Hauptsache gegen Erdoğan
Künstliche Aufregung und Scheinheiligkeit
Laufend berichten Medien über das Grubenunglück in Soma mit über 300 Toten. Doch statt ehrlicher Anteilnahme wird das Unglück politisiert an der Person Erdoğans. Emran Feroz über die künstliche Aufregung und scheinheilige Ehrlichkeit.
Von Emran Feroz Freitag, 23.05.2014, 16:29 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 27.05.2014, 22:57 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Am Samstag wird der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan in Köln zu den Massen sprechen. Aufgrund des Grubenunglücks von Soma, dem Umgang mit der Gezi-Bewegung sowie einiger anderer Skandale wird der diesjährige Besuch von massiver Kritik am Staatschef begleitet. Viele Kritikpunkte an Erdoğan sowie an der herrschenden AKP sind sicherlich gerechtfertigt. Nichtsdestotrotz konnte man in den letzten Tagen Zeuge einer tendenziösen Berichterstattung werden, die einige Fragen offen lässt.
In Soma fanden Hunderte von Bergarbeitern einen grausamen Tod. Schnell lag der Fokus der deutschen Medien auf der Stadt im Westen der Türkei. Man berichtete über die unangemessene Reaktion der Regierung in Ankara und versuchte sie – vor allem den Staatschef – für das Grubenunglück verantwortlich zu machen. Ehrliche Anteilnahme und Mitgefühl gegenüber den Opfern waren da fehl am Platz. Stattdessen wurde Soma schnell politisiert. Das Hauptaugenmerk zahlreicher Leitmedien lag nicht auf den Bergarbeitern oder auf ihre harten Arbeitsverhältnisse, sondern auf dem Ministerpräsidenten Erdoğan – wieder einmal. Erwähnenswert ist die Tatsache, dass vor rund zwei Wochen ein Erdrutsch im Norden Afghanistans ein ganzes Dorf unter sich begrub. Mindestens zweitausend Menschen fanden dabei den Tod. Berichtet wurde jedoch kaum. Den meisten Medien war eine der schlimmsten Naturkatastrophen in der jüngeren afghanischen Geschichte nur eine Randmeldung wert. Einer der Gründe mag vielleicht jener sein, dass es am Hindukusch keinen Erdoğan gibt, auf den man wieder einmal herfallen und ihn für alles verantwortlich machen kann.
Nun kommt also dieser Mann, der stets für alles verantwortlich gemacht wird und der auch sicherlich – gelinde gesagt – „viel Dreck am Stecken“ hat, wieder einmal nach Deutschland, wo seine zahlreichen Anhänger aber auch Gegner ihn schon brennend erwarten. Sowohl Politiker als auch Medien stehen dem Erdoğan-Besuch skeptisch gegenüber. Aufgrund des Grubenunglücks und einiger Aktionen wird der Zeitpunkt als „unpassend“ betrachtet – der Premier soll jemanden geohrfeigt haben, während der Tritt seines Beraters auf einen am Boden liegenden Demonstranten wahrscheinlich in die Geschichtsbücher eingehen wird. Einige Kritiker gehen sogar weiter und verlangen Sanktionen und andere „eindeutige Botschaften“ seitens der EU und der Bundesregierung gegen den temperamentvollen Mann vom Bosporus.
Allem Anschein nach haben diese Personen jedoch vergessen, dass Deutschland ein demokratischer Staat ist, in dem jeder das Recht zu sprechen hat. Wenn ein Joachim Gauck in die Türkei reist und sich dort als Gast das Recht nimmt, die AKP-Regierung offen zu kritisieren, sollte es gegebenenfalls auch anders herum der Fall sein dürfen. Bezüglich Gauck sollte man sich jedoch noch die Frage stellen, wie glaubwürdig seine Kritik im Allgemeinen gewesen ist. Der gute „erste Mann des Staates“ ist ja mittlerweile bekannt dafür, lediglich dort zu kritisieren, wo es die Interessen erlauben. Da kann man auch gleich fragen, wo all die Kritiker Erdoğans waren, als Barack Obama – ein Mann, der wöchentlich Drohnen-Mordbefehle unterzeichnet, Menschen in Guantanamo foltern und die Massen überwachen lässt – seine Rede in Berlin hielt und natürlich auch Wahlkampf betrieb, indem er seine potenziellen Wähler mehr oder weniger ansprach. Ähnliches gilt für andere Staatschefs, ob nun Francois Hollande oder Silvio Berlusconi.
Aus diesem Grund hat auch Erdoğan – so verhasst er bei vielen sein mag – dasselbe Recht. In Deutschland gibt es mehr Türken als US-Amerikaner, Engländer oder Italiener. Ein beachtlicher Teil von ihnen würde diesen Mann wohl wählen – egal ob morgen, nächsten Monat oder nächstes Jahr. Diese Tatsache mag wahrscheinlich nicht in die Weltanschauung vieler Personen passen, allerdings ist sie nun einmal Realität und nicht zu leugnen.
Diese Realität wird auch seitens deutscher Leitmedien nur ungern angesprochen. Stattdessen versucht man immer wieder und teils verzweifelt, den türkischen Staatschef in einem äußerst negativen Licht darzustellen. Dies kann man täglich beobachten. So ist ein Erdoğan, der herumbrüllt so etwas wie der „Teufel in Person“, während ein schreiender Frank-Walter Steinmeier, der offensichtlich aggressiv gegenüber Demonstranten auftritt, als „mutiger Held“ gefeiert wird.
Wie die Bundesregierung vor Kurzem verlauten ließ, freut sie sich schon auf den Besuch des frisch gekürten indischen Premierministers Narendra Modi. Vor nicht allzu langer Zeit war der Hindu-Nationalist Modi als Chief Minister des Bundesstaats Gujarat tätig. Während seiner Amtszeit kam es zu blutigen Massakern und Pogromen an der muslimische Bevölkerung. Bis heute wird Modi hierfür direkt verantwortlich gemacht. Kein einziges Mal hat der Premier diese blutigen Tage öffentlich bedauert. Allem Anschein nach muss er das auch nicht. Modi, der noch bis vor Kurzem weder in die EU noch in die USA einreisen durfte, ist nun überall willkommen. Seitens der Bundesregierung fehlt von Kritik und Ablehnung jegliche Spur. Stattdessen blickt man auf eine gemeinsame, möglichst profitable Zukunft. Indien gehört zu jenen Ländern, in denen die meisten deutschen Kleinwaffen geliefert werden. Modi, der in Gujarat eine radikal neoliberale Finanzpolitik durchboxte, wird diese wohl in ganz Indien expandieren. Ein Schelm, wer nun dabei Böses denkt!
Solange Modi, Obama und andere Politiker, die mittlerweile alles andere als „Saubermänner“ sind, stets herzlich eingeladen und empfangen werden, während man ihnen alle möglichen Redefreiheiten gewährt, sollte man sich nicht künstlich über den Erdoğan-Besuch aufregen. Aktuell Meinung
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@ muslim:
Sie formulieren:
„Wenn Sie sich beschweren, dass in der Türkei angeblich “alle vier Gewalten wirkungsvoll in seiner Hand” seien ist das in zweierlei hinsicht scheinheilig: …“
Und was habe ich geschrieben?
„Es wird voraussichtlich noch sehr viel schlimmer werden in der Türkei. Es wird – so befürchte ich – noch richtig brutal werden. Erdogan ist ja im Moment noch kein Diktator, dazu fehlt ihm noch die Macht. Es gibt noch einigen Widerstand, auch hört man noch die Opposition und einigen Widerspruch über die türkischen Medien. Aber ich denke, bis in einem Jahr hat er es geschafft und er vereinigt alle vier Gewalten wirkungsvoll in seiner Hand: Exekutive, Legislative, Judikative, Medien. Das kann was werden!“
(muslims Fehldarstellung meiner Argumentation spricht für sich.)
Weiter schreibt muslim:
„Ich denke Sie und viele anderen hier, sollten die demokratische Entscheidung des türkischen Volkes akzeptieren. Wenn diese mehrheitlich Menschen lieber islamisch regiert werden wollen, dann ist das ihre Entscheidung. So etwas nennt man Volkssouveränität.“
Er erklärt uns nicht, wie Demokratie ohne Gewaltenteilung zu verstehen sein soll. Ich habe dazu aufgefordert, es zu erklären, und bitte erneut darum.
Weiter: Es ist ja nicht wirklich eine Mehrheit, die hinter Erdogan steht; es sind maximal 45 Prozent. Sollen also 45 Prozent dem Rest aufzwingen können, dass die Trennung von Religion und Politik/Staat aufgehoben wird?
Die Formulierung von muslim ist dankenswerterweise unmissverständlich: muslimisch regiert soll werden! Die Politik soll muslimisch sein!
Das ist Islamismus. muslim freut sich über eine Religionsherrschaft.
Gut zu wissen!
Und Grund zur Frage an alle, die Erdogan verteidigen: Soll in der Türkei muslimisch, d. h. mittels Religion regiert werden? Wollt ihr, dass künftig politische Entscheidungen daran gemessen werden, ob auch Allah (bzw. die jeweilige Vorstellung von Allah) zustimmt? Politiker – speziell Erdogan – verkörpern dann Allahs Willen? Bzw. der Teil des Volkes, der hinter dem Büyük Lider und der künftig vom Islam geleiteten Regierung steht?
Interessante Fragen an die Redaktion des MiGAZINs, an die Dachverbände der Moscheevereine, an die Sprecher der Muslime in Deutschland.
Mensch Leo, sie haben offenbar nicht verstanden, wie die Demokratie funktioniert. Aber die Islamismus Keule wissen sie zu schwingen. Typisches panik-Muster des Klientel der Selbsternannten neuen Mitte.
@muslim: die Argumente gehen ihnen offensichtlich aus. Brux hat sehr wohl genau erklärt, was Demokratie bedeutet. – und das ist viel mehr als freie und geheime Wahlen.
Das mindeste ist
– Versammlungsfreiheit
– Meinungsfreiheit
– Pressefreiheit
– Religionsfreiheit.
Auf all‘ diesen Feldern sieht es schlecht aus in der Türkei.
Wie funktioniert denn nun „Demokratie“ ohne Gewaltenteilung, muslim?
Bitte klären Sie uns auf!
Aber vielleicht unter Berücksichtigung der Demokratietheorie und des Grundgesetzes.
Es gibt natürlich auch die Demokratietheorie des faschistischen Theoretikers Gentile (zur Zeit Mussolinis). Der Duce hatte nach einigen Jahren an der Regierung durchaus eine Mehrheit der Italiener hinter sich und konnte sich als Verkörperung Italiens und der Italiener präsentieren. Die Italiener WOLLTEN Mussolini. Aber es gibt eigentlich niemanden, der sowas als Demokratie bezeichnet. Der Konsens ist: Demokratie gibt es nur bei einigermaßen funktionierender Gewaltenteilung. (100%ig funktioniert sie wohl nirgends, aber bei Null Gewaltenteilung spricht man wirklich nicht mehr von Demokratie, selbst dann nicht, wenn 90% der Bürger hinter dem Alleinherrscher stünden. Erdogan schafft mal gerade 40-45 Prozent der türkischen Wähler, eigentlich ist also die Mehrheit gegen ihn. – Und wie gesagt, noch gibt es ein paar institutionelle Widerstände, also ein bisschen Gewaltenteilung in der Türkei. Noch. Nicht mehr lange.)
Leo Brux schreibt:
„Es ist ja nicht wirklich eine Mehrheit, die hinter Erdogan steht; es sind maximal 45 Prozent. Sollen also 45 Prozent dem Rest aufzwingen können, dass die Trennung von Religion und Politik/Staat aufgehoben wird?“
Wirklich amüsant, wie wenig Sie von Demokratie und Wahlen verstehen.
Zum Vergleich: Frau Merkel wurde von lediglich 25 % der Wahlberechtigten gewählt. Das ist ja nicht wirklich eine Mehrheit. Es können also nach Ihrem Verständnis gerade einmal 25 % dem Rest „aufzwingen“ , dass Deutschland von einer christlichen Partei regiert wird, und in Ihrem Jargon „Christianisiert“ wird.
Übrigens ist Ihre Zahl falsch. Erdogan konnte bei den letzten Parlamentswahlen 49 % der Stimmen auf sich vereinen.
(Leo Brux Fehldarstellung spricht für sich.)
>Leo Brux, klären Sie uns doch endlich auf, wie Sie zu Ihren fadenscheinigen Behauptungen kommen! Wieso fehlt es denn Ihrer Ansicht nach in der Türkei an der Gewaltenteilung? Beweise statt Behauptungen, bitte !
@Muslim
Ja genau, die all bekannte „Christianisierung“ in Deutschland! Wer kennt sie nicht!? Und überall diese Kirchen! Echt schrecklich!
Ihre Kommentare sind beispielhaft wie in der Türkei diskutiert und regiert wird und deshalb werden wir aus der Türkei früher oder später jede Menge Flüchtlinge aufnehmen müssen. Leo Brux hat mit seinen Ausführungen leider Recht.
In der Türkei herrscht offenbar eine Diktatur der Mehrheit. Nur wie will man, wenn man das für akzeptabel hält, sich noch jemals glaubwürdig über Deutschland beschweren?
muslim,
Merkel regiert nicht gegen die Hälfte der Deutschen. Wir haben außerdem Gewaltenteilung.
Erdogan hat die Kommunalwahl im März zu einer Art Referendum gemacht: Wer für ihn ist, der wählt AKP, wer nicht, der wählt eine andere Partei. Je nach Berechnung haben sich ca. 43 oder 45 Prozent bei diesem Quasi-Referendum für Erdogan entschieden. Also die Mehrheit gegen ihn.
Deutsche Wahlen sind keine solchen Referenden. Wir haben keinen Büyük Lider. Die meisten von uns finden, dass man mit der einen oder anderen Partei, die man nicht wählt, doch auch gut leben kann. Ich kann zum Beispiel mit der CSU gut leben, auch wenn ich grün wähle. Es gibt hier sowas wie gegenseitige Akzeptanz.
Erdogan hingegen polarisiert in einem extremen Maße, so dass er das Volk spaltet und zerreißt. Das ist der eine Unterschied.
Der wichtigere Unterschied ist natürlich der, dass Erdogan die Reste von Gewaltenteilung abbauen will, die ihn noch an der Alleinherrschaft hindern. Das ist antidemokratisch, egal, wie viel Prozent Zustimmung der dafür bekommt.
…Wir haben keinen Büyük Lider. …
Parteiendiktatur trifft’s eher.. Seit Jahrzenhntenen die gleichen Visagen und Tölpel an der Macht, die Züel fest im Griff.. „Mutti“ Merkel ist wohl eher die feminine Variante..
…dass Erdogan die Reste von Gewaltenteilung abbauen will…
woher nehmen Sie diese Erkenntnise? Sie kennen sich wirklich nicht aus mit der Türkei…
Erdogans schräges Verständnis von Demokratie beschränkt sich auf einen bloßen Wahlakt zur Legitimation einer Autokratie.
Gewaltenteilung funktioniert in der Türkei nicht. Die Regierung setzt Staatsanwälte, Justiz und Polizei unter Druck. Justiz, Militär und Polizei verfolgen – wie Erdogan zum Teil zu Recht kritisiert – ihre eigenen politischen Ziele. Doch selbst wenn die Ermittlungen von Staatsanwaltschaft und Justiz weder der Aufklärung noch dem Rechtsstaat dienen, sondern den Interessen politischer Seilschaften folgen, dürfen diese nicht bei ihren Ermittlungen behindert werden, wenn beispielsweise Korruption vermutet wird. Da kann die Regierung nicht eingreifen.
Meinungs- und Pressefreiheit funktioniert ebenfalls nicht. Über den schändlichen Umgang mit Demonstranten, Journalisten und Kritikern von Erdogan berichtet nicht nur die deutsche sondern auch die internationale Presse recht ausführlich.
Die Opposition in der Türkei ist eine Farce und untauglich Erdogans autoritären Führungsstil zu kontrollieren.
Schlimmer als die demokratischen Defizite jedoch wiegt die Tatsache, dass Erdogan ein Spalter ist. Er spaltet die türkische Nation, er wiegelt auf und bringt nichts als Unfrieden für die Türken.