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5 Thesen zu kulturweit

Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.

kulturweit ist ein Freiwilligendienst des Auswärtigen Amtes. Offiziell trägt sie zur Völkerverständigung bei. Tatsächlich werden aber die deutsche Sprache und Kultur verbreitet. Es geht also darum, dass sich die Welt auf deutsch verständigt. Von Genia Bless

Von Dienstag, 31.03.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 29.09.2020, 11:06 Uhr Lesedauer: 20 Minuten  |  

Spätestens seit 2008 der entwicklungspolitische Freiwilligendienstes weltwärts mit mehreren tausend Plätzen jährlich gestartet ist, gibt es in Deutschland eine größere kritische Debatte über den Sinn und Unsinn von internationalen Freiwilligendiensten: Junge, meist unausgebildete Deutsche reisen für ein Jahr lang in den Globalen Süden um in sogenannten Entwicklungsprojekten mit anzupacken. weltwärts wurde in den Medien, in der Wissenschaft und innerhalb der entwicklungspolitischen Szene selbst immer wieder scharf kritisiert: Als „Egotrip ins Elend“ oder als kolonial-rassistisches Programm. Als eine Person, die ich mich kritisch mit deutscher Außenpolitik befasse, überrascht mich in der Debatte die Ruhe um den kleinen Bruder kulturweit.

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Der „internationale kulturelle Freiwilligendienstkulturweit ist der Freiwilligendienst des Auswärtigen Amtes und wird von der Deutschen UNESCO Kommission durchgeführt. Jährlich reisen etwa 400 Freiwillige für 6-12 Monate in Länder des Globalen Südens sowie nach Osteuropa um in einer Institution der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, wie z.B. einem Goethe-Institut oder einer deutschen Schule mitzuarbeiten. kulturweit hat im Herbst 2014 seinen fünften Geburtstag gefeiert und bisher gab es ausschließlich positive Kritiken und Berichte. Es ist also durchaus an der Zeit, kulturweit einmal grundsätzlich infrage zu stellen.

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Aber warum ist das nötig? Wurde nicht in einer Evaluation herausgearbeitet, dass kulturweit „eine außerordentlich positive Resonanz von Seiten der Freiwilligen und der Einsatzstellen“ erhält? Gerade weil alle beteiligten Akteure – von den Freiwilligen hin zu den Einsatzstellen und Partnerorganisationen, von den Mitarbeitenden und Trainern bis hin zum Auswärtigen Amt und der Deutschen Unesco Kommission – direkt von dem Programm profitieren und sich alle selbst-referenziell aufeinander beziehen, ist ein kritischer externer Blick auf das Programm von hoher Bedeutung, um kulturweit und seine Wirkungen beurteilen zu können.

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Unterstützt wurde mein externer Blick durch zwei Interviews und ein Fokusgruppengespräch, die ich im Herbst 2014 mit fünf kritischen, ehemaligen kulturweit-Freiwilligen geführt habe, bei denen ich mich herzlich bedanken möchte. Über einen persönlichen Kontakt wurden mir schnell weitere Gesprächspartner empfohlen. Auf Wunsch sind ihre Namen geändert worden.

kulturweit ist ein imperiales Programm

Im neuen Imageclip wirbt kulturweit-Initiator und Außenminister Steinmeier mit folgenden Worten für das Programm: „Für viele Menschen, gerade junge Menschen, eröffnet sich zum ersten Mal ein Horizont, der auch bedeutet, dass sie sich ihre Zukunft nicht innerhalb der deutschen Grenzen, oder nicht alleine innerhalb der deutschen Grenzen vorstellen können, sondern ein Teil ihres beruflichen Lebens auch im Ausland verbringen.“

Verbunden mit seinem Wunsch auf der Fünfjahresfeier, kulturweit möge „nicht nur 5, oder 50, sondern 500 weitere Jahre“ bestehen, könnte man fast meinen, einen Christoph Columbus sprechen zu hören. Junge Europäer in die Welt zu versenden, um Sprache und Kultur zu exportieren, reiht sich in eine gewaltvolle koloniale Tradition ein. kulturweit als Programm innerhalb der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik hat aber nicht nur kein Bewusstsein für die Eroberungs- und Ausbeutungsgeschichte der letzten 500 Jahre, sondern nimmt auch heute einen aktiven Part darin ein, Kolonialismus und Unterdrückungsverhältnisse fortzuführen. Chris schildert das folgendermaßen:

„Ich habe in Buenos Aires ein Seminar zu Kolonialität besucht. Dort ging es oft um die europäische Herrschaftsstrategie, lokale Kulturen zu zerstören und europäische Wissens- und Bildungssysteme einzuführen. Plötzlich ging mir ein Licht auf und ich sah kulturweit und mich selbst in einem kolonialen Setting des 21. Jahrhunderts. Das war ein Schock, aber total wichtig für mich. Durch viele Gespräche und dekoloniale Bücher, bin ich mir nun sehr sicher, dass das, was wir machen, wirklich nichts anderes als moderner Kulturimperialismus ist. Die Freiwilligen sind die Missionare von heute.“

Und Eva-Maria erzählt:

„Ich hatte mich bei kulturweit beworben, weil ich der festen Überzeugung war, dass ich durch interkulturelle Begegnungen zu Frieden und Völkerverständigung beitragen kann. Als ich dann aber begriffen hatte, dass kulturweit ein rein deutsches Programm ist, vom deutschen Außenministerium gefördert, mit ausschließlich deutschen Partnerorganisationen und Freiwilligen, da merkte ich, wie naiv ich war und fragte mich: Wurde denn ein einziges Mal im Globalen Süden nachgefragt, ob die uns alle haben wollen? Ist es nicht krass, dass wir Deutschen das einfach so machen können, in andere Länder gehen, noch dazu v.a. ehemalige Kolonien, und dort unsere Sprache und Kultur verbreiten? Das wäre andersherum null denkbar. Daher gibt es wahrscheinlich auch kein incoming-Programm bei kulturweit.“

kulturweit heißt ‚deutsche Interessen zuerst‘

Ezra:

„Ein ‚internationaler kultureller Jugendfreiwilligendienst‚, das klingt doch erst mal so, als ob da niemand etwas dagegen haben könnte, es klingt gar harmlos. Wer ahnt denn da als Abiturientin, dass da deutsche Interessenpolitik dahintersteckt?“

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kulturweit ist ein einzigartiges Gebilde im Bereich der internationalen Freiwilligendienste. Es ist nicht nur ein quasi-staatliches Programm, sondern arbeitet fast ausschließlich mit deutschen Partnerorganisationen zusammen. Die auswärtige Bildungs- und Kulturpolitik ist im Inland kaum bekannt und so war es für meine Interviewpartner eine große Überraschung, wie weit verzweigt das Netz deutscher Schulen und Goethe-Institute weltweit ist. Das Auswärtige Amt wirbt mit dem Slogan ‚Kulturelle Angebote aus Deutschland schaffen weltweit Vertrauen in unser Land‘ und macht damit deutlich, dass die auswärtige Bildungs- und Kulturpolitik ebenso interessengeleitet ist wie Außenpolitik im Allgemeinen. Eva-Maria beschreibt auf welcher Absurdität der ganze Politikbereich beruht:

„Andere Sprachen und Kulturen zu verstehen, erscheint erst mal wie ein wichtiger Grundstein für das Zusammenleben in einer globalisierten Welt. Und so wird es auch dargestellt. Aber dass es darum geht, Deutsch als international wichtige Sprache durchzusetzen, sich Marktanteile zu sichern und international Definitionsmacht zu bekommen, das habe ich erst später begriffen. In Sprache und Kultur werden immer auch Werte und Normen mit vermittelt, es geht also nicht darum, dass wir uns mit der Welt verständigen können, sondern dass die Welt sich auf deutsch mit uns verständigen kann. Und da das offenbar nicht von alleine geschieht – und immer wieder gefährdet scheint – braucht es eben eine aktive Steuerung durch die Außenpolitik. Wir kulturweit-Freiwilligen sind darin nur ein kleines Rad im Getriebe.“

In Saras Schilderungen wird zudem auch klar, dass Goethe-Institute beispielsweise nicht nur die Rolle der Sprach- und Kulturvermittlung haben, sondern einen aktiven Part in der Steuerung bzw. Verhinderung von Migration einnehmen und damit angebliche nationale Interessen umsetzt:

„Es dauerte eine Weile bis ich verstanden hab, welche Rolle die Goethe-Institute für das deutsche Migrationsregime spielen. Nachdem ich aber mitbekommen habe, dass viele Menschen kein Visum bekommen, da sie zum Beispiel nicht genug formelle Bildung haben, um an unseren Kursen teilzunehmen oder sich nicht leisten konnten einen dreimonatigen Sprachkurs 800km von ihrem Wohnort zu besuchen, war ich echt frustriert. Meine Kollegen haben das teilweise einfach hingenommen und nicht verstanden, dass wir Lebensträume zerstören, wenn wir Menschen immer wieder durch die Deutschprüfung rasseln lassen und sie dann kein Visum beantragen können, um zum Beispiel zu ihren Ehepartnern nachzuziehen.“

Ein Großteil der kulturweit-Freiwilligen ist in deutschen oder deutschsprachigen Schulen im Ausland eingesetzt. Auch hier geht es darum Deutsch als global wettbewerbsfähige Sprache zu fördern. Was Pete jedoch in erster Linie überraschte, war, dass auf deutsche Staatskosten Elitenförderung in den jeweiligen Ländern umgesetzt wurde:

„Kolonialismus war schon immer auf die Zusammenarbeit mit lokalen Eliten angewiesen. In meiner Schule waren neben ein paar deutschen Diplomaten- und Managerkindern v.a. die Kinder der wirtschaftlichen und politischen Elite vertreten. Mein Direktor sagte immer, dass wir froh sein sollen, dass sie hier bei uns auf der Schule sind, denn davon würde unsere Wirtschaft später sehr profitieren. Nicht wenige der Absolventen würden später für deutsche Firmen arbeiten, zum Beispiel um lokale Märkte zu erschließen.“

Der neue Imageclip von kulturweit startet mit eine Einstellung, in der ein Freiwilliger seinen Schülern zeigt, wie sie Dinge machen sollen. Kurz darauf beschreibt er seine Tätigkeit: „Am Anfang ist es natürlich ziemlich ungewohnt, als Lehrer vor Gleichaltrigen zu stehen […]. Aber das gibt sich mit der Zeit […] und man geht auch ziemlich stolz aus der Schule wieder raus.“ Falls sie es nicht eh schon insgeheim im Kopf hatten, lernen die deutschen Freiwillige durch kulturweit ein gewisses Gefühl von Überlegenheit kennen. Und sie lernen dies zu akzeptieren und als Normalität wahrzunehmen.

Doch nicht nur als Lehrkraft haben die Freiwilligen viel Spielraum ihre verinnerlichte Überlegenheit noch weiter auszubauen. Auch in der Arbeit bei anderen Einsatzstellen wird immer wieder deutlich, dass Deutschland bzw. der Globale Norden besser, entwickelter und erstrebenswerter ist als das Gastland. Beim Deutschen Akademischen Austausch Dienst (DAAD) ist Eva-Maria zufolge das Werben für Deutschland als Arbeits- und Wissenschaftsstandort Nummer 1 eines der wichtigsten Arbeitsbereiche:

„Beim DAAD bekam ich mit, wie die Stipendien für ein Studium in Deutschland vergeben werden. Es ist ein Ringen um die besten Köpfe, ein Wettbewerb um die wenigen hochqualifizierten Fachkräfte und Wissenschaftler. Ich hatte schon länger mal von Braindrain gehört, aber nun weiß ich, wie er funktioniert und v.a. dass er politisch gewollt und praktisch vorangetrieben wird. Das einzige, was unterm Strich zählt, ist die deutsche Volkswirtschaft. kulturweit-Freiwillige spielen eine verhältnismäßig kleine Rolle in dem ganzen System, aber sie stützen es mit. Ich hab mich zeitweise richtig schuldig gefühlt.“

Beim Deutschen Archäologischen Institut (DAI) sind die Freiwilligen meist nicht direkt bei den Ausgrabungen eingesetzt, sondern in koordinierenden Büros. Auch dort ist der Alltag einerseits geprägt von diskriminierenden Haltungen sowie Überlegenheitsgefühlen andererseits. Pete:

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„Eine Freundin von mir war beim DAI Freiwillige, und was die erzählte in puncto Hochnäsigkeit und abwertenden Äußerungen der Kollegen über die Kulturen der Ausgrabungsländer, da schlackerten mir echt die Ohren. Dem Grundverständnis, dass die ausgegrabenen Kulturgüter am besten in unseren Museen aufgehoben sind, wurde nicht widersprochen. Stattdessen wurde kräftig geschimpft, wenn ein Land die deutschen Archäologen mal nicht buddeln ließ. Das ganze Thema koloniale Beutekunst war ein großes Tabu.“

kulturweit ist und macht unpolitisch

Internationale Freiwilligendienste werden ähnlich wie Entwicklungszusammenarbeit immer häufiger als ‚Anti-Politik-Maschine‘ 1 diskutiert. Die junge Generation bekommt die Möglichkeit, sich mit drängenden globalen Zukunftsfragen zu beschäftigen, ohne aber politisch aktiv zu werden und Verhältnisse grundlegend verändern zu wollen. Dabei werden die Inhalte entschärft, entradikalisiert und so gewandelt, dass sie die bestehenden Verhältnisse nicht gefährden. Die Tatsache, dass kulturweit ein staatliches Programm ist, ist für diesen Prozess sicherlich kein Zufall. Dreierlei Strategien, die Jugend mit ihrem Wunsch nach Engagement abzuholen, zu besänftigen, und für herrschende Interessen zu nutzen, lassen sich bei kulturweit beobachten:

Erstens durch das Narrativ der Entwicklungszusammenarbeit (EZ), das schon dadurch eine Rolle spielt, dass kulturweit-Freiwillige nur in sogenannte Entwicklungsländer (und Osteuropa) ausreisen dürfen. Im Gegensatz zu weltwärts ist der Entwicklungsgedanke jedoch deutlich versteckter, aber doch immer wieder sichtbar. kulturweit möchte einen Beitrag für globale Gerechtigkeit leisten und das kommt offenbar auch bei den Freiwilligen so an, wie Ezra berichtet:

„Mein Gefühl war, dass sich viele Freiwillige in ihrer Rolle sehr gefallen. Sie verstehen sich als Teil einer globalen Bewegung gegen Armut und Ungerechtigkeit, sind also Teil der ‚Guten‘. Was sie jedoch nicht in den Fokus rücken, ist, dass sie gleichzeitig ihre eigenen Handlungsspielräume und Privilegien kontinuierlich ausbauen können und dadurch bestehende Ungerechtigkeit befördern.“

Sara ergänzt:

„Ich stand EZ eher kritisch gegenüber und bin daher bei kulturweit gelandet, da ich das nicht mit Entwicklungsarbeit in Verbindung gebracht hatte. Aber schon am ersten Tag des Seminars rief uns der Generalsekretär der Deutschen UNESCO Kommission Bernecker zu: ‚Ihr könnt die Welt verändern, Ihr könnt die Welt sogar verbessern‘. Das stieß mir sofort auf. Später erfuhr ich dann, dass das gesamte kulturweit-Budget zwar vom Auswärtigen Amt kommt, aber als Entwicklungshilfe abgerechnet wird.“

Zweitens spielt die Nachhaltigkeitsidee eine herausragende Rolle im Selbstverständnis von kulturweit. Dabei ist es kein Zufall, dass ausgerechnet ein so schwammiges und ausgehöhltes Konzept propagiert wird. Anstatt sich auf politischere Herangehensweisen, z.B. Kapitalismuskritik, zu fokussieren, beteiligt sich kulturweit, so Eva-Maria, sogar aktiv an der Verwässerung des ursprünglich einmal widerständigen Konzept von Nachhaltigkeit:

„Ich habe gehört, dass kulturweit auf Seminaren nun nur noch vegetarisches Essen bestellt, wegen der Ökobilanz. Einerseits ist das längst überfällig gewesen. Andererseits ist es der blanke Hohn, dass kulturweit sich als nachhaltiges Projekt darstellt. Alleine schon wegen des CO2-Ausstoßes durch die Flüge der Freiwilligen und ihrer Besucher sowie der Trainer, die für ein paar Tage Zwischenseminar um die halbe Welt fliegen, sollte kulturweit abgeschafft werden. Aber stattdessen tragen sie noch das Nachhaltigkeitssiegel der Deutschen Unesco Kommission. Schon komisch, dass kulturweit von der eigenen Trägerorganisation eine Auszeichnung für Nachhaltigkeit bekommt, während die umweltzerstörerischen Fakten doch mehr als auf der Hand liegen. Von den sozialen Folgen von kulturweit ganz zu schweigen.“

Die dritte Strategie ist etwas komplexer und zeigt, dass kulturweit zumindest in Teilen den aktuellen Debatten folgt. Alle Interviewpartner berichteten, dass mit dem Kulturbegriff sehr vorsichtig umgegangen wird. Stattdessen haben Ansätze einer rassismuskritischen Bildung Einzug in die Seminararbeit erhalten. Sara:

„Was ich zur Verteidigung von kulturweit sagen muss ist, dass es ihnen wirklich wichtig war, uns Freiwillige dafür zu sensibilisieren, wie wir mit unseren Blogs Stereotype reproduzieren. Da hatten sie tolle Trainer, denen das wirklich ein Anliegen war, das ist bei uns auch angekommen.“

Pete:

„Das stimmt schon. Aber ist es nicht absurd, uns Freiwillige rassismuskritisch zu bilden und selbst aber ein absolut koloniales Programm zu organisieren? Ich fand das ursprünglich sehr gut, aber im Nachhinein sehe ich, dass diese ganzen ‚fair-berichten‘- Workshops ein großes Alibi sind, für kulturweit weiter so zu machen wie bisher, und für uns Freiwillige trotzdem unbesorgt ausreisen zu können, da wir uns ja mit Rassismus auseinandergesetzt haben.“

Die Sozialwissenschaftlerin Kristina Kontzi 2 beschreibt, Isabel Lorey folgend, diese Alibi-Strategie bei weltwärts als eine Art Medizin, ein phármakon, dass das eigentliche Programm gegen Kritik immunisiert. Bei kulturweit passiert das in offenbar ähnlicher Form durch die Setzung der Seminarinhalte. Darüber hinaus legitimieren die ‚fair-berichten‘-Workshops, die Existenz eines Netzwerkes „von über 500 ‚kulturweit‘-Blogs aus der ganzen Welt, deren Seiten bis zu 80.000 Mal im Monat aufgerufen werden.“ Statt Menschen aus dem Globalen Süden selbst zu Wort kommen lassen, bleibt die koloniale Struktur des FÜR sie zu sprechen erhalten und wird millionenfach konsumiert.

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Die Freiwilligen berichten – optimalerweise, die Realität sieht leider deutlich anders aus – nun zwar ‚fair‘, aber die Ungleichverhältnisse bleiben durchaus erhalten: Menschen aus dem Globalen Norden machen sich zum Zentrum der Geschichte(n) und berichten aus ihrer Perspektive über Menschen und Gesellschaften, die sie vormals kolonisiert haben. kulturweit gelingt es also, aktuelle, z.B. postkoloniale Kritiken wie die des Berliner Vereins glokal e.V. und seiner Broschüre „Mit kolonialen Grüßen…„, aufzunehmen und den Freiwilligen ein Gefühl zu vermitteln, sich mit grundlegender Kritik auseinander zu setzen und sie aber gleichzeitig in koloniale Settings zu entsenden. Die Widersprüche werden aufgelöst und geschmeidig gemacht. Widerständige Perspektiven werden dabei inkorporiert und entpolitisiert, eine nicht unbekannte Herrschaftsstrategie.

kulturweit ist Elitenförderung

Die Vor- und Nachbereitungsseminare von kulturweit finden seit der Gründung 2009 in der ehemaligen Pionierrepublik Wilhelm Pieck am Werbellinsee statt. Eva-Maria erzählt:

„Es ist schon merkwürdig. Da stehen 250 Freiwillige auf dem Appellplatz der Pionierrepublik und führen Rituale wie Mazunga durch. Die heutige Elite versammelt sich an demselben Ort, den die Nazis geplant haben und an dem die sozialistische Elite gedrillt wurde. Und genau wie damals, merkt kaum einer, wie sehr wir gebrainwasht werden. Auch wenn heute vielleicht mehr Fokus auf Individualität gelegt wird, ist das ‚wir-Gefühl‘ wichtiger als die Tatsache, dass wir auf Linie gebracht werden.“

Internationale Freiwilligendienste sind in Deutschland schon immer eine Sache für das sogenannte Bildungsbürgertum gewesen. Da es in Post-Pisastudie-Zeiten aber politisch kaum tragbar wäre millionenschwere Programme zur Elitenförderung aufzulegen, läuft kulturweit unter dem Deckmantel der Gemeinnützigkeit. Tatsächlich hat das Programm jedoch von Anfang an Diskriminierung in Bezug auf Klasse und Bildungsabschluss nicht nur hingenommen, sondern durch die Programmgestaltung und den Auswahlprozess vorangetrieben. Die Interviewpartner berichten, dass in ihren Ausreisejahrgängen jeweils 95-100 Prozent der Freiwilligen Abitur hatten oder sich im Studium befanden. Darüber hinaus bestätigten sie, dass eine überdurchschnittlich hohe Zahl der Freiwilligen aus der oberen Mittelschicht und Oberschicht kommt, wie Ezra spezifierte:

„Als ich auf dem Vorbereitungsseminar angekommen bin, wurden wir alphabetisch nach Nachnamen auf Häuser verteilt. Mein Nachname beginnt mit Z und so fand ich mich in einem Zimmer mit drei jungen Frauen, die alle ein „von…“ in ihrem Namen hatten in einem Zimmer einquartiert. Da schluckte ich schon erst mal und dachte, krass, wo bin ich denn hier gelandet, in einem deutschen Adelsclub?“

Pete hingegen betonte an mehreren Stellen den starken Klassismus, auf den er bei kulturweit gestoßen ist. Ihm war wichtig zu benennen, dass dies nicht nur von anderen Freiwilligen, sondern v.a. durch kulturweit selbst und die Trainer vorangetrieben wurde. Ein Beispiel:

„Auf jedem Seminar findet ein sogenannter Kulturabend statt. Da dürfen Teilnehmende Musik, Theater etc. performen. Das ist ein wahnsinniges Showing-Off der Talente. Einerseits ist es stark zu sehen, was die Leute alles können. Aber für mich, der nicht schon 15 Jahre Geigenunterricht hinter mir hatte, war der Abend auch ein bitterer Stich. Zu sehen, wie viel Förderung, Geld und Energie schon in diese ganzen Oberschichtskinder geflossen ist, ist echt frustig. Noch dazu vor dem Hintergrund, dass sie nun noch einmal ein Jahr lang voll gefördert auf Staatskosten noch mehr Kompetenzen erwerben können. Mit sozialer Gerechtigkeit hat so etwas wirklich überhaupt nichts zu tun, außer dass es sie weiter untergräbt.“

Darüber hinaus bemerkten die Interviewpartner, dass im Kontrast zur gesellschaftlichen Realität in Deutschland Freiwillige mit Migrationsgeschichte sehr unterrepräsentiert sind bei kulturweit. Chris problematisiert das und fragt, welchen Einfluss das auf die Wirkung des Freiwilligendienstes hat:

„Ein wichtiges Ziel von kulturweit ist die ‚Vermittlung eines aktuellen und differenzierten Deutschlandbildes‚. Wir leben heute in einer Migrationsgesellschaft, wie kann kulturweit denn ein differenziertes Deutschlandbild vermitteln, wenn im wesentlichen weiße Deutsche Freiwillige entsendet werden? Wir leben doch in unserer Blase und bekommen doch gar nicht mit, was in Deutschland überhaupt passiert. Wie wollen wir denn dann diesen Anspruch umsetzen? Von kulturweit aus, wird das glaube ich nicht als Problem gesehen, sonst würden sie das ja bei der Auswahl und Werbung berücksichtigen.“

Ezra beleuchtet noch einen anderen wichtigen Aspekt:

„In unserem Jahrgang waren wir, glaube ich, zwei Teilnehmende mit Migrationsgeschichte. Während es für die weißen Deutschen eine Vielzahl von Angeboten gab, sich mit ihrem Rassismus und ihrer Positionierung auseinander zu setzen, fehlte das für uns, unsere Bedürfnisse und unsere Fragen komplett. Wir sind einfach durch das Raster durchgerutscht und es wurde so getan, als wären wir nicht da. Im Gegenteil, das ganze ging sogar noch auf unsere Kosten, indem wir immer wieder die Rolle der Fremden einnehmen mussten. Ich hatte nicht nur auf Seminaren immer wieder das Gefühl, das Programm ist nicht für mich gemacht. Das ging bis dahin, dass in meinem Goethe Institut mein Deutschsein von den anderen Mitarbeitern immer wieder infrage gestellt worden ist. Und das in einem Programm wie kulturweit, das hat mich sehr wütend gemacht.“

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Indem fast ausschließlich mit gesellschaftlich bevorteilten Menschen gearbeitet wird, trägt kulturweit nicht nur weltweit sondern auch innerhalb von Deutschland zur Aufrechterhaltung von sozialer Ungleichheit bei. Shultz fordert, dass der Fokus auf das „empowerte Individuum“ aufhören muss, um sich überhaupt auf den Weg zur sozialen Gerechtigkeit machen zu können.

Während die Seminarebene und der Freiwilligendienst die eine Seite der Medaille sind, ist die Zeit danach mindestens ebenso wichtig. Denn dass kulturweit zum Lebenslauftuning beiträgt und inzwischen ein zentrales Nachwuchsförderprogramm für die auswärtige Kultur- und Bildungspolitik ist, ist nicht zu übersehen. Die kulturweit-Verbleibstudie von 2014 beginnt stolz mit dem Zitat eines Alumni: „‚kulturweit‘ hat mir Siebenmeilen-Stiefel gegeben“ und betont ungeniert Erfolgsgeschichten wie diese: „Ich bin nach meinem Freiwilligendienst in Uganda geblieben (und bin auch immer noch hier!), weil mir hier ein Job angeboten worden ist. Durch den Freiwilligendienst hatte ich nicht nur notwendige Landes- und Kulturkenntnisse, sondern auch erste Arbeitserfahrungen im Bereich Biodiversitätsmanagement, Nationalparkmanagement, Education for Sustainable Development und traditioneller ugandischer Kulturen, da ich bei der NatCom an Projekten in all diesen Bereichen beteiligt gewesen bin.“ 3 Ob direkte Jobvermittlung oder nicht, in der Verbleibstudie beschreiben viele Alumni, wie sehr ihnen der Freiwilligendienst Selbstbewusstsein gegeben hat und sie für Studium und Arbeitswelt gestärkt hat. Dass dies nicht ganz selbstlos geschieht, argumentiert Chris:

kulturweit ist für mich eindeutig ein neoliberales Projekt und passt wunderbar zur aktuellen Politik. Die ganze Bildung und Kompetenzvermittlung, um die es die ganze Zeit geht, hat vor allem den Zweck, die Freiwilligen fit für den Markt zu machen, Nachwuchskräfte heranzuziehen, die flexibel sind, selbst denken können, aber loyal und nicht zu kritisch sind.“

Die Nachwuchsförderung hört jedoch nicht mit dem Freiwilligendienst auf, sondern umfasst ausführliche Angebote der Netzwerk- und Alumniarbeit. Wie wichtig kulturweit die Bindung der Alumni ist, drückt sich nicht nur finanziell aus. Anfang des Jahres wurde der Alumniverein ‚kulturweiter‚ mit einer Gründungsfeier im Weltsaal des Auswärtigen Amtes unter Anwesenheit von Staatsministerin Böhmer gegründet.

Ausblick

kulturweit ist ein Politikum und muss endlich kontrovers diskutiert werden. Für diesen Moment überlasse ich den Ausblick meinen Interviewpartnern:

Pete:

„Wenn ich nun Bilanz ziehen müsste, dann sehe ich wie sehr ich durch kulturweit geprägt worden bin, allerdings vor allem durch meine Abgrenzung und kritische Betrachtung dazu. Solch einen Prozess würde ich natürlich allen jungen Menschen wünschen – auch wenn nur ein Bruchteil der kulturweit-Freiwilligen die Chance dafür nutzt, ein kritisch denkender Mensch zu werden. Wie auch immer, um kritisches Denken zu lernen, muss man jedoch nicht auf die andere Seite der Welt jetten. Das Geld von kulturweit wäre in politischer Bildungsarbeit in Deutschland sicher besser angelegt.“

Sara:

„Das kann ich auch unterschreiben. Ich bin sehr dankbar, dass ich durch kulturweit auf meinen eigenen Rassismus aufmerksam gemacht worden bin. Aber das ist ja nicht Ziel des Programms, sondern eigentlich ein Nebenprodukt. Den Rest fand ich schwierig bis total problematisch.“

Chris:

kulturweit ist für mich ein rassistisches und klassistisches Programm. Ich empfinde es wie eine große Heuchelei von Frieden, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit zu sprechen und gleichzeitig ein Programm auf die Beine zu stellen, das die eigenen Ziele torpediert. Ich würde allen, die sich überlegen, einen kulturweit Freiwilligendienst zu machen, dringend davon abraten.“

Eva-Maria:

kulturweit bekommt seit Jahren das quifd-Siegel für ‚Qualität in Freiwilligendiensten‘. Meines Erachtens sollten für die Vergabe ganz andere Kriterien zählen, z.B. inwiefern Ungleichverhältnisse stabilisiert werden. Auch sollten Gutachter mitarbeiten, die Freiwilligendiensten gegenüber skeptisch eingestellt sind, um auch die negativen Seiten und Nebenwirkungen mit zu evaluieren. Je nachdem, welche Empfehlungen dann gegeben werden, sollte kulturweit sich verändern oder gar überlegen sich abzuschaffen. Letzteres wäre zumindest meine Empfehlung.“

Ezra:

„Audre Lorde sagt, ‚The Master’s tool will never dismantle the Master’s house.‘ kulturweit ist durchweg kolonial und trägt kein Stück zu mehr Gerechtigkeit bei, das hätte ich eher erkennen müssen.“

  1. Ursprüngliche These von James Ferguson (1994): The Anti-politics Machine: Development, Depolitication and Bureaucratic Power in Lesotho. University of Minnesota Press.
  2. Kontzi (2015)
  3. ibid S.13
Leitartikel Politik
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  1. Trainer sagt:

    Danke, Migazin & Frau Bless für dieses Werk und den Anstoß zur Debatte. Der Text ist wichtig und muss zur Pflichtlektüre aller Seminare von kulturweit werden. Vielleicht überlegen sich die Freiwilligen doch nochmal was sie da tun werden.

  2. Nico sagt:

    Hallo,
    ich finde es höchst problematisch einerseits eine „differenzierte Sicht“ vertreten zu wollen – oder zu kritisieren, dass diese genau nicht der Fall ist – und andererseits in einem höchst plakativen Artikel sozusagen eine „Gerneralabrechnung“ mit dem Projekt darzulegen.

    Dennoch finde ich den Einblick über die Interviewpartner sehr postiv und es hat mich definitv ermuntert über neue/kritische Aspekte des Programms nachzudenken.
    Jetzt bleibt nur noch die Frage offen ob es ein genereller Misstand ist oder lediglich Einzelprobleme, die zweifelsohne einer Verbesserung bedürfen. Jedoch m.E. nicht zu einer grundsätzlichen ablehnung des Konzeptes führen sollten. Ich denke es ist höchst wichtig, solche Projekte aufrecht zu erhalten um kritischen Stimmen wie im Artikel genannt überhaupt zu ermöglichen.

    Danke & Lg

  3. Ehemalige Kulturweitlerin sagt:

    Ich werde diesen Artikel weiterleiten an:

    -die Kulturweit-Trainer, die mit den Freiwilligen auf dem Vorbereitungs-/Zwischen- und Abschlussseminar ungefähr 80 Mal darüber gesprochen haben, uns selbst in unserer Rolle zu reflektieren und Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus ca. 1000 Mal.angesprochen haben, um genau die „Wir kommen und helfen euch aus eurer Rückständigkeit“ -Haltung im Keim zu ersticken, -das haben die 5 Freiwilligen im Artikel offenbar nicht mitbekommen, weil sie die Veranstaltungen ja nicht mehr besucht haben-

    -an den Trainer des Zwischenseminars, der in Serbien wohnt, weswegen das Seminar genau dorthin gelegt wurde, um lange Reisen und CO2-Ausstoß zu
    vermeiden,

    -an die Freiwilligen, die drei Tage im Zug saßen, um.dem Flugzeug aus dem Weg zu gehen und CO2-Ausstoß zu vermeiden,

    -an meine Einsatzstelle, eine Schule, an der Deutsch unterrichtet wurde -nicht von deutschen Imperialisten, sondern von einheimischen Deutschlehrern- an der die gemeinsame Arbeit von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war und an der ich viele Freundschaften geschlossen habe, die bis heute halten und zu gegenseitigen Besuchen geführt haben,

    -an die Schüler, die wissen, dass Deutschland wirtschaftlich gut dasteht ind deswegen gerne hier studieren würden (nicht etwa, weil ich als Kolonialistin dorthin kam und sie davon überzeugte- ich denke, diese vom Artikel unterstellte Vorstellung spricht ihnen ihre Mündigkeit ab- ziemlich abwertende Haltung meiner meinung nach)

    -an den Kulturweit-Verein und die Kulturweit-Leitung, die schon lange ein Konzept entwickeln, mit dem Interessierte aus den Einsatzländern auch nach Deutschland kommen können,

    Und warte ab, was diese dazu sagen. Ich habe ehrlich gesagt noch nie einen so schlecht recherchierten (die EJB hat nichts, aber gar nichts mt den Nazis zu tun) und offen von politischen Einstellungen geleiteten Artikel gelesen. Mir war zwar bewusst, dass man bei Kulturweit auf die linksten Linken treffen kann, aber sich genau diese 5 rauszupicken, war sicherlich eine Herausforderung für die Autorin. Chapeau!

    PS: die Nachricht habe ich gerade erhalten, noch bevor der Komentar hier abgeschlossen war…Meine einheimische Kollegin hat sich bei dem Wort „Supremaracism“ gerade fast totgelacht.

  4. Fragender sagt:

    Zitat: „Jährlich reisen etwa 400 Freiwillige für 6-12 Monate in Länder des Globalen Südens sowie nach Osteuropa“

    Ich bin kein Insider zum Thema. Und an Institutionen gibt es ja meistens etwas zu kritisieren. Aber dass anhand von 400 Kids, die pro Jahr in andere Länder reisen, mal wieder die Zwangsgermanisierung der Welt abgeleitet wird, ist doch abstrus…

  5. Freiwilligendienst kulturweit sagt:

    Liebe Genia Bless,
    liebe Migazin-Redaktion,

    in den letzten Tagen haben wir mit großem Interesse Ihren Beitrag zu kulturweit und die anschließende Diskussion verfolgt. Als Organisation, die sich in den mittlerweile sechs Jahren ihres Bestehens stets gewandelt hat, waren wir schon immer an Kritik interessiert. Sie hilft uns, gemeinsam mit unserer eigenen Evaluation, das Programm weiter zu
    entwickeln und zu verbessern.

    Wir verstehen das Angebot von kulturweit vor allem als Eines: als Lerndienst. Wir wollen Menschen die Möglichkeit geben, für sie neue Situationen kennenzulernen, ihre Rolle und ihr Handeln darin zu hinterfragen. Diesen Anspruch haben wir nicht nur an andere, sondern auch an uns selbst.

    Wir freuen uns auf einen direkten Austausch. Treten Sie mit uns in Dialog,

    Ihr kulturweit-Team der Deutschen UNESCO-Kommission
    Kontakt: presse@kulturweit.de

  6. Ka sagt:

    MIr ging es bei kulturweit ähnlich wie den Interviewpartnern. Danke für den Artikel!

  7. Pingback: Scham und Wut – „Fair-Berichten“ | »kulturweit« Blog

  8. AL sagt:

    Dieser Artikel stößt auf jeden eine wichtige Debatte an. Ich – ebenfalls kulturweit Almuna – gehe nicht bei allen Punkten mit, finde jedoch eine kritische Auseinandersetzung mit kulturweit unumgänglich. Daher ist es, meiner Meinung nach, nun wieder Zeit für einen aktuellen Artikel! Ich stimme „TD“ in ihrem oder seinem Bericht zu, dass ein Interview mit kulturweit fehlt. Das sollten wir nachholen! Wer ist dabei? (fahneimwind@posteo.de)

  9. Jana sagt:

    Sehr wichtiger Artikel! Danke dafür.

  10. Tobias Predel sagt:

    Liebe Frau Bless,

    vielen Dank für Ihren kritischen Artikel über das Programm kulturweit. Als ehemaliger „kulturweitler“ (2019) und nach ausreichender Reflektionszeit möchte ich gerne auch meine Sichtweise in die Debatte um Sinn und Unsinn eines deutschen Freiwilligendienstes im Ausland an Hand eigener Erfahrungen mit einbringen. Gerne möchte ich mich dabei auf einzelne Abschnitte Ihres Artikels beziehen.
    Um eines vorab klarzustellen: Der Freiwilligendienst war für mich eine Erfahrung, die wirklich lebenslang seinen Eindruck bei mir hinterlassen hat. Das lag aber nicht an der „Fülle der Erlebnisse“, sondern an der grundlegenden Erfahrung, in einem anderen Land an einer Schule unterstützen bzw. leben zu können und diese Erfahrungen mit den anderen Freiwilligen zu teilen. Außerdem erleichtert es – wie im Video von Herrn Steinmeier angeklingen – einem tatsächlich später im Berufsleben, im Ausland zu arbeiten, da man die „ganze Prozedur“ des Wohnsitzwechsels und der Behördengänge schon einmal hinter sich gebracht hat.
    Ich werde von einer Bewertung des Freiwilligenprogramms im Sinne von absoluten Kategorien und Schlagwörtern wie „Neoliberalismus“ und „Kolonialismus“ Abstand nehmen, da dies sehr abstrakte Begrifflichkeiten sind und ein Schwarz-Weiß-Denken widerspiegeln. Es gibt aber sehr viele Grautöne, daher sind meiner Meinung nach die Details viel wichtiger, die aufgefallen sind. Die Welt ist nicht so einfach, wie manche sie sich denken. Nun möchte ich aber auf Ihren Artikel eingehen:
    Im dritten Abschnitt Ihres Artikels sprechen sie davon, dass sich die Akteure selbst-referentiell aufeinander beziehen und quasi in einer Blase das Programm anpreisen. An dieser Stelle möchte ich mir die kritische Bemerkung erlauben, dass die Trainerinnen und Trainer zumindestens bei der Ausreise 2019 zum Großteil Selbstständige sind und letztendlich auch ihr Geld damit verdienen, als Trainer zur Verfügung zu stehen und Folgeaufträge zu erhalten. Es ist also tatsächlich nicht zu erwarten, dass ein Großteil der engagierten Trainerinnen und Trainer oder auch des Leitungsteams sich öffentlich kritisch zu dem Programm äußern werden, da sie dann auch kein Folgeauftrag bzw. öffentliche Mittel erhalten werden. Wer sägt schon gerne auf dem Ast, auf dem er sitzt? Allgemein gesprochen werden Personen, die dem Programm kritisch gegenüberstehen, wohl wenig Anreiz haben, sich als Trainer zu bewerben und die kulturweit-Organisation wiederum auch keinen großen Anreiz verspüren, sich kritische Personen ins Boot zu holen, wenn es bei den Seminaren darum geht, die jungen kulturweitler zu begeistern (was auch wichtig ist, denn nicht alles wird dann so toll sein im Dienst im Ausland). Das lässt sich aber wahrscheinlich in jeder Organisation beobachten, dass ihr unangenehme Personen einfach zugelassen werden.
    Gleichwohl sehe ich durchaus den Raum innerhalb von kulturweit, bei der kritische Debatten stattfinden können. Es wird Sie, Frau Bless, vielleicht freuen, dass gerade auch Ihr Text bei unserem Vorbereitungsseminar diskutiert wurde. Man nimmt also die Kritik von außen durchaus ernst und sensibilisiert die kulturweitler. In unserer Homezone haben wir auch über Ihren Text diskutiert, allerdings ist es zugegebenermaßen etwas schwierig, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen, bevor es dann tatsächlich zum Einsatz in das Ausland ging. Erst danach wäre man qualifziert genug, um auch eine Bewertung vornehmen zu können.
    Ich möchte auch hinzufügen, dass dieser Debatte auch Raum gegeben werden soll. Ich persönlich hätte mir aber eine andere Art der Priorisierung der Inhalte auf dem Vorbereitungsseminar gewünscht. Wer im Ausland Bildungsarbeit verrichtet, sollte zumindestens eine grundlegende pädagogische Vorbereitung erhalten. Wie gehe ich mit Konflikten im Klassenzimmer um? Wie gehe ich damit um, wenn eine Klasse keine Lust auf den bzw. meinen Unterricht hat? Wie gehe ich mit Konflikten mit meinem Mentor vor Ort um? Hier wären mir ein paar praktisch-konkrete Handreichungen viel lieber gewesen (die über ein paar Power-Point-Slides und Spiele hinausgehen), als abstrakt-theoretische Sachverhalte auf High-Level-Debatte zu debattieren. Denn ja, Krisen wird man auch durchleben – gerade, weil man vielleicht zum ersten Mal im Ausland auf sich alleine gestellt ist und sich im Freiwilligendienst nicht alle Wünsche erfüllen, die man vorab hineinprojiziert („Abenteuer des Lebens“, „ich komme als anderer Mensch zurück“, „ich begeistere stets und bin es selbst“ vs. „Arbeitsalltag“) durchlebt man ein relativ heftiges Wechselbad der Gefühle.
    Was ich allerdings neben der Problematik knapper Mittel aus dem Bundeshaushalt für das Programm (keine Haushaltsstellen für Trainer, fixe 300€ pro Monat für den Freiwilligen) wirklich befremdlich fand, war die Möglichkeit, die Homezone (also die Gruppe mit Freiwilligen inkl. Trainer) zu bewerten, wobei es auch darum ging, den Trainer oder die Trainerin zu bewerten. Die Trainer sind ein Stück weit älter und ich finde es nicht in Ordnung, dass junge Menschen (die meisten Abiturienten) quasi den Daumen über die Trainer (mit) heben oder senken können, wenn die Trainer ggf. finanziell von diesen Tätigkeiten abhängig sind. Hier lässt sich sicherlich ein würdevolleres Vorgehen finden, wenn das nicht bereits geändert wurde.
    Im sechsten Abschnitt zitieren Sie eine Aussage, dass kulturweit 500 weitere Jahre bestehen soll. Ich habe dieses Zitat während meiner Zeit als kulturweitler in dieser oder angewandelter Form nirgends gehört und aus dem Kontext herausgerissen kann ich dazu auch kein Kommentar abgeben. Ich kann aber versichern und ich hoffe, damit spreche ich stellvertretend für den Großteil der Kulturweitler, dass wir nicht „versendet“ werden, „um Sprache und Kultur“ zu „exportieren“. Die Freiwilligendienste beschränken sich auf Assistenztätigkeiten (sei es im Büro oder an einer Schule). Die Natur der Tätigkeiten in den Einsatzstellen ermöglicht erst gar nicht, dass im großen Stil beeinflusst werden kann. Sicherlich können einzelne Schülerinnen und Schüler für die deutsche Sprache und Kultur mehr begeistert werden, wenn ein deutsches „Exponat“ vor ihnen steht und einen direkten Eindruck von Deutschland vermittelt. Aber muss es denn gleich in Ihrem Artikel moralisiert werden, wenn ich mit einer Gruppe von Schülern eine angenehme Zeit habe und ich etwas dabei lerne und die Schüler auch? Ist das gleich alles erzwungen? Seien Sie versichert, es gibt auch andere Schülerinnen und Schüler, die nicht unmittelbar begeistert vom Deutschunterricht sind und daran wird auch ein kulturweitler nichts ändern. Man denke da nur an unsere komplexe Grammatik – ich weise nur auf den gefürchteten deutschen Artikel hin!
    Außerdem geht der Austausch immer in beide Richtungen: Als kulturweitler interessiere ich mich auch für das Land und die Leute vor Ort, sonst würde ich ja nicht die ganzen Herausforderungen und den Bewerbungsprozess auf mich nehmen, um dorthin zu gelangen. Ich „importiere“ mindestens genau so viel, wie ich „aus Deutschland exportiere“, alleine weil ich vor Ort lebe und lerne.
    Ich gebe aber offen zu, dass ich mit dem Mindset „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ tatsächlich in das Ausland gegangen bin. Ich war überzeugt davon, dass wir in Deutschland mit relativ hohem Wohlstand leben, wo vieles gut funktioniert. Als ich in meinem Gastgeberland dann angekommen bin, viel es mir anfänglich sehr leicht, mich als Deutscher in dieser selbst gewählten Zuschreibung zu gefallen, da vor Ort vieles nicht so „effizient“ lief, wie ich es gewohnt war. Im Laufe meines Auslandaufenthalts konnte ich aber lernen, dass es dort einfach anders ist als in Deutschland und es dort dafür Dinge gab, die es bei uns nicht gibt. Wo sitzen beispielsweise Lehrer schon mit den Putzleuten während der Pausen zusammen? Das wäre mit dem in Deutschland ausgeprägten Klassenbewusstsein ja kaum möglich. Kann ich den Busfahrer einfach mal anrufen, ob er auch bei mir kurz hält? Mit deutscher Prinzipientreue wohl auch eher weniger möglich. Unsere Art, in der deutschen Gesellschaft zu leben, bringt gewisse Vor- wie aber auch Nachteile mit sich. Es vereinfacht gewisse Dinge, andere erschwert sie hingegen. In anderen Ländern verhält sich das ebenso, nur sind die Verhaltensweisen und die Vor- und Nachteile damit auch einfach anders. Ich will hierbei das Andersartige auch nicht romantisieren. Was ich aber mit Bedauern feststellen musste: Es gibt keine Gesellschaft auf dieser Erde, die das Beste aller Welten bzw. Kulturen und Nationen vereint ­ zumal das „Beste“ ja auch Definitionssache ist. Man lernt zwischen Kulturen nie aus.
    Noch eine Anmerkung zu dieser Thematik: Deutsche Hochnäßigkeit wird im Ausland auch bemerkt und man merkt ja auch am Verhalten der Mitmenschen vor Ort, ob gewisse Verhaltensweisen angebracht waren oder nicht. Die Leute vor Ort haben ja auch ihren Stolz. Es ist allgemein sehr interessant, wie schnell man sich an die Gegebenheiten vor Ort anpassen konnte. Mich fasziniert es bis heute, wie schnell sich der Mensch an seine Umgebung anpassen kann. Wer als kulturweitler alleine bei einer Einsatzstelle unterkommt, der muss sich „gezwungenermaßen“ an die Gegebenheiten anpassen, ob sie oder er will oder nicht. Es gibt allerdings auch Einsatzstellen, bei der mehrere kulturweitler arbeiten. Davon kann ich allerdings nur abraten, da man dann automatisch in einer Art „deutschen Komfortzone“ lebt. Dafür gibt es dann die Zwischenseminare, in denen sich die kulturweit-Freiwilligen aus einer Region treffen, austauschen und ggf. stützen können. Diese Treffen tun gut, aber es ist genauso wichtig, danach wieder mental zur Einsatzstelle zurückzukehren.
    In Ihrem Artikel beleuchten Sie auch die relativ homogene Zusammensetzung der Freiwilligen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass wir eine relativ bunte Truppe waren; allerdings hatten die meisten ein Abitur und ja, auch ich würde sagen, dass die meisten Freiwilligen aus besser situierten Haushalten kamen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, die Neiddebatte nicht zum Leidwesen von kulturweit zu führen. Kulturweit spiegelt dort auch nur eine gesellschaftliche Schieflage wieder, die das Programm alleine nicht ändern kann. Das Programm zieht eben Leute an, die sich auch für das Programm interessieren. Außerdem begünstigt meines Erachtens die geringe monatliche Vergütung das Missverhältnis. Wer beispielsweise eine Einsatzstelle in Südosteuropa hat, kann von der Vergütung keinesfalls weder „königlich“ noch wirklich ausreichend leben. Wer noch ein wenig die Gegend bereisen möchte (wobei das Programm ja explizit nicht als Abenteuertrip entworfen ist), der muss dies aus eigener Tasche bezahlen oder die Eltern leisten einen finanziellen Beitrag. Die geringe Vergütung hat diesbezüglich durchaus eine gewisse „Selektionswirkung“.
    Im Nachhinein gibt es so viele Aspekte, die ich an dieser Stelle beleuchten könnte, aber das wäre eine wirklich sehr erschöpfende Arbeit. Ich möchte es an dieser Stelle dabei belassen und wünsche mir eine facettenreiche wie sachgemäße Diskussion. Danke für Ihre Aufmerksamkeit.

    Mit freundlichen Grüßen
    Tobias Predel