Flüchtlingspolitik nach Lampedusa (2/2)
Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik
Erneut zeigen sich Deutschland und Europa schockiert über den Tod weiterer Flüchtlinge vor Lampedusa. Doch wie glaubwürdig ist unsere Anteilnahme? Sind Flüchtlinge nicht notwendige Folge unseres eigenen Tuns? Ein Zweiteiler von Prof. Schiffer-Nasserie
Von Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie Freitag, 13.02.2015, 8:24 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 13.01.2016, 10:55 Uhr Lesedauer: 11 Minuten |
Teil 1 dieses Beitrags von Prof. Dr. Arian Schiffer-Nasserie „Die Toten an den EU-Außengrenzen sind unvermeidlich“ lesen Sie hier.
Die steigenden Flüchtlingszahlen sind also ein Resultat der außenpolitischen Durchsetzung des Wachstumsprogramms für den Standort Deutschland. Weil die Flüchtlinge und ihr massenhafter Tod ebenso unerwünscht wie unvermeidlich sind, wird ihr Leid in der politischen Öffentlichkeit
- in „normalen“ Zeiten verharmlost oder geleugnet und kommt höchstens als Randnotiz in den großen Zeitungen vor;
- in Zeiten besonders großer Leichenberge direkt vor der eigenen Küste wird das Elend als „Drama“ oder „Tragödie“ skandalisiert und damit gleichsam das alltägliche Sterben als Normalität affirmiert;
- mit staatlichen Ehren und unter Tränen und aufrichtiger Anteilnahme der EU- Prominenz bedacht, während die Grenzsicherung gleichzeitig verschärft ausgebaut wird;
- und bei Bedarf derart umgedeutet, dass sich die Politik im Namen der „Bekämpfung der Fluchtursachen vor Ort“ einen neuen Auftrag zu noch mehr wirtschaftlicher, politischer und militärischer „Verantwortung in der Welt“ erteilt.
Bereits diese verlogenen Diskurse von Politik und Presse werfen ein Licht darauf, dass die erste und die vierte Gewalt offenbar ein Bewusstsein davon haben, dass es für die Staatsräson der Bundesrepublik keine grundlegende Alternative im Umgang mit Flüchtlingen gibt. Anhand von drei Beispielen, nämlich anhand der öffentlichen Stellungnahmen von Politik, Presse und Pro Asyl soll dieser Diskurs nun näher betrachtet werden.
„Scham und Trauer“ – die Selbstinszenierung der Macht
Konfrontiert mit der öffentlichen Empörung nach dem hundertfachen Tod der Flüchtlinge vor Lampedusa am 3. Oktober 2013 betreibt Bundespräsident Gauck am Folgetag anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes zum Tag der Deutschen Einheit im Schloss Bellevue eine gekonnte Selbstanklage, bei der er – immerhin gelernter Pfarrer – mit der größten Selbstverständlichkeit alle seine Bürger – ob arm ob reich, ob mächtig oder ohnmächtig – geradezu gleichmacherisch mitverantwortlich macht: „Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen unserer Rechts- und Werteordnung. Zuflucht Suchende sind Menschen – und die gestrige Tragödie zeigt das – besonders verletzliche Menschen. Sie bedürfen des Schutzes. Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, das missachtet unsere europäischen Werte.“
Damit gibt der Bundespräsident das Muster der öffentlichen Befassung vor. Gemäß der selbst formulierten Anklage lautet der Vorwurf auf unterlassene Hilfeleistung bei der Rettung der Flüchtlinge. Bereits durch diese Anklage ist die Bundesrepublik von jeglicher ursächlichen Verantwortung sowohl für die Not der Flüchtlinge in ihren Heimatländern als auch für die tödlichen Konsequenzen ihrer Flucht frei gesprochen. Überhaupt bezichtigt der oberste Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland keineswegs den Staat, dem er vorsteht, sondern großzügig seine Ehrengäste in ihrer Rolle als Rechts- und Wertegemeinschaft. Die angesprochenen Werte sind zwar nicht weiter erläuterungsbedürftig und ohnehin über jeden Zweifel erhabenen, erleiden aber ausgerechnet am Nationalfeiertag durch den massenhaften Tod vor Lampedusa einen Imageschaden, so dass ein wenig Scham, Trauer und Betroffenheit dem zur moralischen Gemeinschaft verklärten Staatswesen gar nicht schlecht zu Gesicht steht. Das sieht auch der parteivorsitzende Sozialdemokrat Gabriel so und lässt in Bild am Sonntag wissen, um wen er sich Sorgen macht: „Was auf Lampedusa passiert, ist eine große Schande für die Europäische Union.“ (zitiert nach SZ vom 5.10.2013) Nachdem die Stirn den Erfordernissen entsprechend ein paar Momente in dunklen Sorgenfalten verharrt, kann der eingangs zitierte Präsident am Ende derselben Rede übrigens auch schon wieder frohlocken: „Ich weiß schon jetzt, dass ich mich im nächsten Jahr um diese Zeit mit einem Lächeln an diesen Tag erinnern werde.“
Ebenso realpolitisch wie hochideologisch greift der damalige Innenminister Friederich (CSU) den Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung auf und erteilt sich selbst, seinem Ministerium und seinen Beamten den einzig systemgemäßen Auftrag für einen verbesserten Flüchtlingsschutz: „Fest steht, dass wir noch stärker die Netzwerke organisierter und ausbeuterischer Schleusungskriminalität bekämpfen müssen.“ (SZ 5.10.2013) Dies freilich, ohne deren Geschäftsgrundlage, immerhin die eigene Flüchtlingspolitik, auch nur in Betracht, geschweige denn in Zweifel zu ziehen, so dass sich die nächsten Toten auch schon am Folgetag einstellen.
Ganz ähnlich melden sich die meisten Politiker in Deutschland und der EU zu Wort. Ihren Streit über die Dublin II- bzw. Dublin III-Verordnung, also über die Lastenverteilung bei der Flüchtlingsabwehr, die Internierung der Flüchtlinge in meist privatisierten Lagern, über Prozessdurchführung und Abschiebung inszenieren sie unter Berufung auf die Katastrophe auf einem Innenministergipfel im Oktober 2013 in Brüssel als Lehren aus den schrecklichen Ereignissen von Lampedusa. Am Ende der Konferenz bleibt alles beim Alten. Deutschland setzt sich gegen Italien, Spanien und Griechenland durch, die auch weiterhin als Erstaufnahmeländer größtenteils die Flüchtlingsabwehr im Interesse Deutschlands zu bewältigen haben. Ganz nebenbei gelingt den versammelten Demokraten unter Mithilfe der meisten Leitmedien dabei die Umdefinition vom tödlichen Problem der Flüchtlinge zum Flüchtlingsproblem der EU! So weit, so brutal, so konsequent… Aktuell Meinung
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Ein beißend formulierter doch sehr treffender Beitrag. Es wird an an der Flüchtlingsproblematik herumgedoktert ohne die Ursachen anzugehen. Doch ein politischer Willen, dies zu tun, ist weit und breit nicht in Sicht. Wie richtig gesagt wurde, die europäischen Parteien unterwerfen sich alle dem Primat des Wirtschaftswachstums. Und vor einer Welt-Regierung, die allein einen Interessenausgleich im globalen Umfang herbeiführen könnte, bewahre uns der Himmel. Solange die armen Länder sich nicht im Aufstand üben – und daran denken ihre korrupten Eliten wohl kaum, und wenn, werden sie effektiv daran gehindert – wird sich nicht so bald etwas ändern. Und solange sehe ich Europas Bevölkerung in der Pflicht, verelendete Menschen dennoch aufzunehmen. Vieleicht werden diese von hier aus zu einer Politik beitragen können, die ihren Herkunftsländern einmal helfen wird.
Der Beitrag von Herrn Schiffer-Nasserie weist sicherlich auf einen für die Beurteilung der politisch-wirtschaftlich-moralischen Verantwortlichkeiten für die Massentode von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer relevanten Aspekt hin. Allerdings scheint er mir (ich bin kein Experte für solche Fragen) die Ursachen des in den Fluchtländern existierende Elendes doch etwas zu vereinfachen. Meines Wissens nach ist die inzwischen jahrzehnte geführte Diskussion über die Ursachen der ‚Armut in der Dritten Welt‘ weitgehend doch zu dem Ergebnis gekommen, dass dieses sowohl exogene Ursachen (eben in den Ausbeutungsverhältnissen zwischen erster und dritter Welt hat), als auch endogene Ursachen (in den politischen und wirtschaftlichen Systemen der Armutsländer selbst). Sicherlich setzt die internationale kapitalistische Wirtschaftsordnung die Rahmenbedingungen für die wirtschaftlichen, politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Afrika, die zu den Flüchtlingsbewegungen führen, diese Auseinandersetzungen aber vor allem diesen Rahmenbedingungen zuzuschreiben, greift m. E. zu kurz (oder ist die Islamisierung in vielen afrikanischen Stadten unmittelbarer Ausdruck der historischen und aktuellen wirtschaftlichen Hegemonie der westlich-kapitalistischen Staaten in Afrika?)
Mit dem klassisch imperialismustheoretischen Instrumentarium alleine, das der Autor verwendet, kommt man diesem komplexen Verursachungszusammenhang m. E. kaum bei. Zumindest sollte man seine Fundamentalkritik am Kapitalismus mit ein wenig historisch-konkreten Vermittlungsüberlegungen anreichern.
Fragen sie mal die Flüchtlinge selber, ob die den Kapitalismus abschaffen wollen. Die wollen in erster Linie am Kapitalismus partizipieren, und ihre Flucht drückt die Bejahung des westlichen Kapitalismus, nicht seine Ablehnung aus.