Die Macht der Provokation
Eine andere Perspektive auf den Salafismus
Salafismus. Das ist Wahnsinn. Das ist das Böse unserer Zeit. Das ist der Untergang des Abendlandes. Diese erste, intuitive Regung ist nachvollziehbar: In einem zweiten Schritt sollte man versuchen zu verstehen und sich selbstkritisch fragen:
Von Aladin El-Mafaalani Freitag, 19.12.2014, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 05.01.2015, 21:34 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Wie kann es sein, dass eine Ideologie, die es seit Ewigkeiten gibt, gerade heute bei den Jugendlichen Westeuropas einen Aufschwung erlebt? Warum sehnen junge Männer und Frauen mit und ohne „Migrationshintergrund“ das Frühe Mittelalter herbei und bilden damit eine der dynamischsten gegenwärtigen Jugendbewegungen? Diesen Fragen kommt man näher, ohne theologische Diskurse zu führen. Man muss das Ganze vielmehr mit den Augen der Jugendlichen sehen.
Jugendliche neigen dazu, sich von Vorgängergenerationen abzugrenzen. Dabei können extreme Gegenpositionen zutage kommen. Ein veränderter Lebensstil ist hierfür typisch. Kleidung, Frisuren, Drogen und Musik waren häufig sinnlich wahrnehmbarer Ausdruck von Abgrenzung und Provokation. So war es bei Studentenbewegungen, den Punks, der Hip Hop Kultur. Und heute? Jugendliche haben kiffende Lehrer und Eltern mit Piercing und gefärbtem Haar. Adelige Bundesminister gehen auf Heavy Metal Konzerte, First Ladies sind tätowiert. Sex, Drugs and Rock n Roll – dieser in die Jahre gekommene Spirit lässt sich heute bestenfalls noch auf Ü 40 Partys finden. Alle Kombinationen von Sex, Rauschmitteln und Musik hat es schon gegeben.
Worin steckt heute das größte Provokationspotenzial? Die alltagspraktische Funktion eines Kopftuchs (oder gar einer Burka) weist – bei allen Unterschieden – unglaublich viele Ähnlichkeiten mit dem punkigen Irokesen in den 1970ern auf: Man wird unmittelbar erkannt, erntet skeptische Blicke, offene Ablehnung, tiefe Verachtung und erzeugt Angst. Alle Zutaten für gelungene Rebellion. Sehr schlimm, wenn es unter Zwang geschieht, überaus funktional, wenn man die Öffentlichkeit und die eigenen Eltern provozieren möchte. Emanzipation und selbstbestimmte Abgrenzung, können das Motive sein? Es kommt auf den Kontext an: Im Iran oder in Saudi-Arabien ist eine kopftuchtragende Frau eine anonyme Ameise im Ameisenhaufen; in Deutschland ist sie das auffällige schwarze Schaf. Daher sind die Motive für oder gegen religiöse Radikalisierung je nach Gesellschaft und Zeitgeist ganz unterschiedlich. In der salafistischen Szene gelten strenge Regeln für Mann und Frau – in traditionellen, kaum religiösen Familien häufig nur für das weibliche Geschlecht. Nicht ohne Grund erleben viele junge Frauen in dieser Jugendbewegung ein höheres Maß an Gleichstellung als in ihren zum Teil resignierten Herkunftsmilieus.
Dass dies kaum jemand wahrhaben möchte, ist ein Beleg dafür, dass wir uns für diese jungen Menschen nicht interessiert haben. Nun ist es eine aufgekeimte internationale Jugendbewegung. Das sind junge Menschen, die – ohne sich zu kennen – Ähnliches tun. Das bedeutet, sie haben gleiche Erfahrungen, Problemstellungen und Bedürfnisse. Viele werden es nicht hören wollen: Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen auf der persönlichen Ebene, aber auch nationale und internationale Entwicklungen spielen zusammen. Muslime sind Feindbilder geworden. Sich über sie auszulassen, ist selbstverständlich. Das zwingt viele Muslime in eine defensive Haltung, in der sie klarstellen und zurechtrücken müssen – ein mühsames Geschäft, das einem niemand dankt und bei dieser Gemengelage vielleicht sogar zum Scheitern verurteilt ist. Die anderen, häufig kaum religiösen, aber als solche optisch wahrgenommenen „Fremden“ treibt es in die Offensive. „Wenn schon, denn schon“ oder „Jetzt erst recht!“
Vor dem Hintergrund dieser persönlichen Erlebnisse werden dann nationale und globale Ereignisse wahrgenommen. Muslime sind die Bösen, solange sie kein Buch gegen den Islam schreiben oder wichtige Geschäftspartner sind. In Syrien und dem Irak wird der „Westen“ erst richtig aktiv, als Nicht-Muslime bedroht oder ermordet werden. Das kann man je nach Betrachtungsweise interessengeleitete Politik oder strategielosen Aktionismus nennen, aber man darf sich nicht wundern, wenn das als unmoralisch und unglaubwürdig wahrgenommen wird. Die Welt(politik) steckt in einer Sackgasse.
Der Gegenentwurf der Salafisten ist denkbar einfach: In der Vergangenheit liegt der Generalschlüssel – eine neue Zukunftsidee gibt es nicht. Allerdings gibt es eine solche nirgendwo. Unsere Visionen sind bestenfalls technologischer Art. Soziale haben auch wir nicht mehr. Nicht einmal zukunftsweisende Jugend- oder Protestbewegungen lassen sich derzeit erkennen. Wir sind aufgeklärte Verwalter von Klimawandel, Wirtschaftskrisen, Konsumterror. Wer diesen Pragmatismus nicht annehmen kann oder will, muss nostalgisch werden. Neo-Puritanismus, Naturreligionen, Esoterik, Bio-Nahrung oder Yoga – alles Ich-bezogene Formen der Sinnsuche. Der Salafismus hat da für Orientierungsuchende eine kollektive Strategie aus einem Guss: Zurück in die Zeit, in der alles vermeintlich gut war, zurück zu den Wurzeln: Klare Regeln, eindeutige Zugehörigkeiten, unhinterfragbare Wahrheiten und gar der sichere Weg zum Paradies. Das sind Dinge, für die es sich – aus der Perspektive vieler Jugendlicher – einzusetzen lohnt. Das gibt eine starke Orientierung und kanalisiert den jugendtypischen Handlungsdrang in eine Richtung: Missionieren, ein göttlicher Auftrag. Wer heute mitmacht, der gehört zur Avantgarde eines sich selbst als progressiv verstehenden globalen Projekts. Aktuell Meinung
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Sehr treffend stellt der Autor fest, dass Ausgrenzungserfahrungen, ungleiche Teilhabechancen und Islamfeindlichkeit Nährboden einer Radikalisierung sein können. Leider muss man aber auch sagen, dass er mit seinem (zusammen mit Ahmet Toprak verfassten) Buch “Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland – Lebenswelten – Denkmuster – Herausforderungen” dazu beigetragen hat, dass sich diese verfahrene Situation verfestigt. Eine umfangreiche Analsyse des Buches findet sich unter:
http://www.muslimische-frauen.de/wp-content/uploads/2013/11/Stellungnahme-zum-Buch-Muslimische-Kinder-und-Jugendliche.pdf