Birlikte
Eine Lehrveranstaltung für Politik und Gesellschaft
Birlikte standen am zehnten Jahrestag des NSU-Nagelbombenattentats Zehntausende Menschen in Köln. Zahlreiche Stars aus unterschiedlichsten Branchen bescherten den Besuchern interessante wie rührende Momente. Auch Politiker fanden weise Worte, überzeugten aber kaum.
Von Ekrem Şenol Dienstag, 10.06.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 16.06.2014, 0:20 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Zehntausende kamen am Pfingstwochenende nach Köln Mülheim. Sie solidarisierten sich mit den Opfern des Nagelbombenanschlags vom 9. Juni 2004 in der Keupstraße, sie setzten ein Zeichen, demonstrierten Zusammenhalt. Die ganz großen der Musikbranche sangen auf einer Bühne. Birlikte bei Theateraufführungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Konzerte – Mer stonn zesamme. Ein toller Akt der Solidarisierung, viele rührende Momente, lächelnde Gesichter.
Den Veranstaltern war es gelungen, sowohl an den Bombenanschlag zu erinnern als auch diesen für kurze Augenblicke vergessen zu machen. Die seit Jahren bohrenden Fragen waren aber allgegenwärtig: Wie viele Täter, Helfer, Mitwisser, Weggucker gibt es im NSU-Komplex? Werden sie je zur Rechenschaft gezogen?
Einige Politiker forderten Aufklärung, andere versprachen, alles dafür zu tun, damit die Fragen beantwortet werden. Wiederum andere machten einen großen Bogen um diese Fragen. Überzeugen konnten sie alle nicht.
Bereits zu oft hatte man das Maß des Erträglichen überschritten: Aktenvernichtungen, nicht verfolgte Spuren, Ermittlungen in Opferkreisen, Aussagenverweigerungen, Erinnerungslücken von Staatsbediensteten, Aufbau von Nazistrukturen mit Steuergeldern, Aktenschwärzungen, dubiose Zeugensterben, an Ungeheuerlichkeit nicht mehr zu überbietende Gutachten oder dass der V-Mann-Schutz vor Aufklärung geht.
Das meiste dieser nicht einmal abschließenden Aufzählung geschah nach dem Bekanntwerden des NSU. Dennoch gibt es bis heute keinen einzigen politischen Verantwortlichen. Gerade für die Menschen in der Keupstraße ist das nicht nachvollziehbar. Schließlich leben sie in einem Land, in dem ein gerichtsfest unschuldiger und gerade bei den Opfern besonders beliebter Bundespräsident allein aufgrund von Verdächtigungen in Höhe von Peanuts zurücktreten musste. Ob dieser Vergleich hinkt oder nicht, rational ist oder nicht, bei den Allermeisten hinterlässt er nicht nur einen Beigeschmack vorübergehender Natur, sondern zerstört gleich die Geschmacksnerven – irreparabel.
Hinzu kommen endlose parteipolitische Spielchen in den Bundesländern darüber, ob ein Untersuchungsausschuss überhaupt eingesetzt werden soll. In Hessen etwa hat die SPD einen Untersuchungsausschuss durchgesetzt, in Nordrhein-Westfalen die CDU. Das Attentat in Hessen fällt in die Amtszeit des ehemaligen CDU-Innenministers und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier, das in NRW in die des SPD-Innenministers Fritz Behrens. Im grün-roten Baden-Württemberg ist das Thema Untersuchungsausschuss sogar vom Tisch. Dort wurde eine Enquete-Kommission eingesetzt mit eingeschränkten Möglichkeiten. Dabei ist der Mord an der Polizistin Michele Kiesewetter ermittlungstechnisch eines der interessantesten Fälle im gesamten NSU-Komplex.
„Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren“, hatte der ehemalige Verfassungsschutz-Vize Klaus-Dieter Fritsche vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages gesagt. Damit eigentlich untragbar, ist er heute sogar Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt bei Angela Merkel. Sie wiederum hatte versprochen: „Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.“
Das wird mit Teilnahmen an Kundgebungen, weisen Worten, Versprechen, Appellen, Trauerbekundungen, Entschuldigungen, Fremdschämen, Einweihungen von Denkmälern, Umbenennungen von Straßennamen oder allerlei anderer Symbolik aber nicht gelingen. Vielmehr muss die Politik dorthin, wo es wehtut. In den Sicherheitsbehörden müssen personelle wie strukturelle Änderungen her, die weit über das Kosmetische hinausgehen. Wie glaubhaft kann sonst das Versprechen sein, man werde alles tun, damit sich so etwas nicht wiederholt?
Insgesamt war Birlikte nicht nur ein Fest oder eine Kundgebung, sondern und allen voran eine Lehrveranstaltung. Der Politik hat sie gezeigt, dass das Zusammenleben der Vielen weitaus besser funktioniert als man bei Integrationsgipfeln und Islamkonferenzen vermittelt bekommt. Den Menschen hat sie gezeigt, dass die Täter die ganz Wenigen sind. Leitartikel Meinung
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