Burkaverbot
Zur Geselligkeit verpflichtet
Mein Pass ist eigentlich gar nicht mein Pass. Ich bin es, den er identifiziert. Aber er gehört mir nicht. Genauso mein Gesicht. Auch es gehört mir nicht. Oder doch? Maximilian Steinbeis kommentiert das Urteil des Menschengerichtshofs zum Burkaverbot.
Von Maximilian Steinbeis Donnerstag, 14.08.2014, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 01.12.2015, 12:34 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Mein Pass ist eigentlich gar nicht mein Pass. Ich bin es zwar, in dessen Tasche oder Schublade er steckt. Ich bin es, den er identifiziert. Aber er gehört mir nicht. Ein kleiner unauffälliger Satz auf der letzten Seite klärt mich auf: „Dieser Reisepass ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.“ Das gleiche gilt, wenn man der Logik des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg folgt, auch für einen Teil meines Körpers. Der Teil, der mich als ich kennzeichnet, der mich erkennbar macht, mit dem ich spreche, sehe und höre, das Inter-Face zwischen mir und der Gesellschaft: mein Gesicht.
Am 1. Juli hat der EGMR sein lange erwartetes Urteil über das so genannte Burkaverbot in Frankreich verkündet. An der Entscheidung hat sich seither eine lebhafte Debatte entzündet, in der es um Pluralismus und Minderheitenschutz geht, um Diskriminierung und Würde von Frauen, um den Islam und wie man ihn praktizieren bzw. integrieren soll – alles wichtige und dringliche Fragen, denen sich eine moderne Gesellschaft stellen muss. Ein Punkt, vielleicht der aller fundamentalste dabei, gerät dabei aber leicht aus dem Blickfeld: Hier wird verhandelt, wo die Grenze zwischen Individuum und Gesellschaft verläuft und welche gesellschaftlichen Zumutungen sie vom Individuum abzuhalten in der Lage sein soll. Und das Ergebnis, das der Straßburger Gerichtshof gefunden hat, verheißt für das Individuum und seine Grundrechte einstweilen nichts Gutes.
Die Bezeichnung Burkaverbot ist, wenn man das französische Gesetz beim Wort nimmt, gar nicht richtig: Das Gesetz droht jedem, der sich mit verhülltem Gesicht in der Öffentlichkeit bewegt, Strafe an, egal ob es eine Skimaske, ein Damenstrumpf, ein Motorradhelm oder eine Sonnenbrille ist, die der Öffentlichkeit die freie Sicht auf sein Gesicht verwehrt. (Praktisch geht es natürlich fast ausschließlich um die islamische Vollverschleierung.) Das Hauptmotiv hinter diesem Gesetz ist eine utopische Ideologie, die unter dem améliehaft kuscheligen Namen „vivre ensemble“ (zusammen leben) daherkommt, erdacht in der Ära Sarkozy von konservativen Politikern als Signal an die vom Front National verlockten Französinnen und Franzosen, dass auch im so diversen 21. Jahrhundert das republikanische Ideal der Brüderlichkeit noch etwas gilt. Zusammen leben und nicht nur nebeneinander her: in der Utopie des „vivre ensemble“ grillen nicht die einen Lammkotellets im Park und die anderen Schweinswürstchen auf dem Balkon, sondern alle zusammen versammeln sich um die gleiche Feuerstelle, respektiert, aufgenommen und miteinander im Gespräch.
Es handelt sich dabei um ein Tun und nicht nur um ein Sein: Es heißt nicht „la vie ensemble“, sondern „vivre ensemble“, ein Verb im Infinitiv, etwas, was den Lamm essenden Türken/Arabern oder Schwein essenden Deutschen/Franzosen aktiv aufgegeben ist. Es handelt sich auch nicht nur um einen Vorschlag, wie sie ihr Privatleben gestalten sollten, sondern um etwas Politisches. Zusammen zu leben ist etwas, was sich die freien und gleichen Bürger der Republik wechselseitig einander schuldig sind.
Im Mittelpunkt dieser Ideologie steht das Gesicht: Ich kann mit dir nur zusammen leben, wenn ich dein Gesicht sehe. Wer bist du? Zeig dich mir! Wer sich verhüllt, macht aus dieser Perspektive nicht einfach von seinem Recht Gebrauch, für sich zu sein. Er zieht eine Barriere zwischen sich und seine Mitbürger. Er macht nicht mit beim großen „vivre ensemble“, ein Spielverderber und Störenfried ist er. Und wenn er sich klagend auf sein Recht auf Privatsphäre, auf freie Religionsausübung beruft, dann wird er scharfen Tons daran erinnert, dass er diese Rechte ja wohl gerade der Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu verdanken hat, der er sich so hartnäckig entzieht.
In diesem Moment wird mein Gesicht zu einer Art Reisepass: Ich trage es, mich identifiziert es, aber es gehört mir nicht mehr. „Dieses Gesicht ist Eigentum der Bundesrepublik Deutschland.“
Ich muss keine verschleierte Muslima sein, um diese Beschlagnahme eines Teils meines Körpers als Vergewaltigung zu empfinden.
Mein Gesicht gehört mir. Ich bin es, der mittels meines Gesichts mit der Gesellschaft Kontakt aufnimmt – oder auch nicht. Ich entscheide, ob ich offen und fröhlich oder mürrisch und verschlossen dreinschaue, ob ich spreche oder schweige, ob und mit wem ich Blickkontakt aufnehme. Mein Gesicht ist das Fenster, durch das ich die Welt sehe und die Welt mich. Aber dieses Fenster ist mit Vorhängen ausgestattet, und die Kontrolle, ob sie auf- oder zugezogen werden, liegt bei niemand anderem als bei mir.
Wenn ich mein Gesicht für mich reklamiere, bitte ich damit nicht um Rücksichtnahme. Ich fordere mein Recht. Ist das unsozial? Aber sicher ist es das. So ist das mit den Grundrechten: Sie sind nicht dazu da, aus mir einen guten Bürger zu machen, der dem Gemeinwohl nützt und seinen Teil fürs Große und Ganze beiträgt. Sie sind dazu da, mir einen Raum zu verschaffen, in dem ich für mich sein kann und gerade nicht für die anderen. Mein Recht auf meinen Körper und mein Recht auf meine Privatsphäre sind keine Privilegien, die mir für meine treuen Dienste als Teilnehmer an der Gesellschaft verliehen werden, sondern Grenzziehungen, die den Raum markieren, wo ich als Individuum unbehelligt bleibe.
Das heißt natürlich nicht, dass diese Grenzen undurchdringlich sind. Es gibt Situationen, wo die Gesellschaft gute Gründe hat, meinen Körper in Fesseln zu legen, meine Wohnung zu durchsuchen und meine individuelle Freiheit ihren Zwecken unterzuordnen. Der französische Gesetzgeber hatte von der öffentlichen Sicherheit bis zur Würde der Frau allerhand solche Gründe zu finden versucht, um das Verhüllungsverbot zu rechtfertigen. Der Straßburger Gerichtshof hat sie allesamt zurückgewiesen. Der einzige Grund, mit dem Frankreich vor dem Menschenrechtsgericht durchdrang, war: „vivre ensemble“. Die Mitbürger der Burkaträgerinnen hätten ein Recht, in einem „das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit“ zu leben, heißt es in dem Urteil. Mit diesem Recht sei das Recht auf Privatsphäre und auf freie Religionsausübung abzuwägen und ziehe im Ergebnis hier den Kürzeren.
Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese wattige Ideologie zu einem Argument geadelt hat, mit dem man Eingriffe in Privatsphäre und Religionsfreiheit rechtfertigen kann, ist ein Vorgang mit Auswirkungen weit über das Burkaverbot hinaus. Denn in dem flauscheweichen Fraternité-Rhetorikbausch des „vivre ensemble“ steckt ein stahlharter Kern. Er stellt das Recht, für sich zu sein, unter einen Geselligkeitsvorbehalt. Er macht das Bedürfnis, sich absondern, zu einer Zumutung, derer sich die Gesellschaft ab einem gewissen Punkt erwehren muss und darf. Nun ist sie es, die ein „Recht“ geltend macht, ein Recht auf einen „das Zusammenleben erleichternden Raum der Geselligkeit“, und das Individuum wird zu etwas, das diesen Raum bedrängt und beschränkt mit seinem Individualisierungsbedürfnis und sich dafür rechtfertigen muss.
Diese buchstäbliche Perversion der Grundrechtsidee ist keineswegs allein ein Phänomen der französischen bzw. europäischen Rechtsordnung. Die deutsche Jurisprudenz ist für ganz ähnliche Gedanken durchaus auch empfänglich. „Der freie Mensch zeigt dem anderen sein Antlitz“, heißt es im Sondervotum der drei konservativen Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff zum Kopftuchurteil des Bundesverfassungsgerichts 2003 – gestützt allerdings auf die Menschenwürde und nicht auf den Republikanismus, was aber auf das Gleiche hinausläuft: Frei ist aus dieser Perspektive nur der soziale, der gesellige Mensch.
Aus dieser Perspektive wird die Burka tatsächlich zu einem vollkommen opaken Ding. Man sieht nicht mehr, man will nicht mehr sehen, was sich dahinter verbirgt. Nämlich ein menschliches Gesicht. Leitartikel Meinung Recht
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen
@Mathis:“Klarer wird es auch nicht bei weiteren Versuchen,mich zu überzeugen.Beenden wir den Disput einstweilen.“
Wir hatten einen Meinungsausstausch und keinen Disput. Ein Disput kann zwar auch ein Lehrgespräch sein, aber in der Regel versteht man darunter meistens einen Streit. Ein Meinungsausstausch dient nicht dem Zweck, Sie von etwas anderem zu überzeugen, sondern lediglich, die unterschiedlichen Facetten einer Sache zu betrachten. Es dürfen gerne unterschiedliche Meinungen nebeneinanderstehen bleiben.
@Mathis: „Es mag zwischen Absicht und Wirkung eine nicht auflösbare Diskrepanz bestehen, die ich jedoch nicht geschaffen habe, sondern ein Widerspruch ist, über den die betroffenen Frauen reflektieren müssten.“
Und Sie müssen nichts reflektieren???
@Mathis:“Was der Empfänger einer Botschaft verstehen soll, liegt nicht in der Hand des Absenders. Ein Kommunkiationsforscher könnte Ihnen das besser erklären.“
Da stimme ich Ihnen zu. Die Schwerpunktsetzung des „Senders“, der äußere Rahmen und die Gewohnheiten des „Empfängers“ beeinflussen den Kommunikationsprozess. Das was beim „Empfänger“ ankommt, wird von ihm selbst bestimmt. Er entschlüsselt die Nachricht, indem er ihr aufgrund seiner Erwartungen und Vorerfahrungen eine Bedeutung verleiht. Das kann er an den „Sender“ zurückmelden (Feed-back). Daraus wird deutlich, dass Kommunikation nicht nur einen Sachaspekt hat, die Beziehung zum Gegenüber spielt immer eine wichtige Rolle. Gleichzeitig sagen Kommunikationswissenschaftler (ich empfehle Schulz von Thun) aber auch, dass es Aufgabe des Senders ist, sicherzustellen, dass die von ihm zu transportierenden Informationen richtig ankommen. Es gibt „Empfänger“, die vor allem mit dem „Sachohr“ hören, andere reagieren übersensibel auf die Beziehungsaspekte.
@Global Player:““ein Mensch, der sein Gesicht nicht zeigt, gehört nicht zu unserer Gesellschaft. Punkt. Da darf es nichts zu diskuieren geben.“
Und wie gehen Sie damit, dass diese Personengruppe denoch Bestandtteil unserer Gesellschaft ist, weil sie hier mit uns leben? Vielleicht ist es Ihnen gar nicht so bewußt, aber sie sprechen Menschen ihre Würde, ihr Recht auf einen eigenen Lebensstil und das Recht auf freie Religionsausübung ab; etwas das Sie sich niemals von anderen gefallen lassen würden.
Sie schließen Menschen mit Gesichtsschleier aus und verbieten außerdem anderen die Diskussion und Meinungsfreiheit. Derjenige der das tut, „gehört nicht ……“. Den Rest kennen Sie ja!
„@Marianne Haben Sie Verständnisschwierigkeiten?“
Ne, nicht im Geringsten. Und, ganz ehrlich gesagt, ich bevorzuge Verschleierte auf jeden Fall vor deutschen Herrenmenschen, die sich irrtümlich für „kulturell überlegen“ halten. Ich hatte noch nie auch nur das geringste klitzekleinste Problem mit Burkaträgerinnen, obwohl ich denen täglich begegne. Die sind alle sehr angenehm und freundlich. Mit deutschen Herrenmenschen schon. Ganz besonders mit solchen, die anderen die Ausreise nahelegen, wenn Ihnen etwas nicht passt. Die fand ich schon immer ziemlich widerlich.
Pingback: » Wenn ihr ein Burkaverbot wollt, müsst ihr auch Geheimdienste verbieten! Wolfgang Michal