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Demokratieentwicklung

Türkisches Verfassungsgericht als Puffer

Die Türkei ist tief gespalten – zwischen Anhängern von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und der Opposition. Einer der weniger Puffer zwischen den Fronten ist das Verfassungsgericht. Aber ist das genug, um die Demokratie am Bosporus zu verteidigen?

Von Montag, 23.06.2014, 8:21 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 24.06.2014, 23:51 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Bei den türkischen Kommunalwahlen Ende März errang die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) einen Erdrutschsieg und erzielte 45,6 Prozent der Stimmen. Die Partei von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan gewann trotz der Korruptionsverfahren gegen einige seiner Kinder und Minister, seiner plumpen Vorgehensweise während der Gezi-Proteste im vergangenen Jahr und der anhaltenden Versuche, die Meinungsfreiheit im Land einzuschränken. Dieses Wahlergebnis könnte Erdogan nun genug Vertrauen geben, um bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden August anzutreten, was viele politische Beobachter vermuten. So könnte er seine Machtposition im politischen System der Türkei festigen.

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Dem jüngsten Türkei-Bericht des Bertelsmann Transformationsindex (BTI) zufolge ist das politische Management der türkischen Führung im Allgemeinen stabil. Der BTI, der Regierungshandeln in Transformationsländern untersucht, stellt fest, dass „eine stimmige Leistung auf allen Führungsebenen politische Stabilität bedingt”. Bei der Umsetzung und Koordinierung von politischen Maßnahmen beispielsweise schneidet die Türkei in der Bertelsmann-Studie sehr gut ab. Hier erreicht das Land jeweils 9 von 10 Punkten.

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Der BTI-Bericht macht aber auch deutlich, dass in vielen anderen Bereichen der Regierungsführung in der Türkei erhebliche Mängel auftreten. Die Zivilgesellschaft kann beispielsweise nur eingeschränkt am politischen Geschehen teilhaben. Zivilgesellschaftliche Institutionen, die der Regierung kritisch gegenüberstehen oder Anliegen verfolgen, von denen angenommen wird, dass sie den Interessen der Regierung schaden könnten, geraten oft in ernste Schwierigkeiten.

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Verhaftete Journalisten und Selbstzensur

Die Sustainable Governance Indicators (SGI)-Studie, die Regierungshandeln in Ländern der OECD und der Europäischen Union untersucht, kommt zu einem ähnlichen Ergebnis. Bei der Demokratiequalität, wo Aspekte wie Meinungs- und Medienfreiheit untersucht werden, belegt die Türkei den allerletzten von 41 Plätzen.

Ein Grund für das schlechte Abschneiden ist, dass sich die türkische Regierung dem Recht auf Meinungsfreiheit nur schwach verbunden fühlt. Im März verhängte sie ein Verbot des Kurznachrichtendienstes Twitter und der Videoplattform YouTube, nachdem dort Telefonmitschnitte veröffentlicht wurden, die die Korruptionsvorwürfe gegen den Erdogan und seine Regierung untermauerten. Ein landesweiter Aufschrei war die Folge. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter Ohne Grenzen liegt die Türkei auf Platz 154 von 179.

Beim Zugang zu Informationen für Öffentlichkeit und Medien belegt die Türkei unter allen OECD- und EU-Staaten den vorletzten Platz. Bei der Medienfreiheit rangiert die Türkei sogar auf dem allerletzten Platz und erreicht nur 3 von 10 Punkten. Laut SGI-Bericht untergräbt „die wachsende Tendenz, Medienschaffende zu verhaften (…) die Medienfreiheit und fördert Selbstzensur“.

Das Verfassungsgericht verteidigt die Bürgerrechte

Eine der wenigen Institutionen, die sich dem autoritären Vorgehen der türkischen Regierung erfolgreich entgegen stellt, ist das Verfassungsgericht. Seit seiner Gründung 1960 spielt es in der türkischen Politik eine zentrale Rolle. Sein Hauptzweck ist es, die Verfassungsordnung zu verteidigen.

Nachdem die Regierung jüngst verschiedene soziale Medien verboten hat, schaltete sich das oberste Gericht des Landes ein. Anfang April entschied es, dass das Verbot von Twitter illegal ist und eine Verletzung der Gesetze zum Schutz der Meinungsfreiheit darstellt. Das Gericht nannte das Verbot „illegal, willkürlich und eine ernste Beschränkung des Rechts auf Informationen“. Ende Mai ordnete es außerdem an, die YouTube-Sperre in der Türkei aufzuheben. Wieder entschieden die Richter, dass das Verbot die Meinungsfreiheit verletzt und verfassungswidrig ist.

Kurz nach der Aufhebung des Twitter-Verbots kippte das Verfassungsgericht darüber hinaus zentrale Elemente von Erdogans Justizreform. Die Richter hoben die geplante Ausweitung der Befugnisse des Justizministers über das Kontrollgremium HSYK, das die Richter und Staatsanwälte ernennt und entlässt, auf. Die Reaktionen der Regierung waren verhalten: „Die Entscheidung des Verfassungsgerichts hat meine Meinung nicht geändert. Aber wir werden uns natürlich an die Entscheidung halten,“ sagte Justizminister Bekir Bozdag.

Das türkische Verfassungsgericht trägt also erheblich dazu bei, die Unabhängigkeit der Justiz und die Meinungsfreiheit zu schützen. Das Gericht bildet einen Puffer zwischen Regierung und Bürgern und ist eines der Hauptkontrollorgane im politischen System der Türkei.

Nichtsdestotrotz hat das türkische Parlament vor Kurzem neue Gesetze zur Zensur des Internets und zur Ausweitung der Befugnisse und der Immunität des Geheimdienstes verabschiedet. Dies ist ein Beispiel dafür, wie die Gewaltenteilung in der Türkei im Prinzip vorhanden ist, doch die Kontrollen schwach sind. Der Türkei-Bericht der Europäischen Kommission 2013 hebt ebenfalls hervor, dass die Regierung immer noch zu viel Einfluss auf das Kontrollgremium HSYK besitzt.

Die Türkei ist heute gespalten zwischen denen, die die regierende AKP unterstützen und denen, die Premierminister Erdogan eher früher als später gehen sehen möchten. Das belegt auch der BTI-Bericht: „Im Land lässt sich ein feindseliges politisches Klima beobachten. Unterstützer der AKP-Regierung und ihrer Maßnahmen stehen sich Verteidigern und Partisanen des alten kemalistischen Systems und seiner Eliten gegenüber. Obwohl es der zivilen Führung bislang gelungen ist, die Macht seiner Gegner erheblich einzuschränken, bleiben die zugrundeliegenden politischen Spannungen ein Problem für die Zukunft. Dazukommt das immer offensichtlichere Problem, dass führende Politiker der AKP davon träumen, ein autoritäres System aufzubauen.“ Die Türkei muss einen Weg finden, diese unterschiedlichen Interessen einzugliedern und die Bedrohungen durch eine breiter werdende Kluft zwischen religiösen, konservativen, traditionellen und fortschrittlichen Gruppen in der Gesellschaft zu minimieren. Aktuell Politik

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  1. Türke sagt:

    Ihsanoglu ist nicht gewählt deshalb hat er auch noch keine demokratische Legitimierung. Er wird auch nicht gewählt. Er wird erbärmlich scheitern. Die letzen Umfrageergebnisse sprechen eindeutig für Erdogan. Beantworten Sie erstmal warum Ihsanoglu die demokratischere Alternative als Erdogan sein soll. Dass Erdogan eine demokratische Alternative ist, hate er 12 Jahre lang bei mehreren Wahlen bewiesen. Was hat Ihsanoglu geschaffen, außer dass er von antidemokratischen Nationalisten gepusht wird? Wie können Sie Ihsanoglu als Demokraten titulieren und den Erdogan als Diktator. Wie können Sie sich in Anpspruch nehmen das türkische Volk sei nicht reif für die Demokratie. Offensichtlich bin nicht ich derjenige der den Begriff Demokratie nicht vestanden hat sondern Sie selbst.
    Die Hälte der Türken ist immer noch mehr als die Deutschen, die Merkel gewählt haben.

  2. aloo masala sagt:

    @Türke

    Nun ziehen Sie das nächste Register, um nicht genehme Kritik abzuwürgen:


    Wer selbst keine Argumente bringt, kann es sich nicht leisten Gegenargumente einfach abzutun.Wer einfach nur schlecht machen will ohne Lösungen anzubieten, der hat keine wirklichen Argumente.

    Zur politischen Debatte gehört es auch, Missstände aufzudecken, ohne gleich eine praktikable Lösung anbieten zu können. Voraussetzung für eine Lösung ist stets eine Auseinandersetzung mit dem Problem. Es ist eine Binsenweisheit, dass mögliche Lösungen durch den Gedankenaustausch mit Anderen inspiriert werden können.

    Wie unsinnig Ihr Einwand ist, lässt sich am besten anhand eines Beispiels zeigen. In Deutschland gibt es ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit. Das ist ein zentrales Thema bei Migazin. Dieser Misstand wird fortlaufend kritisiert, ohne dass bisher eine Lösung angeboten wurde, die diesen Missstand beseitigt hätte. Nach Ihrer Auffassung sind Migazin und eine Reihe von Foristen nur damit beschäftigt, Deutschland schlecht zu machen, weil sie ansonsten keine Argumente hätten. Es wäre fatal, wenn man diesen offensichtlichen Missstand in Deutschland nicht thematisieren dürfte, weil kaum jemand mit einer wirklich sinnvollen Lösung für dieses Problem aufwarten kann. Hier ist wohl die Thematisierung, Diskussion und Aufklärung selbst ein Weg zu einer Lösung.

  3. aloo masala sagt:

    @Türke

    Wir können gerne an anderer Stelle über die Defizite der deutschen Demokratie sprechen. Jetzt ist allerdings das Thema die Türkei und Erdogan und nicht Merkel, Gauck und Deutschland.

    Blendet man das Hintergrundrauschen in Ihrem Beitrag aus (Verweis auf deutsche Demokratie, Vorwurf der Schlechtmacherei usw.), dann bleibt nur ein einziges Argument::

    —-
    Erdogan hat die Mehrheit der Menschen in der Türkei hinter sich wie bisher noch kein Politiker in der Geschichte der Türkei. […] Seit seiner Rolle in der Regierung geht es der Bevölkerung wirtschaftlich und gesellschaftlich einfach besser. Er hat die Türkei in einer tiefen Krise übernommen, hat viele Projekte gestartet und dafür gesorgt, dass der Wohlstand steigt. [..] Auch die letzen Umfragewerte sprechen wieder haushoch für Erdogan. Diejenigen die ihn kritisieren, werden nach den Präsidentschaftswahlen wieder heulen müssen. Seine Augen vor diesen Argumenten zu verschließen, zeigt einfach nur, wie sehr einige in ihrem Elfenbeintürmchen sich eingeschlossen haben.
    —-

    Wären das die entscheidenden Kriterien, ob man einen Politiker unterstützen sollte, dann wäre Hitler in der Zeit 1933-1939 ein großartiger Typ gewesen, der (erst nach 1933) die Mehrheit der Deutschen hinter sich wusste, Deutschland aus einer tiefen Krise der Arbeitslosigkeit in den „Wohlstand“ führte, schöne Autobahnen baute, die Wirtschaft ankurbelte und den Deutschen nach dem verlorenen ersten WK ihr Selbstbewusstsein zurück gab.

    Bevor die üblichen Missverständnisse entstehen, ich vergleiche nicht Erdogan mit Hitler, sondern stelle Ihre Kriterien in Frage, nach denen Sie Politiker beurteilen.

  4. Cengiz K sagt:

    …Noch eine persönliche Frage, Türke:
    …Insoweit Sie die Wahl zwischen Deutschland und der Türkei haben, wählen Sie offensichtlich Deutschland. Ich nehme an, Sie haben dafür gute Gründe. Welche?
    1. Ich lebe materiell besser hier als dort.
    2. Ich spreche besser Deutsch als Türkisch.
    3. Deutschland ist meine Heimat, mehr als die Türkei.
    4. Ich genieße in Deutschland die Freiheit und Sicherheit des Lebens.
    5. (Anderer Grund)
    6,. Sie irren sich, ich ziehe die Türkei vor.
    7. Sie irren sich, ich lebe in der Türkei.
    Was trifft für Sie zu?…

    Heute mit Stürzenberger gefrühstückt? Oder mit Herrn Mat? Oder mit beiden?

  5. Türke sagt:

    Das was als Hintergrundrauschen abgetan wird sind Referenzen wenn man Demokratiedefizite vorwirft, damit man überhaupt einen Vergleichsmaßstab hat. Fehlerfreie Demokratie gibt es nirgendwo auf der Welt. Wenn man Erdogan vorwirft kein Demokrat zu sein und ihn als Diktator bezeichnet, das türkische Volk als nicht reif für die Demokratie abtut, dann wird man Vergleiche mit anderen Demokratien ziehen müssen und sehen, dass es nirgendwo eine perfekte Demokratie gibt. Lächerlich ist ja dann als demokratische Alternative Nichtdemokraten zu benennen. Einfach zu sagen Erdogan ist kein Demokrat und keine demokratische Alternativen zu nennen, zeigt nur, dass man keine konstruktiven Alternativen nennen kann. Was bleibt ist Stammtischschlechtmacherei. Vor allem aber einem ganzen Volk demkratische Reife abzusprechen zeigt einfach nur, dass man keine wirklichen Argumente hat.

  6. deutscher staatsbürger sagt:

    Die Türkei kann man nicht mit Deutschland vergleichen. Ich mache das zwar auch manchmal aber es kommt nichts gescheites raus. Einen Hitler hat es in der Türkei nie gegeben und wird es auch nie geben.

    Ich finde, die Demokratie der Türkei ist zwar nicht perfekt aber dennoch auf einem guten Weg. Und sie wird besser werden und einen großen Beitrag für den Weltfrieden leisten. Die Türken werden nun ihren Lieblingskandidaten wählen und sie werden gut und richtig wählen. Schade, es gibt leider noch keine Kandidatin aber hoffentlich das nächste mal.

    Türkische staatsbürger sollten in Deutschland unbedingt wählen gehen. Egal wen sie wählen, sie werden richtig und gut wählen. Bitte geht alle wählen!

  7. aloo masala sagt:

    @Türke


    Das was als Hintergrundrauschen abgetan wird sind Referenzen wenn man Demokratiedefizite vorwirft, damit man überhaupt einen Vergleichsmaßstab hat.

    Entweder hat man Prinzipien oder man hat keine. Demokratische Werte sind absolut und nicht relativ. Der Maßstab an dem sich jede Demokratie messen muss, sind nicht andere Regierungen, sondern die üblichen Standards einer Demokratie. Einer Bewertung anhand absoluter Kriterien findet nicht statt. Ihre Verweise auf die vergleichbaren Defiziten der deutschen Demokratie sind dabei im gleichen Maße unseriös, wie etwaige Vorwürfe, dass Erdogan ein Diktator sei.

    Zu allen anderen Argumenten wurde bereits ein Gegenargument gebracht. Sie ignorieren die Gegenargumente und wiederholen einfach nur ihr Argument. Das ist neben den anderen Manipulationstechniken und Fehlschlüssen, die im Laufe der Diskussion aufgedeckt wurden nun der nächste rhetorische Taschenspielertrick, auf den Sie zurückgreifen. Überzeugend ist Ihr Plädoyer für Erdogan wirklich nicht wenn Sie all das nötig haben. Gibt es keine besseren Argumente, um mich davon zu überzeugen, dass Erdogan ein guter Demokrat ist?