Der neunte Mord in Kassel 2006
NSU: „So nahe wie möglich an der Wahrheit“
Andreas Temme war nicht am "falschen Ort zur falschen Zeit", sondern ein Verfassungsschutzmitarbeiter, der Täterwissen hatte und den Mord hätte verhindern können. Eine Zusammenfassung der "Kasseler Problematik" im Lichte der neuesten Erkenntnisse - von Wolf Wetzel
Von Wolf Wetzel Mittwoch, 25.02.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 05.07.2015, 0:17 Uhr Lesedauer: 16 Minuten |
In Kassel ereignete sich am 6. April 2006 der neunte Mord, der dem Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) zugeordnet wird. Dieses Mal wurde der Besitzer des Internet-Cafés Halit Yozgat kaltblütig ermordet. Wie in den vorangegangenen Morden wurde „zufällig“ auch dieser ins ausländische Milieu abgeschoben. Wieder aus Zufall wurde „nie Richtung Rechtsextremismus ermittelt“ 1. Ebenso zufällig wurden Täter im familiären und beruflichen Umfeld des Ermordeten gesucht.
Neben vielen Übereinstimmungen gibt es eine markante Besonderheit: Zur Tatzeit war der hessische Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme anwesend. Völlig zufällig, privat und ahnungslos, wie er seitdem beteuert: „Ich war tatsächlich, wie ich es immer wieder nur betonen kann, zur falschen Zeit am falschen Ort. Und es gibt keine Verbindung von mir zu diesen Taten und auch keine Verbindung, die irgendetwas mit meiner Arbeit zu tun gehabt hätte.“ 2
Für diese abenteuerliche These bekommt er bis heute auffallend viel Unterstützung. Man schützt, protegiert, berät und deckt ihn, mit allen Mitteln: Die Vernehmung des Neonazis Benjamin Gärtners, der sich im NSU-Netzwerk bewegte und vom Verfassungsschutzmitarbeiter Temme als V-Mann geführt wurde, wurde auf Anweisung des damaligen Innenministers Volker Bouffier verhindert. Der Geheimdienstbeauftragte des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) in Hessen Herr Hess hatte den in Bedrängnis geratenen Andreas Temme geraten, „so nahe wie möglich an der Wahrheit“ zu bleiben. Auch von seinem Chef, Direktor des Landesamtes für Verfassungsschutz Hessen, Lutz Irrgang bekommt er deutliche Warnhinweise: „Es gehe um die ‚Kasseler Problematik‘ und in dieser Problematik ’sitzt du ja ein bisschen drin, ne?'“ 3
Es geht um viel mehr als um einen Verfassungsschutzmitarbeiter. Wie viele sind also in diese „Kasseler Problematik“ involviert? Und wenn Andreas Temme „ein bischen“ in der Sache drinhängt, stellt sich die Frage: Wer und wie viele stecken in dem großen Rest?
Ein Mord unter Aufsicht
Das Internetcafé ist am 6. April 2006 durchschnittlich besucht, als ein Mann das Geschäft gegen 17 Uhr betritt, an die Theke tritt, eine Pistole mit Schalldämpfer zieht und kurz darauf mit zwei Schüssen in den Kopf den Internetbesitzer Halit Yozgat schwer verletzt. Halit Yozgat stirbt noch am Tatort.
Die Mordkommission sichert kurze Zeit später den Tatort. Man hält die Personalien der noch anwesenden Internetbesucher fest, sichert die Spuren, die Internetbenutzerdaten.
Dem Aufruf der Polizei, sich als mögliche Zeugen des Mordes zu melden, folgen fünf Personen, die einen weiteren Besucher erwähnen. Die Polizei kann die Identität dieser Person feststellen: Es ist Andreas Temme mit dem dienstlichen Aliasname Alexander Thomsen, der sich im Internet als Jörg Schneeberg ausgegeben hatte. Daraufhin setzen interne und staatsanwaltschaftliche Ermittlungen ein. Dabei zeigt sich seine Erinnerung als äußerst flexibel oder anders gesagt: er änderte je nach (ihm zugänglich gemachten) Ermittlungsstand seine Aussagen: „Erst kannte er – in den Glauben, die Anwesenheit sei ihm nicht nachweisbar – das Café angeblich nicht, dann war er zu einem anderen Zeitpunkt, am 5.4.2006, dort und schließlich will er von den maßgeblichen Vorgängen nichts mitbekommen haben.“ 4
Nachdem er nicht mehr leugnen konnte, zur Tatzeit am Tatort gewesen zu sein, erinnerte er sich wieder ganz genau: er habe dort als Privatperson in einem Erotik-Portal gesurft. Und er erinnerte sich wieder an den Grund des Nicht-Erinnerns: Er wollte nicht als User eines Erotik-Portals entdeckt werden.
Mit diesen Aussagen macht sich die Mordkommission an die Arbeit. Sie bringt in Kenntnis, dass Andreas Temme neben behaupteter „Chat-Affäre“ zur selben Zeit im operativen Einsatz war. Auf seinem Handy werden Verkehrsdaten sichergestellt, die belegen, dass er sowohl vor als auch nach seinem Internetbesuch Telefonkontakt zu Neonazis hatte. Damit konfrontiert erklärt Andreas Temme, dass er V-Mann-Führer dieses Neonazis sei. Um aufzuklären, welche Rolle seine Anwesenheit am Tatort, die Telefonate mit einem Neonazi spielen, beantragt die Polizei u.a. eine Aussagegenehmigung für den vom VS-Mitarbeiter Temme geführten Neonazi. Diese Amtshilfe wird zuerst vom Chef des hessischen Verfassungsschutzes, wenig später vom hessischen Innenminister Volker Bouffier abgelehnt: „Ich bitte um Verständnis dafür, dass die geplanten Fragen … zu einer Erschwerung der Arbeit des Landesamtes für Verfassungsschutz führen würden. “ 5. Auch weigerte sich der Innenminister und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) in einer Innenausschusssitzung vom 17. Juli 2006, zum Stand der Ermittlungen Stellung zu nehmen.
In der Folge wurde die ermittelnde Polizei mit unvollständigen, also manipulierten Aktenbeständen versorgt. Die Akten zum Neonazi und V-Mann Benjamin Gärtner waren geschwärzt. Klarakten bekamen die Ermittler nie zu Gesicht.
Außerdem behauptete der hessische Verfassungsschutz allen Ernstes, dass es von V-Mann Führer Temme angefertigte Treffberichte mit Benjamin Gärtner gäbe, nur keine für das Jahr 2006. Und das, obwohl Andreas Temme selbst bestätigt hatte, dass er den Neonazi ein bis zwei Mal im Monat, also sehr regelmäßig und ergiebig getroffen habe, was dem V-Mann Benjamin Gärtner die Note „B“ einbrachte, die zweithöchste Bewertung für Quellenglaubwürdigkeit.
- Frankfurter Rundschau vom 24.11.2011
- Magazin Panorama vom 5. Juli 2012
- Die Welt vom 29.1.2014
- Beweisantrag der Nebenkläger vom 12.11.2013
- Brauner Terror – Blinder Staat – Die Spur des Nazi-Trios, ZDF-Sendung vom 26.6.2012
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Aufschlussreicher Artikel, genau das habe ich in meinem Buch vermutet, guckst du hier: Klaus J. Bade, Kritik und Gewalt, Sarrazin-Debatte, ‚Islamkritik‘ und Terror in der Einwanderungsgesellschaft, Wochenschau-Verlag Schwalbach/Ts.2013 (überarb. 3. Aufl. als E-Book 2014), S. 288-310.