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Antiziganismus

Wir brauchen konsequente Forschung im Kontext der Ursprünge

Spielt es eine Rolle, ob der Antiziganismus keine 30 Prozent, sondern 20,4 Prozent beträgt? Warum die Debatte zur Studie über "Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma" am Thema vorbeigeht. Ein Plädoyer von Dr. Rubina Zern für eine kontextualisierte Betrachtung.

Von Rubina Zern Dienstag, 14.10.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 15.10.2014, 17:26 Uhr Lesedauer: 3 Minuten  |  

Wer die derzeitige Debatte um die Studie zu „Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma“ zwischen der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, diversen Medien und den beteiligten Wissenschaftlern verfolgt hat, musste zwischenzeitlich den Eindruck gewinnen, hier werde gefeilscht: Um Zahlen, um Fakten, um Skalenwerte. Wie feindlich gesinnt ist die Mehrheitsgesellschaft der Gruppe der Sinti und Roma wirklich?

Obwohl der Einwand der an der Studie beteiligten Wissenschaftler, die die Interpretation einiger Skalenwerte durch die Antidiskriminierungsstelle nicht teilen, berechtigt ist – eine Dramatisierung der Ergebnisse ist selbstverständlich abzulehnen – muss doch die Frage gestellt werden: Qui bono? Welche Probleme löst die Feststellung, dass nun mehr keine 30 Prozent, sondern 20,4 Prozent der deutschen Mehrheitsgesellschaft keine Sinti und Roma als Nachbarn haben wollen?

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Sollten wir uns nicht eher die Frage stellen, was eine solche Erhebung über unsere Gesellschaft aussagt, dass sie eher auf Zahlen vertraut als darauf, nach der Entstehung von Antiziganismus zu fragen? Zugegeben, es ist unbequem, einen Schritt zurückzutreten und die Ergebnisse als auch die Studie an sich zu hinterfragen. Auf den ersten Blick scheinen in Prozent ausgedrückte Zahlen wie harte Fakten: aussagekräftig und in Stein gemeißelt.

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Doch Fragen danach, wie Menschen zu den Sinti und Roma stehen, lassen sich nicht in Umfragesituationen ergründen: Theoretische Werteeinstellungen sind eine Sache, die Praxis ist eine andere, und die Kommunikation in einer Umfrage darüber eine dritte. Zudem sind künstlich angelegte Kategorien in Bezug auf Mentalitätseinstellungen, die ja stets einen langen Zeitraum der Entwicklung voraussetzen, mehr als bedenklich.

Dass Antiziganismus in der Mehrheitsgesellschaft gegenwärtig sehr wohl existiert, ist eine unbestreitbare Tatsache – aktuelle Publikationen von Historikern belegen dies. Allerdings ist er kein Produkt der letzten zehn oder zwanzig Jahre, er basiert auf tradierten ‚Zigeuner‘-Bildern, die an aktuelle Entwicklungen angepasst werden. Wer weiß, wie mühsam die Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma um eine offizielle Anerkennung des NS-Völkermords an ihrer Minderheit gerungen hat, und beobachtet hat, wie sie in vielen gesellschaftlichen Belangen immer noch diskriminiert wird, ahnt, dass es hier mit simplen Zahlen nicht getan ist: Denn eine Gesellschaft, in der Sinti und Roma bereits jahrhundertelang marginalisiert wurden, wird ohne konkrete Bildungsarbeit, zu der im Übrigen auch ein kritischer Umgang mit Medien gehört, nicht umlernen. Dass dies funktionieren kann, zeigen uns trotz aller derzeitigen Aufregung die Erfolge einer fruchtbaren Aufarbeitung des Antisemitismus.

Es wäre wichtig, Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Sinti und Roma in den richtigen Kontext zu setzen – und umgekehrt, denn eine Mehrheitsgesellschaft kann nicht ohne seine Minderheiten gedacht werden. Welche Umstände also haben zu den erwähnten Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft beigetragen? Aus welchen Gründen begannen die Menschen, in stereotypen Mustern über Sinti und Roma zu denken? Und wie nehmen eigentlich Sinti und Roma die Mehrheitsgesellschaft wahr?

Eine sozialwissenschaftliche Erhebung kann die Beantwortung dieser Fragen nicht leisten, denn sie ist naturgemäß statisch und kann daher bestenfalls als Momentaufnahme herangezogen werden. Erhebungen und ihre Ergebnisse sollten daher als das gelesen werden, was sie sind: Konstrukte – und als solche interpretierbar. Wer die Studie nicht als Darstellung, sondern als Quelle im Kontext liest, gewinnt viel.

Nur wenn die richtigen Fragen in Bezug auf Feindlichkeit gegenüber Sinti und Roma oder auch anderen Minderheiten gestellt werden und auch die jeweils ‚andere‘ Perspektive eingenommen wird, kann man gute Antworten darauf erwarten, die schließlich in durchdachte Handlungen münden.

Was wir brauchen, ist keine Debatte über Zahlen und Statistiken, sondern die konsequente Erforschung von Antiziganismus in der Gesellschaft – und zwar im Kontext seiner Ursprünge. Wenn die neue Studie eines deutlich werden lässt, dann, dass es in der Mehrheitsgesellschaft kein stimmiges, geschlossenes Feindbild über Sinti und Roma gibt. Begreifen wir das als Chance: Hier kann angesetzt werden, um Stereotypen und Klischees zu erforschen, um die Ursprünge von Antiziganismus zu verstehen. Und umgekehrt, um aus der Perspektive von Sinti und Roma die Mehrheitsgesellschaft zu betrachten und daraus die richtigen Handlungsoptionen für eine Aufarbeitung und einen Abbau von Antiziganismus abzuleiten. Aktuell Meinung

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  1. kapturak sagt:

    Den Forderungen und Vorhaben kann ich grundsätzlich nur zustimmen.
    Ein kleine Anmerkung sei jedoch bezüglich des Ausgangsbegriffs erlaubt. Dabei geht es auch um eben jenen selbstformulierten Anspruch: „Und wie nehmen eigentlich Sinti und Roma die Mehrheitsgesellschaft wahr?“
    „Antiziganismus“ ist eine höchst problematische Vokabel und wird auch von Roma-Seite vielfach abgelehnt. In erster Linie reproduziert der Begriff das stereotypbehaftete Z-Wort, das immerhin im sonstigen Sprachgebrauch tunlichst vermieden wird. Das ist im Deutschen nicht ganz so offensichtlich, kommt aber insbesondere im slawischsprachigen Raum, wohin der Begriff auch schon exportiert worden ist, zum Tragen, da dort das Z-Wort (z.B. als Cigan, Cikan…) dem im „Antiziganismus“ enthaltenen Wortteil noch wesentlich näher ist.
    Es ist klar, dass sich der Begriff mittlerweile schon stark etabliert hat und dass das durchaus auch seinen Sinn hat, gerade weil sich das Phänomen dadurch auch als ein spezifisches erfassen lässt. Dennoch würde ich – gerade, wenn es sich hier um ernsthafte historische Grundlagenforschung handeln soll – für eine Reflexion und Revision des Begriffs plädieren.

  2. Sinti sagt:

    Wir wollen nicht als Sinti – und – Roma bezeichnet werden. Sinti sind seit über 600 Jahren in Deutschland zu Hause. Deutschland ist unsere Heimat. Sinti sind deutsche Staatsbürger
    Die Gruppe der Roma sind zugewanderte aus Ost und Südosteuorpa. Sinti kommen weder aus Ost oder Südosteuropa, auch nicht aus Bulgharien, Rumänien auch nicht aus ex-jugoslawien.
    Deutsche Sinti verbitten sich als „Sinti – und – Roma oder gar als Roma“ bezeichnet zu werden.
    Begründung:

    Immer wieder müssen wir mit Bedauern und Verärgerung (Betroffenheit) feststellen, dass Sinti und Roma in einem Atemzug in den Medien von der Presse und Politikern erwähnt werden. Es wird mit einer nicht mehr entschuldbaren Ignoranz über eine Differenzierung zwischen den beiden Völkern hinweggegangen.
    Zum wiederholten Male weisen wir darauf hin, dass in südosteuropäischen Ländern, ebenso in Rumänien und Bulgarien, keine Sinti leben und gelebt haben. Der Lebensraum der Sinti liegt bereits seit mehr als 600 Jahren ausschließlich im deutschsprachigen Teil Westeuropas, namentlich und hauptsächlich in Deutschland. Es ist falsch, wenn die Medien und die Politiker in diesem Zusammenhang Sinti und Roma formulieren.
    Die Sinti sind Deutsche mit den gleichen Rechten und Pflichten wie jeder Deutsche. Ihre Heimat ist Deutschland. Sie können deshalb weder mit Flüchtlingsorganisationen sowie mit Asylanträgen, Duldungen und Zuwanderung aus dem Ausland in Verbindung gebracht werden. Die Sinti müssen demzufolge namentlich aus solchen Berichten herausgehalten werden. Wir fordern die Medien, Presse und Politiker hiermit auf, das zukünftig zu berücksichtigen.
    Wir empfinden es als mediale und politische Fehlleistung, wenn hier keine Unterscheidung gemacht wird. Investigative Medien und verantwortsbewussten Politikern sollten ein ernsthaftes Interesse haben, ihren Lesern bzw. Zuhörern und Wählern wohlrecherchierte und wahrheitsgetreue Informationen zukommen zu lassen. Andernfalls sollte zumindest die Option bestehen, dass Sinti aus Artikeln, Reportagen oder Dokumentationen sowie politischen Diskussionen herausgehalten werden, in denen sie historisch völlig falsch eingeordnet werden. Nicht allein durch die aktuelle Asylgesetz-Debatte werden wir stereotyp in Zusammenhang mit den nicht zu leugnenden Problemen bei der Integration der ins Land kommenden Roma gebracht. Im 4. Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland wird auf Seite 7 auf folgendes hingewiuesen: „Sinti – und – Roma verstehen sich nicht als eine, sondern als zwei Ethnien“

    Darüberhinaus lehnen die Sinti diese Studie der ADS auf das Schärfste ab!
    Studie entspricht nicht der Realität. Sinti sind seit über 600 Jahren in Deutschland zu Hause und leben in guter Nachbarschaft mit den anderen Deutschen zusammen. Wir sehen in dieser Studie die Gefahr, dass sich die Öffentlichkeit gegen uns Sinti wendet, da durch den künstlich konstruierten Doppelbegriff „Sinti und Roma“, der Eindruck vermittelt wird, dass Roma = Sinti sind. Wir fordern deshalb die Antidiskriminierungsstelle des Bundes dringend auf, den Begriff „Sinti“ aus dieser Studie herauszuhalten

  3. Pingback: Sinti und Roma - Gleichgültigkeit ist nicht weniger handlungsrelevant als Ablehnung - MiGAZIN