Joachim Gauck
„Es gibt ein neues deutsches Wir, die Einheit der Verschiedenen“
Bundespräsident Joachim Gauck lud am 22. Mai aus Anlass des bevorstehenden 65. Jahrestages des Grundgesetzes zu einer Einbürgerungsfeier ins Schloss Bellevue ein. Gauck eröffnete die Veranstaltung mit einer Rede zum Thema Integration. MiGAZIN dokumentiert die Rede im Wortlaut:
Freitag, 23.05.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 27.05.2014, 0:48 Uhr Lesedauer: 20 Minuten |
Herzlich willkommen an einem Tag, der uns einen doppelten Grund zur Freude gibt: Morgen wird unser Grundgesetz 65 Jahre alt. Und heute werden 22 unter Ihnen Staatsbürger einer Republik, die auf der besten Verfassung gründet, die es in Deutschland jemals gab.
Liebe Ehrengäste: Ihre Lebensgeschichten sind so unterschiedlich wie die Gründe und Wege, die Sie hierher geführt haben. Einige von Ihnen sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Andere kamen als Arbeiter, Führungskräfte oder Wissenschaftler. Manche sind vor Gewalt und Unterdrückung geflohen, andere suchten ein besseres, ein freieres Leben für sich und ihre Kinder, wieder andere folgten dem Glück oder der Liebe. Sie oder Ihre Eltern kommen aus Polen, Ungarn und Rumänien, aus der Ukraine und der Türkei, aus Ghana, Kamerun und der Elfenbeinküste, aus Bolivien und Brasilien, aus Israel, Nepal und dem Iran.
Unser Land, von dem noch vor einem Menschenalter Krieg und Völkermord ausgingen, ist inzwischen Heimat für Menschen aus 190 Nationen. Ganz gleich, woher Einwanderer stammen und wie sie kamen – im Boot über das Mittelmeer oder in der Businessclass aus Übersee, als Erasmusstipendiaten oder Familiennachzügler: Sie alle sind nun in Deutschland zu Hause. Das erfüllt mich mit Dank und Freude. Denn es zeigt: Sie mögen dieses Land, sie vertrauen dieser Republik. Und die deutsche Staatsbürgerschaft erleichtert ihnen zudem den Alltag.
Mit dem Grundgesetz wurde das Fundament geschaffen für ein friedliches, pluralistisches und demokratisches Gemeinwesen. Erst für den Westen, später für ganz Deutschland. So ist unser Land Teil der freien Welt geworden. Es lebt im Frieden mit allen seinen Nachbarn. Es ist offen und vielfältig, stark und wohlhabend. Unsere soziale Marktwirtschaft und unser Sozialstaat versprechen gute Lebenschancen für alle. All das macht unser Land für viele Menschen in der Welt zu einem Sehnsuchtsort.
Zu diesem Deutschland sagen Sie, liebe Ehrengäste, heute auf neue Weise „ja“.
Wie soll dieses Deutschland in Zukunft aussehen, damit auch unsere Kinder und Enkel „unser Land“ sagen können? Das habe ich in meiner ersten Rede als Bundespräsident gefragt. Daran möchte ich nun anknüpfen.
Ich will von den Veränderungen sprechen, die Einwanderung für unser Land bringt. Von den Zumutungen, die diese Veränderungen manchmal bedeuten. Von dem, was wir, Alt-Deutsche wie Neu-Deutsche, gewinnen werden und längst gewonnen haben. Vor allem aber möchte ich über die Haltung sprechen, mit der wir einander begegnen und begegnen sollten – als Gleiche und doch Verschiedene.
Jeder fünfte von uns hat inzwischen familiäre Wurzeln im Ausland, Tendenz steigend. Das hat gute Gründe: unsere wirtschaftliche und politische Stabilität, unsere Rechtssicherheit, unsere Zugehörigkeit zu einem Europa der Freizügigkeit und unsere humanitäre Verpflichtung gegenüber Verfolgten, nicht zuletzt auch die kulturelle Strahlkraft unseres Landes.
Ein Blick in diesen Saal genügt, um zu erkennen: Wer Deutscher ist, wird künftig noch viel weniger als bisher am Namen oder am Äußeren zu erkennen sein.
Und wenn ich in die Gesichter der jungen Leute hier vor mir sehe, dann weiß ich: Für diese Generation wird Deutschland nie anders gewesen sein als vielfältig.
Schauen wir uns um im Land. Mit Aydan Özoğuz sitzt erstmals eine Tochter von Einwanderern im Bundeskabinett. Dem Bundestag gehören heute mehr Abgeordnete mit Migrationshintergrund an als je zuvor. Ein Deutscher mit iranischer Familiengeschichte, Navid Kermani, wird morgen im Bundestag zur Feier unseres Verfassungstages sprechen. Ein im Irak geborener Designer, Rayan Abdullah, hat daran mitgewirkt, das Aussehen unseres Bundesadlers aufzufrischen und ihm im Wortsinne die Augen zu öffnen. Und einem türkeistämmigen Regisseur, Bora Dağtekin, verdanken wir den erfolgreichsten deutschen Spielfilm des vergangenen Jahres. Ilija Trojanow, Terézia Mora, Saša Stanišić, – so heißen heutzutage die Träger des Leipziger Buchpreises. Sie schreiben auf Deutsch, doch ihre Helden sind auch außerhalb Deutschlands zuhause.
Der Blick ins Land zeigt, wie – ja, ich würde sagen – skurril es ist, wenn manche der Vorstellung anhängen, es könne so etwas geben wie ein homogenes, abgeschlossenes, gewissermaßen einfarbiges Deutschland. Es wird zunehmend als Normalität empfunden, dass wir verschieden sind – verschiedener denn je.
Dieser Wandel ruft unterschiedliche Reaktionen hervor. Nicht allen gefallen alle Begleiterscheinungen der Einwanderungsgesellschaft. Das ist auch verständlich: Das eigene Stadtviertel verändert sich. Nachbarn sprechen fremde Sprachen, haben andere Lebensgewohnheiten und Religionen. Ja, manche fürchten gar, ihr Heimatgefühl zu verlieren.
Einwanderung ist immer und überall zunächst mit Fremdheitsgefühlen verbunden. Verstärkt gilt das für Einwanderer aus hierarchisch geprägten Kulturen und Staaten. Sie fremdeln mit der offenen Gesellschaft, mit ihrer Freizügigkeit, ihrer zunehmenden Glaubensferne und dem, was sie als Vereinzelung empfinden.
Es ist wahr: Wo Verschiedenheit heimisch wird, ändert sich das Zusammenleben. Einwanderung setzt starke Gefühle frei und birgt gelegentlich handfeste Konflikte. Die offene Gesellschaft verlangt uns allen einiges ab: Jenen, die ankommen, und jenen, die sich öffnen müssen für Hinzukommende. Offen sein ist anstrengend.
Vergessen wir nicht: Migration ist der Geschichte der Völker nicht fremd – auch der deutschen nicht. Zu Hunderttausenden suchten unsere Vorfahren einst ihr Glück in der Fremde. Viele von ihnen würde man heute „Armutseinwanderer“ oder „Wirtschaftsflüchtlinge“ nennen.
Umgekehrt wissen wir auch, was es bedeutet, andere aufzunehmen. Die Kowalskis und de Maizières gehören heute so selbstverständlich zu uns, dass wir uns kaum mehr erinnern, wie sie heimisch wurden. Millionen Vertriebene haben nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt, wie es ist, in einer deutschen Fremde anzukommen, nicht immer willkommen zu sein und schließlich doch ein neues Zuhause zu finden. Ich selbst weiß noch sehr gut, wie fremd uns in Mecklenburg die Sudetendeutschen nach dem Krieg erschienen, ihr Katholizismus, ihre Trachten, ihr ungewohnter Dialekt. Und heute? – ist diese Fremdheit vergessen.
Heimisch werden dauert. Wer weiß noch, dass gerade die deutschen Einwanderer in Amerika gern unter sich blieben und lange brauchten, ehe sie sich einfügten in der neuen Welt? Heimat zu finden ist eine Sache des Herzens, aber auch eine bewusste Willensentscheidung. Erst hält man Abstand, sucht das Vertraute. Dann kommt man mehr und mehr in Kontakt. Manchmal auch in Konflikt. Und schließlich wächst Gemeinschaft.
So geschieht es auch mit denen, die in den vergangenen 65 Jahren zu uns in die Bundesrepublik kamen: als sogenannte Gastarbeiter, als Aussiedler oder Flüchtlinge, als nachgezogene Ehepartner oder jüdische Einwanderer aus ehemaligen Sowjetrepubliken. Rund 16 Millionen Menschen unter uns kennen Einwanderung aus eigener Erfahrung oder als Teil der Familiengeschichte. Vier Millionen sind Muslime. Aktuell Politik
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@Baran Cudi
Hr. Gauck lebte nicht wie ein isolierter Straftäter, sondern er war – um im Sprachgebrauch zu bleiben – ein Freigänger, denn er unternahm ständig Westreisen.
Immerhin hat er sich in den letzten 24 Jahren so gut integriert, dass er es bis zum Bundespräsidenten schaffen konnte.
Noch einmal die Frage: Worin genau soll dieses neue deutsche Wir bestehen?
In der Gemeinschaft der Steuerzahler kann es sich wohl nicht erschöpfen.
Gefängnisinsassen können ab und ein Freigang haben, das widerspricht nicht meiner Aussage. Ein neues deutsches wir sehe ich auch nicht, gibt es auch nicht, genauso wenig wie es ein europäisches Wir-Gefühl gibt. In Griechandland, Spanien wird Deutschland regelrecht gehasst. Um ehrlich zu sein, gibt es nicht mal ein deutsches Wir-Gefühl zwischen Ost und West. Es sind Wunschvorgaben der Elite und die Hoffnung lange genug das Wir-Gefühl zu verkaufen bis es bei den Massen auch ankommt.
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Das wir Gefühl wird bestimmt nicht durch das aufzählen der Unterschiede zusatnde gekommen. Wenn wir eher dies Gemeinsamkeiten hervorheben , suche und / oder betonen , würde es dem WIR Gefühl eher dienlich sein.
Tut mir leid , aber der Rede von Herrn Gauck traue ich nicht so recht.
Dafür hat er oft genug quatsch von sich gegeben das man von einer läuterung ausgehen kann.
Sorry Herr Gauck
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