschutz und Opferhilfe. Ein Praxisorientierter Leitfaden für Straftatsopfer und ihre Angehörigen, Mitarbeiter von Polizei und Justiz, Angehörige der Sozialberufe und ehrenamtliche Helfer. Baden-Baden: Nomos-Verlagsgesellschaft. S. 129
Leitartikel Recht

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  1. Mika sagt:

    Traurig und beschämend für die deutschen Gerichte! Das soll ein Rechtsstaat sein?