Brief an Johann
Auch heute wird gedichtet, was das Zeug hält
Was würde Johann wohl denken, wenn er heute leben würde? Wenn er sehen würde, was aus der Welt geworden ist? Navid Dastkhosh-Issa erklärt ihm die Welt von heute – in einem Brief.
Von Navid Dastkhosh-Issa Mittwoch, 23.07.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 25.07.2014, 2:14 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Wetten, du würdest kaum glauben, was du siehst und hörst, wenn du hier wärst. Ich denke, du hast angenommen, dass die Welt mit der Zeit immer mehr vernünftiger werden wird, so dass irgendwann mal z.B. die Sklaverei abgeschafft sein wird, Kriege nicht mehr geführt werden und die Menschheit beseelt sein wird von dem überaus großen Nutzen des Verstandes. Nun ja, wenn du das alles wirklich angenommen hast, dann würde dir das nicht als Naivität angelastet werden können: Du hast in einer Zeit gelebt, wo es mehr oder weniger „in“ war, verständig zu sein, den Verstand zu schulen und von ihm tatsächlich Gebrauch zu machen. Zu deiner Zeit hatten aber auch Anstand und Redlichkeit noch Einfluss und Bedeutung im Leben der Menschen – auf demselben Erdfleck zwar, aber wirklich eine ganz andere Zeit, nicht zu vergleichen mit hier und heute.
Verehrter Johann, eigentlich gut, dass du nicht da bist und siehst, was aus deinem geliebten Orient, aus den Städten, in denen der Duft der 1001 Nächte bis vor kurzem noch lebendig war, geworden ist. Die Grundbausteine für den Untergang wurden schon zu deiner Zeit gelegt, aber es war damals noch nicht mal zu erahnen, zu welchem unheilvollen Elend das Ganze hinführen würde.
Ich gebe dir mal einen der wirklich harmloseren Beispiele aus unserer heutigen Zeit: Jahrzehnte lang wurde die Frage, ob die Menschen aus diesen Länder überhaupt „vereinbar“ damit sind, sich selbst zu regieren – zu deiner Information lieber Johann: die meisten dieser Länder werden (immer noch) fremdregiert – zur Frage aller Fragen empor gehoben und immer wieder von neuem durchgekaut. Und jetzt kommt das „Unmögliche“, etwas, was nach der bestechenden Logik einiger überhaupt nicht sein dürfte: Ein erheblicher Teil genau dieser „Selbständigkeits-untauglichen“ Menschen gehen nun seit einigen Jahren aus dem tiefen Wunsch und Bedürfnis nach genau dieser Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit auf die Straßen und riskieren ihr Leben dafür! Das Ganze wird bestenfalls zu dem Resultat führen, dass diese besagte Frage fortan vielleicht nicht mehr so gebetsmühlenartig gestellt werden wird, denn dann müsste sie ja mehr oder weniger bejaht werden und die Ursachen für das Nicht-Bestehen dieser Selbstbestimmtheit müssten dann vielleicht doch irgendwo anders gesucht werden und das passt dann doch nicht so ins Konzept… wenn du versteht, lieber Johann, was ich meine.
Geehrter Menschenfreund, wenn du wüsstest, wie Ideen und Begriffe heute mehr denn je missbraucht werden. Sicher, dass gab es natürlich auch früher, aber glaub mir, niemals in solch einem krassen Widerspruch zu den eigenen Ansprüchen der heutigen Staaten. Der Anspruch auf Humanität und zivilisiertem Verhalten könnte höher nicht sein, und das Verhalten – oft genug nicht abgrundtiefer.
Du hattest schöne Visionen vom Orient und Oxident. Dein wachsames Gewissen hat schon früh geahnt, dass diese beiden Teile eines Ganzen sind. Es gibt ja immer mehr Menschen, die es so sehen wie du und die die mit pathologischer Beharrlichkeit immer wieder ins Bewusstsein der Menschen eingedrillten „Fakten“ über die „unüberbrückbaren Unvereinbarkeiten“ langsam als das erkennen, was sie sind, nämlich als Manipulationen gegen jegliche Humanität, als Manipulationen gegen die Entstehung eines friedvollen Terrains. Johann, du ahnst aber vielleicht schon das Problem, dass man nämlich die Menschen, die im Großen und Ganzen zum friedvollen Miteinander neigen würden nicht lässt, man gönnt ihnen schlicht und einfach keinen Frieden, man trübt ihre Sinne, lässt sie den eigenen Vorteil am „Miteinander“ sogar nicht erkennen – und das lieber Johann, das erweist sich leider als sehr einfach. Ob im Orient oder im Oxident: Man arbeitet bestmöglich daran, die Menschen geistig und moralisch anspruchs- und verantwortungslos zu machen und sie in diesem Zustand zu halten, man hetzt sie gegeneinander auf, verbreitet unwahre „Tatsachen“, man manipuliert sie zum Teil mit primitivsten Mitteln und Behauptungen – teile und herrsche, spalte und raube aus, erschaffe Feinde aus ihrer Mitte und lehne dich dann zurück.
Was ist mit der geistigen Mündigkeit, dass so viele sie meiden? Du, ein Freund der geistigen Mündigkeit, ein Meister des Dichtens und Denkens, wenn du nur geahnt hättest, wie weit wir uns vom Dichten und Denken entfernen werden. Ja gut, so ganz haben sich zumindest die meisten heutigen Medien ja vom Dichten nicht entfernt, auch wenn in anderer Weise, als du und deinesgleichen unter Dichten verstanden haben. Es wird heute gedichtet, was das Zeug hält. Jeder kann erdichten, was er will und bekommt unheilvoll viel Beachtung dafür, so lange seine Dichtung den Unfrieden nicht gefährdet, solange sie die Zwietracht nährt.
Geehrter Johann, ich schließe diesen Brief mit deinen Worten ab, an deren Wahrheit sich nichts geändert hat: „Was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.“ Aktuell Meinung
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