Polizei weiter nach NSU-Schema
Bewusstlos geschlagen, Kopftuch heruntergerissen, wie Täterin behandelt
Eine muslimische Studentin wird auf offener Straße vermutlich Opfer eines islamfeindlichen Angriffs: als sie zu sich kommt, liegt sie benommen auf dem Boden, ihr Kopftuch heruntergerissen, ihre Kleider mit Alkohol überschüttet. Die Polizei ermittelt in alle Richtungen, nur nicht nach rechts.
Von Ekrem Şenol Donnerstag, 16.04.2015, 8:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.04.2015, 16:31 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Eine Kernempfehlung des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag lautet: Bei Gewaltkriminalität sollen Ermittlungsbehörden genau prüfen, ob die Tat einen rassistischen oder politischen Hintergrund hat. Dies vor allem dann, wenn das Opfer Merkmale aufweist, die in rechten Szenen verhasst sind. Außerdem müssen von Opfern oder Zeugen angegebene Motive von den Ermittlern aufgenommen und berücksichtigt werden.
Dass diese Empfehlung bisher kaum Eingang in die Praxis gefunden hat, zeigt der Fall einer 21-jährigen Maschinenbaustudentin in Kaiserslautern. An einem Montagnachmittag verabschiedet sich Leyla (Name geändert) von ihrer Uni-Freundin und macht sich auf den Heimweg. An den Rest kann sie sich nur noch lückenhaft erinnern.
Als sie zu sich kommt, liegt Leyla auf dem Boden. Unbekannte müssen ihr das Kopftuch gewaltsam heruntergerissen, ihre Kleider mit Alkohol übergossen, ihr Handy kaputt gemacht haben. Sie ist sichtlich benommen. Sie irrt eine Weile durch die Gegend und schafft es nur mit großer Anstrengung nach Hause. Ihre Mutter benachrichtigt umgehend die Polizei und sucht mit der Tochter eine Klinik auf. Die oberärztliche Diagnose der Neurochirurgie lautet: Gedächtnisverlust durch erhebliche Gewalteinwirkung auf den Kopf. Leyla muss mit einem schweren Gegenstand niedergestreckt worden sein. Ein bloßes Umfallen könne eine Amnesie diesen Grades nicht herbeiführen.
Könnte Leyla getrunken haben?
Das sieht die Polizei anders. Die Beamten spekulieren darüber, ob die 21-jährige durch zu viel Alkoholkonsum umgefallen sein könnte. Hinweise auf einen gewaltsamen Übergriff gebe es keine, infolgedessen auch keinen Grund, Beweisstücke sicherzustellen. Die nach Alkohol riechende Jacke und das beschädigte Handy weist die Polizei zurück. Der Vermutung von Leylas Vater, seine Tochter könnte Opfer eines fremden- oder islamfeindlichen Angriffs geworden sein, schenken die Polizisten keine Beachtung.
Für die Präsidentin des Rats muslimischer Studierender und Akademiker (RAMSA), Hatice Durmaz, ist die Haltung der Beamten inakzeptabel. „Wenn einer muslimischen Frau auf offener Straße das Kopftuch gewaltsam heruntergerissen wird, drängt sich das Motiv der Täter geradezu auf“, sagt Durmaz dem MiGAZIN. RAMSA verfolgt den Fall seit Beginn an und betreut die Studentin. Auch Taner Aksoy, Sprecher der Federation against Injustice and Racism e. V. (FAIR), kann die Haltung der Ermittler nicht nachvollziehen. „Diese Vorgehensweise deckt sich mit unseren bisherigen Erfahrungen. Leider hat sich nach Bekanntwerden des NSU bei der Polizei nicht viel geändert“, so Aksoy.
Mehrere Wochen vergehen
Ermittlungen leitet die Polizei erst auf mehrmaliger Intervention der örtlichen Moscheegemeinde ein. Mehrere Wochen nach der Tat wird endlich die Uni-Freundin der Studentin befragt. Sie hatte Leyla zuletzt gesehen. Die Freundin versichert der Polizei, dass die 21-Jährige an dem Tag weder Studentenpartys besucht noch Alkohol konsumiert hat. Leyla ist praktizierende Muslima. Sie trinkt keinen Alkohol.
Bei einer zweiten Vernehmung möchte die Polizei von der Freundin wissen, ob Leyla möglicherweise eine geheime Beziehung pflegt und diese vor der Familie zu verbergen versucht. Auch das kann die Freundin nicht bestätigen. Leyla ist glücklich verlobt. Die zwischenzeitlich zurückgewiesene Jacke sichert die Polizei Anfang März, auf den Tag genau drei Wochen nach dem Vorfall.
Mitte März übernimmt Rechtsanwalt Yalçın Tekinoğlu die Vertretung von Leyla und verlangt Akteneinsicht. Parallel dazu entbindet die Studentin ihre Therapeutin von der Schweigepflicht für eine polizeiliche Vernehmung in der Hoffnung, die Polizei könnte ihr endlich etwas mehr Vertrauen entgegenbringen und in andere Richtungen ermitteln.
Vortäuschung einer Straftat?
Doch eine weitere Überraschung folgt für die inzwischen vollkommen verzweifelte Leyla und ihre Eltern nach der Akteneinsicht. Danach soll die 21-Jährige bei ihrer anstehenden Vernehmung „vorsorglich“ in Hinblick auf das Vortäuschen einer Straftat belehrt werden. Ein Schock für Leyla. Offensichtlich halten die Ermittler es für möglich, dass sie lügt, der Polizei etwas vorspielt. Dass Leyla von diesem Vorfall traumatisiert ist, sich inzwischen nicht einmal mehr alleine aus dem Haus traut, hat die Polizei offenbar nicht beeindruckt.
Für Rechtsanwalt Tekinoğlu ist dieses Vorgehen der Ermittler nicht nachvollziehbar. „Es ist nicht zu fassen, dass die Behörden trotz zahlreicher Indizien einen islamfeindlichen Hintergrund nicht einmal in Betracht ziehen, dafür aber an den Aussagen von Leyla zweifeln“, so der Jurist. Die Ermittler gingen weiterhin nach einem bestimmten Muster vor: aus Opfer würden Täter gemacht und Hinweise der Opfer außen vor gelassen – genau das Gegenteil von dem, was der NSU-Ausschuss fordert. Hinzu kämen „gravierende“ Ermittlungsfehler. Die Polizei habe weder eine zeitnahe und umfassende Befragung in der Nähe des Tatorts durchgeführt, noch einen öffentlichen Zeugenaufruf gemacht.
Für die 21-Jährige und ihre Eltern geht der Spuk weiter. Wie sich aus den Akten ergibt, ziehen die Behörden sogar einen Sturz aufgrund eines epileptischen Anfalls in Betracht. Wie die Ermittler darauf kommen, ist unklar. Die Staatsanwaltschaft war für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Für Leylas Mutter, die selbst Ärztin ist, ist das an den Haaren herbeigezogen. Ihre Tochter leide an keiner Epilepsie. Leitartikel Politik
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Dieser Fall eignet sich nicht für eine Ferndiagnose. Die ermittelnden Behörden haben sicher gute Gründe, die Vortäuschung einer Straftat nicht auszuschliessen. Bei so einem Fall zählt Atmosphärisches, konsistente Aussagen und Verhalten. In der Vergangenheit gab es eine Vielzahl von Fällen, wo aus unterschiedlichen Gründen eine solche Straftat vorgetäuscht wurde. Stutzig macht immer, wenn es keine Zeugen gibt.
Der Empörungsreflex hier ist zu billig, aber man möchte ja immer immer immer nur Opfer sein.
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